Einblicke in eine archaische Männerwelt
Schon mit ihrem Buch "Die fremde Braut" über arrangierte türkische Ehen hat die Soziologin Necla Kelek die Gemüter bewegt. Jetzt hat sie über das Leben türkisch-muslimischer Männer geschrieben, über "Die verlorenen Söhne", die in Deutschland leben, aber innerlich nicht angekommen sind in der westlichen Welt, die chancenlos bleiben in der deutschen Mehrheitsgesellschaft durch ihr archaisches Weltbild, durch den Mangel an schulischer und emotionaler Bildung.
Die türkischen Söhne und Väter, über die Necla Kelek schreibt, leben in der muslimischen Parallelgesellschaft, in einer streng hierarchisch organisierten Männerwelt. Respekt und Ehre sind ihre zentralen Begriffe.
"Muslimischen Jungen muss die Welt fremd bleiben, weil niemand sie ihnen erklärt. Fragen sind in dieser Welt von Gehorsam und Unterwerfung nicht zugelassen. Ihre Regeln, ihre Gesetze sind fraglos gegeben. Sie müssen nicht erklärt, sondern nur befolgt werden."
Wer die Ehre der Männer mit Gewalt verteidigt, für den ist das Gefängnis keine Drohung. Solange der Vater stolz auf den Sohn sein kann, solange ist für ihn alles in Ordnung, auch im Knast. Necla Kelek weiß das aus Gesprächen mit türkischen Haftinsassen, die sie in ihrem Buch vorstellt. Aber es geht ihr nicht nur um Straftäter, es geht um die große Zahl jener, die ihre Identität nicht in einer modernen Demokratie finden, sondern durch religiös fundierte Regeln einer mittelalterlich anmutenden islamischen Gesellschaft. Was das heißt, weiß Necla Kelek, die 1968 als Elfjährige aus der Türkei nach Deutschland kam, auch aus ihrer eigenen Familie.
Respekt bedeutet kritiklose Anerkennung der Hierarchie: erst der Vater, dann der älteste Sohn, dann die jüngeren Söhne. Auch die Onkel, die Cousins, alle Männer der Familie haben ihren genau definierten Platz. Und sie alle stehen über den Frauen. Diese Ordnung wird den Kindern eingebläut. Schläge, Körperverletzungen gelten dabei oft als probates Mittel.
"Als Muslim ist der Vater niemandem für sein Verhalten verantwortlich, weder seiner Frau, noch seinen Kindern, noch den ungläubigen Deutschen – nur Allah am Jüngsten Tag. (...) Er holt seine Legitimation direkt von Gott, und damit ist er unantastbar."
Respekt ist die Chiffre für Ansehen durch Geschlecht, Rangordnung und Religion. Respekt ist nicht die Antwort auf Liebe und verantwortungsvolle Erziehung, sondern gründet sich auf Angst, auf die Angst vor Strafen der übergeordneten Männer und die Angst vor Ausgrenzung aus der Familie.
"Schläge sind Macht, eine Pistole, ein Messer ist Macht. 'Respekt' ist die Angst der anderen, 'Schande' ist die eigene Schwäche, wenn man dem anderen nicht die Stirn bieten kann. Sie werden geschlagen, dafür dürfen sie schlagen – wenn auch nicht den Vater. Diese Männlichkeitsrolle führt nicht nur zu dem oft beobachtbaren grotesken Verhalten muslimischer Jungen, die nur noch als ihre eigene Karikatur daherkommen. (...) In vielen Fällen führt sie ins Gefängnis."
Die Angst ist die traurige Kehrseite der Macht. Necla Kelek zeigt sie uns bestürzend eindrücklich. Sie erzählt von einem Bräutigam, der weinend auf der Toilette hockt, weil er es nicht schafft, mit der fremden Frau, die er heiraten musste, zu schlafen und sich nun vor der Schande fürchtet, wenn nicht bis zum Morgen ein blutbeflecktes Laken vorgezeigt werden kann als Beweis seiner Männlichkeit.
"Früh aus dem Haus auf die Straße verbannt und von den Frauen getrennt, wissen die jungen Muslime nicht, was und wie Frauen fühlen, und sie lernen, dass es einen Mann auch nicht kümmern muss."
