Ein Zirkus-Leben

Ein Zirkus gastiert in der Stadt, in der Jacob Jankowski im Altersheim lebt. Er löst lebhafte Erinnerungen an die bewegteste Epoche seines Lebens aus. Damals gab es einen Mord, Liebe und Intrigen. Die junge US-amerikanische Autorin Sara Gruen erläutert im Nachwort ihre Faszination durch die amerikanischen Wanderzirkusse.
Am Anfang steht ein Mord. Die Tiere im Zirkus sind während einer Aufführung durchgegangen. Im Chaos der Stampede sieht nur Jacob, der Ich-Erzähler, wie eine namenlose, aber von ihm geliebte "Sie" ganz gelassen und lächelnd den vor ihr stehenden "Dreckskerl" in Frack und Zylinder mit einer Eisenstange erschlägt. "Ich war so benommen, dass ich mich nicht rühren konnte. (...) Siebzig Jahre lang habe ich keiner Menschenseele davon erzählt."

Nun bricht Jacob Jankowski, mittlerweile 90 oder auch 93 Jahre alt ("So oder so. (...) was macht es denn schon?") sein Schweigen. Ein Zirkus gastiert in der Stadt, in der Jacob im Altersheim lebt, und löst lebhafte Erinnerungen an die bewegteste Epoche seines Lebens aus: Wie er unmittelbar vor seinem Examen als Tierarzt durch den plötzlichen Tod seiner Eltern aus der Bahn geworfen wurde und beim berühmten Wanderzirkus Benzini’s landete. Wie ihm geholfen wurde, und wie er ausgenutzt wurde. Wie er in eine gefährliche Dreiecksgeschichte hinein- und wie er wieder hinausgeraten ist. Was für ein Hexenkessel von Elend, Ausbeutung, Hass, Lügen, Karrierismus, Eifersucht und Brutalität dieser Wanderzirkus war. (So ist es ein offenes Geheimnis, dass die Zirkusleitung bei Nacht und Nebel diejenigen aus dem fahrenden Zug werfen lässt, die nur noch eingeschränkt arbeitsfähig sind oder lästig werden, etwa weil sie nicht mehr bezahlt werden können.)

Wir lesen, wie Jacob als "Tierarzt" überlebt hat. Er allein kann mit der angeblich dummen und unfähigen Elefantendame Rosie kommunizieren, weil er erkennt, welche Sprache sie versteht, und er ist schließlich imstande, sie zu den Kunststücken zu bewegen, die Marlene, die Kunstreiterin, mit ihr durchführt. August, Marlenes Ehemann, Jacobs Chef und der Dressierer der Tiere, unberechenbar und hinterhältig, behandelt Rosie brutal und löst ihren Hass aus. Auch Jacob empfindet lebhafte Antipathie gegenüber August , um so mehr, als er sich in Marlene verliebt ...

Am Ende steht die Stampede, mit der der Roman begonnen hat, und steht die überraschende Auflösung des anfangs eindeutig scheinenden Mordes an August.

Die junge US-amerikanische Autorin Sara Gruen, die vor diesem Roman mehrere Jugendromane geschrieben hat, erläutert in ihrem Nachwort ihre Faszination durch die amerikanischen Wander- bzw. Eisenbahnzirkusse, und sie legt ihre Quellen offen. Diese Faszination merkt man dem Roman im positiven Sinne an — und darüber hinaus einen scharfen Blick für das soziale Elend, das sich hinter dem vermeintlichen Glamour verbirgt.

Der Roman gewinnt beim Lesen Rhythmus und Perspektive; er vermag eine vergangene Zeit wiedererstehen zu lassen und den Ereignissen neben aller Exotik auch eine Verbindlichkeit zu verleihen. Die Figuren — einschließlich Rosies, der heimlichen Protagonistin — sind schillernd und unverwechselbar und ihre Beziehungen untereinander komplex. Ein ungewöhnlicher, ein lesenswerter Roman.

Rezensiert von Gertrud Lehnert

Sara Gruen: Wasser für die Elefanten.
Aus dem Englischen von Eva Kemper,
Köln: DuMont Buchverlag 2007, 399 S., € 19,90