"Eine Angst zu fallen"
Es seien auch seine Studenten, die derzeit in Israel für einen Sozialstaat auf die Straße gingen, sagt Natan Sznaider, Soziologieprofessor in Tel Aviv. In Anbetracht hoher Lebenshaltungskosten hätten junge gut ausgebildete Menschen das Gefühl, dass ihnen "die Felle davonschwimmen".
Dieter Kassel: Es ist am Wochenende genau so gekommen, wie es die Organisatoren der Proteste in Israel auch gewünscht hatten: Keine Konzentration mehr auf Tel Aviv, wo man ja wegen der Zeltstadt auf dem Rothschild-Boulevard ohnehin nicht daran vorbeikommen kann zu bemerken, dass es dort eine gewisse Unzufriedenheit gibt, sondern dafür Protestmärsche in der Peripherie in den kleineren Städten des Landes. Auch
Radiofeuilleton, Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio)
unser Korrespondent Torsten Teichmann hat deshalb die Metropole verlassen und war für uns unter anderem in Beerscheba.
Bei mir im Studio begrüße ich jetzt Natan Sznaider. Er ist Professor für Soziologie am Academic College in Tel Aviv. Ein Satz ist mir sofort in Erinnerung geblieben aus diesem Beitrag, nämlich, dass das eine immer größere Bandbreite an Protest dann ist und dass auch die Ziele immer unterschiedlicher sind. Wird das langsam zum Problem für die Protestbewegung oder ist es erst mal eher ein Vorteil?
Natan Sznaider: Nein, im Moment ist es auf jeden Fall ein Vorteil. Das ist eine der erstaunlichsten Protestbewegungen, die es in Israel wahrscheinlich je gegeben hat, das muss man auf jeden Fall sagen, und dass die Forderungen im Moment etwas abstrakt bleiben, diffus sind, nicht auf, sagen wir mal, zehn Punkte zusammengefasst werden können, ist für die Bewegung ein Vorteil, weil die Bewegung auch im Moment gar nicht richtig weiß, was sie will. Der Slogan "Das Volk will soziale Gerechtigkeit", das ist ja das, was man immer hört – ist ja eigentlich mehr oder weniger ein Code für Unzufriedenheit. Also, soziale Gerechtigkeit, das ist ja nicht irgendwie theoretisch im Rahmen irgendwelcher sozialdemokratischen Programme zu verstehen, auch wenn man den Sozialstaat wieder einfordert, den Wohlfahrtsstaat wieder einfordert, darum geht es ja den Demonstranten, kann man sagen, eigentlich nicht. Es geht ihnen um Sicherheit, eine richtig große, existenzielle Sicherheit, die sie einfordern, das Gefühl, dass man Kontrolle über das eigene Leben verloren hat ... Eigentlich kein israelisches Phänomen, also sicher ist diese Bewegung auch nicht mit den arabischen Protestbewegungen zu vergleichen. Wenn man sie schon vergleichen will, dann ist sie wahrscheinlich eher mit der Protestbewegung in Spanien oder in Madrid zu vergleichen. Es geht ja auch nicht darum, das Regime zu stürzen, es geht nicht darum, die israelische Besatzung irgendwie zu stoppen. Es geht darum, dass man im gewissen Sinne als mittelständiger junger Mensch das Gefühl hat, dass einem die Felle davonschwimmen, dass man keine Kontrolle mehr über sein eigenes Leben hat.
Kassel: Aber kann denn dann Netanjahu, kann seine Regierung, kann diese 15-köpfige Kommission da überhaupt etwas tun? Er selber – wir haben es gerade gehört – hat ja gesagt, er will kein Wischiwaschi, er will konkrete Änderungen vorschlagen, aber egal, was er tut: Kann er diesen Wunsch, den Sie gerade formuliert haben, denn überhaupt erfüllen?