Kelek beschreibt die Beschneidung ihrer Neffen. Sie sind neun und vier Jahre alt. Ihre Angst wird übergangen und negiert. Die Jungen werden von etlichen erwachsenen Männern festgehalten. Sie werden überwältigt und sollen dazu schweigen, tapfer sein. Ohne Betäubung wird ihnen die Vorhaut abgeschnitten. Die traumatisierende Lektion des Jungen lautet:
"dass er sich zu fügen hat, wenn die Erwachsenen ihm Schmerz zufügen, dass Gott ihm Prüfungen auferlegt, die es zu bestehen gilt – oder er ist ein Nichts, weder Muslim noch Mann noch Teil der Gemeinschaft."
Man muss nicht einmal psychologisch argumentieren, um zu verstehen, wie Recht Kelek mit ihrer Forderung hat, Beschneidungen ohne medizinische Indikation auch bei Jungen zu verbieten. In Schweden ist das schon so.
Kelek bietet eine ungeschminkte Analyse der rückständigen türkischen Männerwelt und verbindet diese mit Forderungen. Dafür wird sie angegriffen, auch von Deutschen, die an der Hoffnung festhalten, allein Toleranz würde irgendwann zu ausreichender Annäherung führen. Kelek wollte sich ausdrücklich nicht mit jenen Migranten befassen, die, so wie sie selbst, längst angekommen sind im aufgeklärten Europa. Ihr das als Einseitigkeit vorzuwerfen, lenkt davon ab, dass sie uns zwingt, dort hinzusehen, wo es wehtut. Kelek zeigt unter der harten Schale der gewaltgrundierten Männergesellschaft verstörte Jungen, die Liebe entbehren, Verständnis, Menschlichkeit, und denen die Welt vielschichtiger Gefühle und differenzierter Gedanken verschlossen bleibt, weil sie sie in ihrer Kindheit nicht kennen lernen durften.
Auch Necla Keleks neues Buch wird uns voranbringen. Die türkische Parallelgesellschaft, die sich ihren Befunden wird stellen müssen. Und die Mehrheitsgesellschaft, deren Verantwortung für alle hier lebende Kinder sie anmahnt und der sie vernünftige und notwendige Vorschläge zum Handeln macht.
Necla Kelek: Die verlorenen Söhne
Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes
Kiepenheuer & Witsch
212 Seiten, 18,90 Euro
"Muslimischen Jungen muss die Welt fremd bleiben, weil niemand sie ihnen erklärt. Fragen sind in dieser Welt von Gehorsam und Unterwerfung nicht zugelassen. Ihre Regeln, ihre Gesetze sind fraglos gegeben. Sie müssen nicht erklärt, sondern nur befolgt werden."
Wer die Ehre der Männer mit Gewalt verteidigt, für den ist das Gefängnis keine Drohung. Solange der Vater stolz auf den Sohn sein kann, solange ist für ihn alles in Ordnung, auch im Knast. Necla Kelek weiß das aus Gesprächen mit türkischen Haftinsassen, die sie in ihrem Buch vorstellt. Aber es geht ihr nicht nur um Straftäter, es geht um die große Zahl jener, die ihre Identität nicht in einer modernen Demokratie finden, sondern durch religiös fundierte Regeln einer mittelalterlich anmutenden islamischen Gesellschaft. Was das heißt, weiß Necla Kelek, die 1968 als Elfjährige aus der Türkei nach Deutschland kam, auch aus ihrer eigenen Familie.
Respekt bedeutet kritiklose Anerkennung der Hierarchie: erst der Vater, dann der älteste Sohn, dann die jüngeren Söhne. Auch die Onkel, die Cousins, alle Männer der Familie haben ihren genau definierten Platz. Und sie alle stehen über den Frauen. Diese Ordnung wird den Kindern eingebläut. Schläge, Körperverletzungen gelten dabei oft als probates Mittel.
