Ein "wandelndes Lexikon"
Er war politischer Publizist und Literaturkritiker. 2006 verstarb Walter Boehlich und hinterließ eine umfangreiche Bibliothek. Sie ist nun im Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam zugänglich und gab den Anlass, mit einer Konferenz an den Denker zu erinnern.
Unter seinen zahlreichen Schriftstellerfreunden galt Walter Boehlich als "wandelndes Lexikon", ein belesener Kenner, der - inmitten seiner fast 15.000 Bände umfassenden Bibliothek - auf jede Frage am Telefon die Antwort wusste. Als einen in sein Bücherreich zurückgezogenen Bildungsbürger darf man sich den 2006 verstorbenen Intellektuellen allerdings nicht vorstellen – das machte die Boehlich-Konferenz in Potsdam deutlich. Da ging es zuerst einmal um den Germanisten, um den jungen Mann aus jüdischer Familie, der 1941 vom Studium ausgeschlossen wird, es nach dem Ende des Dritten Reichs aufgrund famoser Sprachkenntnisse zum Assistenten des renommierten Bonner Romanisten Ernst Robert Curtius bringt. Boehlich analysiert in Fachpublikationen den Stand der Germanistik, rezensiert die noch dem Denken der Nazi-Zeit verhafteten akademischen Standardwerke:
Helmut Peitsch: "Diese Übereinstimmung mit dem Fach, auch mit den problematischen Traditionen, die in den Faschismus geführt hatten, steht – obwohl er ein rassistisch Verfolgter war – am Anfang von Boehlichs Lebens. Und wie er in wechselnden Institutionen des kulturellen und literarischen Lebens sich verändernde Positionen bezieht, das ist das, was ihn wirklich spannend macht."
Helmut Peitsch, Professor für Neuere deutsche Literatur, zeigt auf markante Fächer in den Regalen der Potsdamer Stadt- und Landesbibliothek. Dort haben Boehlichs Bücher jetzt ihren Platz gefunden, etwa die "sammlung insel", darunter zentrale Texte der Revolution von 1848, die er als Chef-Lektor im Suhrkamp Verlag dem Vergessen entrissen hat. Nach einem brillant formulierten, philologisch akribisch unterfütterten Verriss einer Proust-Übersetzung hatte Peter Suhrkamp dem Akademiker 1957 diese Schlüsselposition angeboten. Boehlich sagte zu – dachte dabei aber keineswegs an seine persönliche Karriere.
Helmut Peitsch: "In einem der Briefe an seinen Freund Peter Wapnewski wägt er ja scheinbar die Alternative ab, ob er durch die Tätigkeit im Verlag in seinen Positionen verändert worden ist oder ob der Freund, der an der Universität gerade Ordinarius geworden ist – in einer reaktionären Institution tätig – daran gehindert werde, die Wirklichkeit wahrzunehmen."
Die Wirklichkeit, eine schrankenlose Marktwirtschaft, hat der Lektor Boehlich wohl wahrgenommen, sich ihren Zumutungen aber nie unterworfen: Unter seiner Ägide erscheint bis zur Nummer 233 die "edition suhrkamp" mit einigen regelrecht antikapitalistischen Titeln. Ein ganzes Regal füllen die schmalen Rücken in den berühmten Regenbogenfarben – doch dieses als "Ostereierfarben" bespöttelte Marketing war keineswegs nach dem Geschmack ihres Herausgebers.
Helmut Peitsch: "Insofern Boehlich nicht zu den Freunden des Taschenbuchs gehörte – auch Enzensberger nicht: Der Karton ist ja grau – und bunt ist nur die abnehmbare Hülle. Also – man kann ein seriöses Buch aus dem bunten Taschenbuch herstellen, indem man den Umschlag wegschmeißt."
Aber weggeschmissen wird natürlich nichts in der Bibliothek. Eingelegte Zettel sind registriert, besonders aufschlussreiche Widmungen und noch unveröffentlichte Briefe in Vitrinen ausgestellt. 1949 bereits schreibt der große Gottfried Benn an den damals noch unbekannten Literaturkritiker. Fast ein halbes Jahrhundert später widmet Martin Walser dem früheren Lektor einen seiner Bestseller "als Nadelkissen in das Boehlich seinen spitzen Überfluß abladen kann". Das Verhältnis zwischen den beiden durchaus gegensätzlichen Intellektuellen war also keineswegs so "herzlich", wie kürzlich noch in einer Walser-Biografie beschrieben.
Immer wieder blitzten auf der wissenschaftlichen Konferenz diese durchaus neuen Facetten im Geschichtsbild der bundesrepublikanischen Kultur auf. Dazu zählt auch der "Lektorenaufstand" von 1968, als Boehlich und die meisten seiner Kollegen sich für mehr Mitbestimmung einsetzten und prompt gefeuert wurden. Außerhalb des Verlags in der Öffentlichkeit war Walter Boehlich danach um so präsenter. Mit Features und kritischen Kurzkommentaren für den Rundfunk, mit Kolumnen für "konkret" und "Titanic" betrat ein Intellektueller den politischen Schauplatz mit jener Energie, wie sie "auf der Studierstube nicht erworben wird". So lautet ein Motto aus der 48er-Revolution, das Boehlich einem von ihm herausgegebenen Insel-Buch vorangestellt hatte. Diese Dynamik, die stetige Erweiterung seiner Sicht und seines Themenspektrums prägte die Arbeit des politischen Publizisten, der seine Ursprünge als Germanist nie leugnete.