Sznaider: Netanjahu steht im Moment so unter Druck, wie er noch nie in seinen beiden Regierungszeiten unter Druck gestanden ist. Weder Obama noch die palästinensische Regierung hat ihn je unter Druck gesetzt, wie ihn jetzt diese Jugendlichen in Tel Aviv und auch außerhalb von Tel Aviv unter Druck setzen. Er steht also unter dem Zugzwang, etwas zu tun. Wobei dieses Etwas natürlich nicht innerhalb von einem Monat, zwei Monaten getan werden kann, sondern das sind Prozesse, die eigentlich Jahrzehnte lang dauern würden, wenn man sie anfahren würde. Also, eine der Forderungen ist natürlich, die Privatisierung rückgängig zu machen, was natürlich fast schon unmöglich ist. Also, er muss auf jeden Fall, er muss etwas tun, sonst wäre wahrscheinlich seine Regierung am Ende und die Kommission, die er eingerufen hat mit einem sehr kompetenten Mann, Manuel Trachtenberg, der diese Kommission jetzt leitet und der ganz klar auch gesagt hat, dass er da keine Aushängefigur sein wird, sondern wirklich ...
Kassel: ... aber das könnte aber mit Trachtenberg ja auch zum Problem werden. Denn es gab schon Meldungen, dass Trachtenberg gesagt haben soll, er hält es zumindest für möglich darüber nachzudenken, auch die Militärausgaben zu senken, um Geld zu haben. Netanjahu hat schon gesagt, das möchte er auf keinen Fall.
Sznaider: Ja, ja, da wird plötzlich so ein Gespenst aus der Flasche geholt, weil ... In dem Moment, es ist ja in Israel so, der Sozialstaat und dieser Wohlfahrtsstaat, den sich diese jungen Menschen vorstellen, den gibt es ja in Israel eigentlich schon, aber nicht für sie. Den gibt es jenseits der grünen Grenze, in den besetzten Gebieten, wo die Leute in relativ erschwinglichen Wohnungen ein vom Staat getragenes Leben haben. Und es ist klar, dass die hohen Lebenshaltungskosten in Israel, die hohe Besteuerung, das Wenige, was man vom Staat zurückbekommt für diese hohen Steuern, die man zahlt, ja natürlich auch mit der israelischen Besatzungspolitik zu tun haben, da ist überhaupt keine Frage. Aber daran wollen die Demonstranten ja nicht rühren. Und damit hängt ja natürlich auch die regionale Frage und das Militärbudget und diese ganzen Dinge miteinander zusammen. Das heißt also, es geht hier, eigentlich ist hier ein ungeheurer Widerspruch in dieser Bewegung drin, und diesen Widerspruch muss die Regierung natürlich im gewissen Sinne aushalten. Auf der einen Seite sind diese jungen Menschen ... Viele von denen sind meine Studenten und ich kenne die und ich weiß genau ... Ich weiß nicht hundertprozentig genau, aber ich weiß so ungefähr, wie die ticken, sind das Leute, die auch sehr durch westliche Kulturinhalte beeinflusst sind. Sie stellen sich vor, ein Leben führen zu können, wie sie sich vorstellen, dass Jugendliche oder junge Menschen in ihrem Alter außerhalb Israels das Leben führen. Das heißt also, dass man normal sein kann, dass man normal sein kann wie ein dänischer, deutscher oder englischer ...
Kassel: Aber gerade, wenn Sie das sagen, Herr Sznaider: Ich habe letzte Woche hier an dieser Stelle mit dem deutsch-israelischen Publizisten Chaim Noll auch darüber gesprochen und wir kamen auch auf diese Frage der Sicherheitspolitik, also zwei Dinge im Wesentlichen: Der Militärhaushalt und die Unterstützung für die Siedler im Westjordanland. Jetzt sagen Sie zum einen, die wollen nicht daran rütteln. Vielleicht nicht vordergründig politisch, die wollen keine Debatte darüber, sollen wir die Siedlungen auch im Westjordanland wieder einstellen. Aber wenn die Jugendlichen Normalität wollen, ist es dann nicht eine Frage der Zeit, bis die sagen, es ist aber eigentlich nicht normal, diese Siedler zu haben und da so viel Geld hinzuschicken?