"Als Muslim ist der Vater niemandem für sein Verhalten verantwortlich, weder seiner Frau, noch seinen Kindern, noch den ungläubigen Deutschen – nur Allah am Jüngsten Tag. (...) Er holt seine Legitimation direkt von Gott, und damit ist er unantastbar."
Respekt ist die Chiffre für Ansehen durch Geschlecht, Rangordnung und Religion. Respekt ist nicht die Antwort auf Liebe und verantwortungsvolle Erziehung, sondern gründet sich auf Angst, auf die Angst vor Strafen der übergeordneten Männer und die Angst vor Ausgrenzung aus der Familie.
"Schläge sind Macht, eine Pistole, ein Messer ist Macht. 'Respekt' ist die Angst der anderen, 'Schande' ist die eigene Schwäche, wenn man dem anderen nicht die Stirn bieten kann. Sie werden geschlagen, dafür dürfen sie schlagen – wenn auch nicht den Vater. Diese Männlichkeitsrolle führt nicht nur zu dem oft beobachtbaren grotesken Verhalten muslimischer Jungen, die nur noch als ihre eigene Karikatur daherkommen. (...) In vielen Fällen führt sie ins Gefängnis."
Die Angst ist die traurige Kehrseite der Macht. Necla Kelek zeigt sie uns bestürzend eindrücklich. Sie erzählt von einem Bräutigam, der weinend auf der Toilette hockt, weil er es nicht schafft, mit der fremden Frau, die er heiraten musste, zu schlafen und sich nun vor der Schande fürchtet, wenn nicht bis zum Morgen ein blutbeflecktes Laken vorgezeigt werden kann als Beweis seiner Männlichkeit.
"Früh aus dem Haus auf die Straße verbannt und von den Frauen getrennt, wissen die jungen Muslime nicht, was und wie Frauen fühlen, und sie lernen, dass es einen Mann auch nicht kümmern muss."
Kelek beschreibt die Beschneidung ihrer Neffen. Sie sind neun und vier Jahre alt. Ihre Angst wird übergangen und negiert. Die Jungen werden von etlichen erwachsenen Männern festgehalten. Sie werden überwältigt und sollen dazu schweigen, tapfer sein. Ohne Betäubung wird ihnen die Vorhaut abgeschnitten. Die traumatisierende Lektion des Jungen lautet:
"dass er sich zu fügen hat, wenn die Erwachsenen ihm Schmerz zufügen, dass Gott ihm Prüfungen auferlegt, die es zu bestehen gilt – oder er ist ein Nichts, weder Muslim noch Mann noch Teil der Gemeinschaft."
Man muss nicht einmal psychologisch argumentieren, um zu verstehen, wie Recht Kelek mit ihrer Forderung hat, Beschneidungen ohne medizinische Indikation auch bei Jungen zu verbieten. In Schweden ist das schon so.
Kelek bietet eine ungeschminkte Analyse der rückständigen türkischen Männerwelt und verbindet diese mit Forderungen. Dafür wird sie angegriffen, auch von Deutschen, die an der Hoffnung festhalten, allein Toleranz würde irgendwann zu ausreichender Annäherung führen. Kelek wollte sich ausdrücklich nicht mit jenen Migranten befassen, die, so wie sie selbst, längst angekommen sind im aufgeklärten Europa. Ihr das als Einseitigkeit vorzuwerfen, lenkt davon ab, dass sie uns zwingt, dort hinzusehen, wo es wehtut. Kelek zeigt unter der harten Schale der gewaltgrundierten Männergesellschaft verstörte Jungen, die Liebe entbehren, Verständnis, Menschlichkeit, und denen die Welt vielschichtiger Gefühle und differenzierter Gedanken verschlossen bleibt, weil sie sie in ihrer Kindheit nicht kennen lernen durften.
Auch Necla Keleks neues Buch wird uns voranbringen. Die türkische Parallelgesellschaft, die sich ihren Befunden wird stellen müssen. Und die Mehrheitsgesellschaft, deren Verantwortung für alle hier lebende Kinder sie anmahnt und der sie vernünftige und notwendige Vorschläge zum Handeln macht.
Necla Kelek: Die verlorenen Söhne
Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes
Kiepenheuer & Witsch
212 Seiten, 18,90 Euro