Helmut Peitsch: "Auch noch für 'Titanic' gilt: Ungefähr fünf Prozent seiner Kolumnen betreffen das literarische Leben und sind Stellungnahmen: Also, Verlagswechsel, aber auch Zensureingriffe in öffentlich-rechtlichen Medien, alles das ist für ihn Thema."
Auch wenn diese Beiträge polemisch zugespitzt enden, sind sie doch stets mehr als vorgefertigte Weltanschauung oder bloße Meinung. Sie beruhen auf faktenreicher Analyse und auf Boehlichs beharrlicher, skrupulöser Arbeit am Text. Aber das scheint nicht mehr gefragt: In der "Zeit" – Jahrzehnte Boehlichs Hausblatt – suchte man einen Nachruf vergebens, "Titanic" sparte seine Kolumnen in einer Rückschau aus. Begründung: dem Leser von heute müsse man zu viel von dem erklären, was damals noch jeder wusste.
Helmut Peitsch: "Ich bezweifle das, weil Boehlichs Kommentare zwar zu Aktuellem Stellung nahmen, aber immer ins Allgemeine zielten. Also Fragen der Demokratie im Wesentlichen und Kritik des Nationalismus, das waren seine Kernthemen. Die beiden Themen sind weiter aktuell."
Service:
Walter Boehlich, geboren 1921, studierte in Breslau und Hamburg Germanistik, war 1947-1951 Assistent des Romanisten Ernst Robert Curtius in Bonn und bis 1957 DAAD-Lektor in Aarhus und Madrid, als er Lektor im Suhrkamp Verlag wurde. 1968 trennte sich der Verlag von seinem Cheflektor, der danach als freier Autor tätig wurde. Als er 2006 starb, wurde Boehlich in Nachrufen als "eine der großen intellektuellen Gestalten der alten Bundesrepublik" gewürdigt, als Literat und Publizist, Kritiker und Polemiker, Aufklärer oder "Schulmeister im besten Sinne". Diese Bezeichnungen verweisen auf die wechselnden Positionen, von denen aus Boehlich wirkte: Literaturwissenschaft und Literaturkritik, Verlagslektorat und Autorschaft, auch in Rundfunk und Fernsehen. Nach seinem Tod fanden die Erben 2007 im Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ) in Potsdam eine Institution, die Boehlichs mehr als 14.500 Bände umfassende Bibliothek in Kooperation mit der Stadt- und Landesbibliothek geschlossen aufstellen ließ, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Auf die Funde in dieser Nachlassbibliothek bezog sich an diesem Wochenende eine Walter-Boehlich-Konferenz, organisiert vom Institut für Germanistik der Universität Potsdam in Zusammenarbeit mit dem Moses Mendelssohn Zentrum.
Helmut Peitsch: "Diese Übereinstimmung mit dem Fach, auch mit den problematischen Traditionen, die in den Faschismus geführt hatten, steht – obwohl er ein rassistisch Verfolgter war – am Anfang von Boehlichs Lebens. Und wie er in wechselnden Institutionen des kulturellen und literarischen Lebens sich verändernde Positionen bezieht, das ist das, was ihn wirklich spannend macht."
Helmut Peitsch, Professor für Neuere deutsche Literatur, zeigt auf markante Fächer in den Regalen der Potsdamer Stadt- und Landesbibliothek. Dort haben Boehlichs Bücher jetzt ihren Platz gefunden, etwa die "sammlung insel", darunter zentrale Texte der Revolution von 1848, die er als Chef-Lektor im Suhrkamp Verlag dem Vergessen entrissen hat. Nach einem brillant formulierten, philologisch akribisch unterfütterten Verriss einer Proust-Übersetzung hatte Peter Suhrkamp dem Akademiker 1957 diese Schlüsselposition angeboten. Boehlich sagte zu – dachte dabei aber keineswegs an seine persönliche Karriere.
Helmut Peitsch: "In einem der Briefe an seinen Freund Peter Wapnewski wägt er ja scheinbar die Alternative ab, ob er durch die Tätigkeit im Verlag in seinen Positionen verändert worden ist oder ob der Freund, der an der Universität gerade Ordinarius geworden ist – in einer reaktionären Institution tätig – daran gehindert werde, die Wirklichkeit wahrzunehmen."
Die Wirklichkeit, eine schrankenlose Marktwirtschaft, hat der Lektor Boehlich wohl wahrgenommen, sich ihren Zumutungen aber nie unterworfen: Unter seiner Ägide erscheint bis zur Nummer 233 die "edition suhrkamp" mit einigen regelrecht antikapitalistischen Titeln. Ein ganzes Regal füllen die schmalen Rücken in den berühmten Regenbogenfarben – doch dieses als "Ostereierfarben" bespöttelte Marketing war keineswegs nach dem Geschmack ihres Herausgebers.