Sznaider: Genau, und das kann natürlich dann eine der nicht gewollten Konsequenzen dieser Protestbewegung sein, weil irgendwann muss sie dahin kommen. Das ist ganz klar. Also, wenn man sagt, das Volk will soziale Gerechtigkeit, und dann anfängt, die Analyse zu machen, warum es diese soziale Gerechtigkeit nicht gibt, und was es dann bedeutet auch Volk zu sein, was passiert mit der arabischen Bevölkerung innerhalb Israels, was passiert mit der arabischen Bevölkerung außerhalb Israels, wer gehört zu diesem Begriff Volk, ist das ein universaler Begriff, ist das ein ethnisch-nationaler Begriff? An diese Dinge, an diese wirklich, sagen wir mal, sehr wesentlichen Definitionsbegriffe der israelischen Gesellschaft, da wollen sie noch nicht ran, aber da werden sie rankommen. Und dann wird die Bewegung natürlich auch wieder ... Dann kann sie nicht mehr diesen großen Effekt haben, den sie im Moment hat, dann wird sie wieder in die bekannten Lager fallen von Links und Rechts. Im Moment ist sie jenseits von Links und Rechts.
Kassel: Aber haben wir nicht an diesem Wochenende auf eine ganz andere Art und Weise, vielleicht politisch weniger brisante, schon erlebt, wie das langsam beginnt? Denn ich habe gerade jetzt an der Peripherie von vielen Leuten gehört – wir haben es gehört, da gibt es Orte, die sind im Prinzip eine halbe Stunde von Tel Aviv weg, man braucht aber zwei Stunden, weil das Schienensystem so schlecht ist –, Leute gehört, die gesagt haben, wir wollen, dass auch Geld in die Peripherie fließt und nicht alles nach Tel Aviv und Jerusalem. Die in Tel Aviv sagen aber jetzt schon, uns geht es gar nicht gut in Tel Aviv, wir haben nichts von dem Geld, weil die Mieten so hoch sind. Das heißt, so ein Kampf, jeder gegen jeden, könnte doch schon jetzt eigentlich passieren?
Sznaider: Das wird auch so passieren. Und Sie werden sehen, wenn am 20. September dann diese Geschichte mit der Anerkennung von Palästina in der UNO losgeht und die Protestbewegung dann in irgendeiner Form auch dazu aufgefordert wird, da Stellung zu nehmen ... Man kann nicht auf der einen Seite mit ansehen, wie, was weiß ich, Hunderttausende von Palästinensern, sagen wir mal, für einen unabhängigen Staat demonstrieren innerhalb Israels und in besetzten Gebieten, und sie stehen immer noch auf dem Rothschild-Boulevard und reden über die billigeren Mieten von Tel Aviv. Irgendwo müssen sie da auch anfangen, sich, sagen wir mal, klassischer zu politisieren. Im Moment ist es eine neue Form der Politisierung, die ohne Politik, die ohne die israelische Politik vonstatten geht. Es ist eine Bewegung der Existenzangst, würde ich sagen. Und die ist berechtigt, die ist auf jeden Fall berechtigt. Viele dieser Jugendlichen haben das Gefühl, dass sie den Lebensstandard ihrer Eltern nicht mehr aufrechterhalten können, und da ist so eine Angst zu fallen. Das ist ganz klar. Aber es ist auf keinen Fall, und ich glaube, dass das ein wichtiger Punkt ist ... Es geht ihnen ja im Prinzip besser, als es, sagen wir mal, denjenigen, die in ihrer sozialen Stellung waren vor 30 oder 40 Jahren. Das wissen die auch.
Kassel: Das nützt nichts bei alltäglichen Überlegungen, genau so wenig wie in Spanien, in Deutschland oder sonst wo ...
Sznaider: Genau, das nützt nichts. Es geht also nicht um irgendeinen mythischen Sozialstaat, der eigentlich gar nicht mehr zu erreichen ist.
Kassel: Ich denke, es sind spannende Zeiten gerade in Israel, und das werden sie auch bleiben! Ich danke Ihnen für das Gespräch, Natan Sznaider war das, Soziologe am Academic College in Tel Aviv.
Sznaider: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Bei mir im Studio begrüße ich jetzt Natan Sznaider. Er ist Professor für Soziologie am Academic College in Tel Aviv. Ein Satz ist mir sofort in Erinnerung geblieben aus diesem Beitrag, nämlich, dass das eine immer größere Bandbreite an Protest dann ist und dass auch die Ziele immer unterschiedlicher sind. Wird das langsam zum Problem für die Protestbewegung oder ist es erst mal eher ein Vorteil?
Natan Sznaider: Nein, im Moment ist es auf jeden Fall ein Vorteil. Das ist eine der erstaunlichsten Protestbewegungen, die es in Israel wahrscheinlich je gegeben hat, das muss man auf jeden Fall sagen, und dass die Forderungen im Moment etwas abstrakt bleiben, diffus sind, nicht auf, sagen wir mal, zehn Punkte zusammengefasst werden können, ist für die Bewegung ein Vorteil, weil die Bewegung auch im Moment gar nicht richtig weiß, was sie will. Der Slogan "Das Volk will soziale Gerechtigkeit", das ist ja das, was man immer hört – ist ja eigentlich mehr oder weniger ein Code für Unzufriedenheit. Also, soziale Gerechtigkeit, das ist ja nicht irgendwie theoretisch im Rahmen irgendwelcher sozialdemokratischen Programme zu verstehen, auch wenn man den Sozialstaat wieder einfordert, den Wohlfahrtsstaat wieder einfordert, darum geht es ja den Demonstranten, kann man sagen, eigentlich nicht. Es geht ihnen um Sicherheit, eine richtig große, existenzielle Sicherheit, die sie einfordern, das Gefühl, dass man Kontrolle über das eigene Leben verloren hat ... Eigentlich kein israelisches Phänomen, also sicher ist diese Bewegung auch nicht mit den arabischen Protestbewegungen zu vergleichen. Wenn man sie schon vergleichen will, dann ist sie wahrscheinlich eher mit der Protestbewegung in Spanien oder in Madrid zu vergleichen. Es geht ja auch nicht darum, das Regime zu stürzen, es geht nicht darum, die israelische Besatzung irgendwie zu stoppen. Es geht darum, dass man im gewissen Sinne als mittelständiger junger Mensch das Gefühl hat, dass einem die Felle davonschwimmen, dass man keine Kontrolle mehr über sein eigenes Leben hat.
Kassel: Aber kann denn dann Netanjahu, kann seine Regierung, kann diese 15-köpfige Kommission da überhaupt etwas tun? Er selber – wir haben es gerade gehört – hat ja gesagt, er will kein Wischiwaschi, er will konkrete Änderungen vorschlagen, aber egal, was er tut: Kann er diesen Wunsch, den Sie gerade formuliert haben, denn überhaupt erfüllen?
Sznaider: Netanjahu steht im Moment so unter Druck, wie er noch nie in seinen beiden Regierungszeiten unter Druck gestanden ist. Weder Obama noch die palästinensische Regierung hat ihn je unter Druck gesetzt, wie ihn jetzt diese Jugendlichen in Tel Aviv und auch außerhalb von Tel Aviv unter Druck setzen. Er steht also unter dem Zugzwang, etwas zu tun. Wobei dieses Etwas natürlich nicht innerhalb von einem Monat, zwei Monaten getan werden kann, sondern das sind Prozesse, die eigentlich Jahrzehnte lang dauern würden, wenn man sie anfahren würde. Also, eine der Forderungen ist natürlich, die Privatisierung rückgängig zu machen, was natürlich fast schon unmöglich ist. Also, er muss auf jeden Fall, er muss etwas tun, sonst wäre wahrscheinlich seine Regierung am Ende und die Kommission, die er eingerufen hat mit einem sehr kompetenten Mann, Manuel Trachtenberg, der diese Kommission jetzt leitet und der ganz klar auch gesagt hat, dass er da keine Aushängefigur sein wird, sondern wirklich ...