Helmut Peitsch: "Insofern Boehlich nicht zu den Freunden des Taschenbuchs gehörte – auch Enzensberger nicht: Der Karton ist ja grau – und bunt ist nur die abnehmbare Hülle. Also – man kann ein seriöses Buch aus dem bunten Taschenbuch herstellen, indem man den Umschlag wegschmeißt."
Aber weggeschmissen wird natürlich nichts in der Bibliothek. Eingelegte Zettel sind registriert, besonders aufschlussreiche Widmungen und noch unveröffentlichte Briefe in Vitrinen ausgestellt. 1949 bereits schreibt der große Gottfried Benn an den damals noch unbekannten Literaturkritiker. Fast ein halbes Jahrhundert später widmet Martin Walser dem früheren Lektor einen seiner Bestseller "als Nadelkissen in das Boehlich seinen spitzen Überfluß abladen kann". Das Verhältnis zwischen den beiden durchaus gegensätzlichen Intellektuellen war also keineswegs so "herzlich", wie kürzlich noch in einer Walser-Biografie beschrieben.
Immer wieder blitzten auf der wissenschaftlichen Konferenz diese durchaus neuen Facetten im Geschichtsbild der bundesrepublikanischen Kultur auf. Dazu zählt auch der "Lektorenaufstand" von 1968, als Boehlich und die meisten seiner Kollegen sich für mehr Mitbestimmung einsetzten und prompt gefeuert wurden. Außerhalb des Verlags in der Öffentlichkeit war Walter Boehlich danach um so präsenter. Mit Features und kritischen Kurzkommentaren für den Rundfunk, mit Kolumnen für "konkret" und "Titanic" betrat ein Intellektueller den politischen Schauplatz mit jener Energie, wie sie "auf der Studierstube nicht erworben wird". So lautet ein Motto aus der 48er-Revolution, das Boehlich einem von ihm herausgegebenen Insel-Buch vorangestellt hatte. Diese Dynamik, die stetige Erweiterung seiner Sicht und seines Themenspektrums prägte die Arbeit des politischen Publizisten, der seine Ursprünge als Germanist nie leugnete.
Helmut Peitsch: "Auch noch für 'Titanic' gilt: Ungefähr fünf Prozent seiner Kolumnen betreffen das literarische Leben und sind Stellungnahmen: Also, Verlagswechsel, aber auch Zensureingriffe in öffentlich-rechtlichen Medien, alles das ist für ihn Thema."
Auch wenn diese Beiträge polemisch zugespitzt enden, sind sie doch stets mehr als vorgefertigte Weltanschauung oder bloße Meinung. Sie beruhen auf faktenreicher Analyse und auf Boehlichs beharrlicher, skrupulöser Arbeit am Text. Aber das scheint nicht mehr gefragt: In der "Zeit" – Jahrzehnte Boehlichs Hausblatt – suchte man einen Nachruf vergebens, "Titanic" sparte seine Kolumnen in einer Rückschau aus. Begründung: dem Leser von heute müsse man zu viel von dem erklären, was damals noch jeder wusste.
Helmut Peitsch: "Ich bezweifle das, weil Boehlichs Kommentare zwar zu Aktuellem Stellung nahmen, aber immer ins Allgemeine zielten. Also Fragen der Demokratie im Wesentlichen und Kritik des Nationalismus, das waren seine Kernthemen. Die beiden Themen sind weiter aktuell."
Service:
Walter Boehlich, geboren 1921, studierte in Breslau und Hamburg Germanistik, war 1947-1951 Assistent des Romanisten Ernst Robert Curtius in Bonn und bis 1957 DAAD-Lektor in Aarhus und Madrid, als er Lektor im Suhrkamp Verlag wurde. 1968 trennte sich der Verlag von seinem Cheflektor, der danach als freier Autor tätig wurde. Als er 2006 starb, wurde Boehlich in Nachrufen als "eine der großen intellektuellen Gestalten der alten Bundesrepublik" gewürdigt, als Literat und Publizist, Kritiker und Polemiker, Aufklärer oder "Schulmeister im besten Sinne". Diese Bezeichnungen verweisen auf die wechselnden Positionen, von denen aus Boehlich wirkte: Literaturwissenschaft und Literaturkritik, Verlagslektorat und Autorschaft, auch in Rundfunk und Fernsehen. Nach seinem Tod fanden die Erben 2007 im Moses Mendelssohn Zentrum (MMZ) in Potsdam eine Institution, die Boehlichs mehr als 14.500 Bände umfassende Bibliothek in Kooperation mit der Stadt- und Landesbibliothek geschlossen aufstellen ließ, um sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Auf die Funde in dieser Nachlassbibliothek bezog sich an diesem Wochenende eine Walter-Boehlich-Konferenz, organisiert vom Institut für Germanistik der Universität Potsdam in Zusammenarbeit mit dem Moses Mendelssohn Zentrum.