Kassel: ... aber das könnte aber mit Trachtenberg ja auch zum Problem werden. Denn es gab schon Meldungen, dass Trachtenberg gesagt haben soll, er hält es zumindest für möglich darüber nachzudenken, auch die Militärausgaben zu senken, um Geld zu haben. Netanjahu hat schon gesagt, das möchte er auf keinen Fall.
Sznaider: Ja, ja, da wird plötzlich so ein Gespenst aus der Flasche geholt, weil ... In dem Moment, es ist ja in Israel so, der Sozialstaat und dieser Wohlfahrtsstaat, den sich diese jungen Menschen vorstellen, den gibt es ja in Israel eigentlich schon, aber nicht für sie. Den gibt es jenseits der grünen Grenze, in den besetzten Gebieten, wo die Leute in relativ erschwinglichen Wohnungen ein vom Staat getragenes Leben haben. Und es ist klar, dass die hohen Lebenshaltungskosten in Israel, die hohe Besteuerung, das Wenige, was man vom Staat zurückbekommt für diese hohen Steuern, die man zahlt, ja natürlich auch mit der israelischen Besatzungspolitik zu tun haben, da ist überhaupt keine Frage. Aber daran wollen die Demonstranten ja nicht rühren. Und damit hängt ja natürlich auch die regionale Frage und das Militärbudget und diese ganzen Dinge miteinander zusammen. Das heißt also, es geht hier, eigentlich ist hier ein ungeheurer Widerspruch in dieser Bewegung drin, und diesen Widerspruch muss die Regierung natürlich im gewissen Sinne aushalten. Auf der einen Seite sind diese jungen Menschen ... Viele von denen sind meine Studenten und ich kenne die und ich weiß genau ... Ich weiß nicht hundertprozentig genau, aber ich weiß so ungefähr, wie die ticken, sind das Leute, die auch sehr durch westliche Kulturinhalte beeinflusst sind. Sie stellen sich vor, ein Leben führen zu können, wie sie sich vorstellen, dass Jugendliche oder junge Menschen in ihrem Alter außerhalb Israels das Leben führen. Das heißt also, dass man normal sein kann, dass man normal sein kann wie ein dänischer, deutscher oder englischer ...
Kassel: Aber gerade, wenn Sie das sagen, Herr Sznaider: Ich habe letzte Woche hier an dieser Stelle mit dem deutsch-israelischen Publizisten Chaim Noll auch darüber gesprochen und wir kamen auch auf diese Frage der Sicherheitspolitik, also zwei Dinge im Wesentlichen: Der Militärhaushalt und die Unterstützung für die Siedler im Westjordanland. Jetzt sagen Sie zum einen, die wollen nicht daran rütteln. Vielleicht nicht vordergründig politisch, die wollen keine Debatte darüber, sollen wir die Siedlungen auch im Westjordanland wieder einstellen. Aber wenn die Jugendlichen Normalität wollen, ist es dann nicht eine Frage der Zeit, bis die sagen, es ist aber eigentlich nicht normal, diese Siedler zu haben und da so viel Geld hinzuschicken?
Sznaider: Genau, und das kann natürlich dann eine der nicht gewollten Konsequenzen dieser Protestbewegung sein, weil irgendwann muss sie dahin kommen. Das ist ganz klar. Also, wenn man sagt, das Volk will soziale Gerechtigkeit, und dann anfängt, die Analyse zu machen, warum es diese soziale Gerechtigkeit nicht gibt, und was es dann bedeutet auch Volk zu sein, was passiert mit der arabischen Bevölkerung innerhalb Israels, was passiert mit der arabischen Bevölkerung außerhalb Israels, wer gehört zu diesem Begriff Volk, ist das ein universaler Begriff, ist das ein ethnisch-nationaler Begriff? An diese Dinge, an diese wirklich, sagen wir mal, sehr wesentlichen Definitionsbegriffe der israelischen Gesellschaft, da wollen sie noch nicht ran, aber da werden sie rankommen. Und dann wird die Bewegung natürlich auch wieder ... Dann kann sie nicht mehr diesen großen Effekt haben, den sie im Moment hat, dann wird sie wieder in die bekannten Lager fallen von Links und Rechts. Im Moment ist sie jenseits von Links und Rechts.
Kassel: Aber haben wir nicht an diesem Wochenende auf eine ganz andere Art und Weise, vielleicht politisch weniger brisante, schon erlebt, wie das langsam beginnt? Denn ich habe gerade jetzt an der Peripherie von vielen Leuten gehört – wir haben es gehört, da gibt es Orte, die sind im Prinzip eine halbe Stunde von Tel Aviv weg, man braucht aber zwei Stunden, weil das Schienensystem so schlecht ist –, Leute gehört, die gesagt haben, wir wollen, dass auch Geld in die Peripherie fließt und nicht alles nach Tel Aviv und Jerusalem. Die in Tel Aviv sagen aber jetzt schon, uns geht es gar nicht gut in Tel Aviv, wir haben nichts von dem Geld, weil die Mieten so hoch sind. Das heißt, so ein Kampf, jeder gegen jeden, könnte doch schon jetzt eigentlich passieren?
Sznaider: Das wird auch so passieren. Und Sie werden sehen, wenn am 20. September dann diese Geschichte mit der Anerkennung von Palästina in der UNO losgeht und die Protestbewegung dann in irgendeiner Form auch dazu aufgefordert wird, da Stellung zu nehmen ... Man kann nicht auf der einen Seite mit ansehen, wie, was weiß ich, Hunderttausende von Palästinensern, sagen wir mal, für einen unabhängigen Staat demonstrieren innerhalb Israels und in besetzten Gebieten, und sie stehen immer noch auf dem Rothschild-Boulevard und reden über die billigeren Mieten von Tel Aviv. Irgendwo müssen sie da auch anfangen, sich, sagen wir mal, klassischer zu politisieren. Im Moment ist es eine neue Form der Politisierung, die ohne Politik, die ohne die israelische Politik vonstatten geht. Es ist eine Bewegung der Existenzangst, würde ich sagen. Und die ist berechtigt, die ist auf jeden Fall berechtigt. Viele dieser Jugendlichen haben das Gefühl, dass sie den Lebensstandard ihrer Eltern nicht mehr aufrechterhalten können, und da ist so eine Angst zu fallen. Das ist ganz klar. Aber es ist auf keinen Fall, und ich glaube, dass das ein wichtiger Punkt ist ... Es geht ihnen ja im Prinzip besser, als es, sagen wir mal, denjenigen, die in ihrer sozialen Stellung waren vor 30 oder 40 Jahren. Das wissen die auch.
Kassel: Das nützt nichts bei alltäglichen Überlegungen, genau so wenig wie in Spanien, in Deutschland oder sonst wo ...
Sznaider: Genau, das nützt nichts. Es geht also nicht um irgendeinen mythischen Sozialstaat, der eigentlich gar nicht mehr zu erreichen ist.
Kassel: Ich denke, es sind spannende Zeiten gerade in Israel, und das werden sie auch bleiben! Ich danke Ihnen für das Gespräch, Natan Sznaider war das, Soziologe am Academic College in Tel Aviv.
Sznaider: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.