Eine (Anti-)Revolution

Von Basil Kerski |
Der Friedensnobelpreisträger Lech Wałęsa ist ein temperamentvoller Pole mit Sinn für Humor und Talent für originelle Metaphern. Um jungen Menschen heute ein Gefühl dafür zu vermitteln, welch unglaublich schwierigen Weg Polen in den letzten Jahrzehnten gegangen ist, greift er gerne zu folgendem Vergleich: Polens Wandel könne man mit einem Aquarium vergleichen.
Um in einem Aquarium eine Fischsuppe zuzubereiten, brauche man es nur anzuheizen, und schon habe man eine Fischsuppe, allerdings ohne Gewürze. Das sei geschehen, so Wałęsa, als der Kommunismus den Kapitalismus auflöste. Aber den umgekehrten Weg einzuschlagen, also vom Kommunismus in Marktwirtschaft und Demokratie, sei so schwer, so unglaublich, wie aus einer Fischsuppe ein Aquarium zu machen. "Aber wir haben es geschafft, in Polen schwimmen bereits Fische!", erklärt Wałęsa.

Als vor genau 30 Jahren streikende Danziger Werftarbeiter um den Elektriker Lech Wałesa nicht nur für Lohnerhöhungen, sondern auch für Menschenwürde, Meinungsfreiheit und Teilhabe an der Macht eintraten, wirkte dieser Kampf so utopisch und so wenig erfolgversprechend, wie eine Fischsuppe in ein Aquarium umzuwandeln. Doch die mutigen Arbeiter und ihre intellektuellen Unterstützer hatten Erfolg. Mit ihren Protesten trotzten sie den Machthabern politische Freiheiten ab und gründeten eine unabhängige Gewerkschaft - die Solidarität, polnisch Solidarność.

Für junge Polen ist der Kampf der Solidarność heute nur noch abstrakte Geschichte. Meinungs- und Reisefreiheit, freie Wahlen sowie volle Regale in den Geschäften sind in Polen eine Selbstverständlichkeit. Und auch wenn aus der historischen Perspektive die Solidarność-Revolution eine unglaubliche Erfolgsgeschichte ist, so kann die individuelle Perspektive eine andere sein. In einem Land mit großen sozialen Kontrasten und regionalen Unterschieden klingen die Begriffe "Gerechtigkeit" und "Solidarität" für viele Menschen wie nicht eingelöste Versprechen.

Und auch der politische Pluralismus zeigt sich von seiner Schattenseite. Erwartungsgemäß zerfiel die 10-Millionen-Bewegung nach dem Sieg vor 20 Jahren in verschiedene politische und kulturelle Lager. Ehemalige Solidarność-Aktivisten wie Tusk und Kaczyński dominieren heute zwar die politische Landschaft, aber die Eintracht und der Respekt sind unter den Ex-Revolutionären längst verschwunden. Sie streiten sich nicht nur um Polens Weg in die Zukunft, sondern auch über die jüngste Geschichte.

Der Mythos der Solidarność ist zwar verblasst, doch das mindert nicht die Bedeutung dieser Revolution für Polen und Europa. Die Solidarność war eine neue Form der polnischen Revolution: realistisch und idealistisch zugleich. Die Solidarność war eine gewaltfreie, selbstbeschränkte Freiheitsbewegung, die die blutigen Konsequenzen anderer Erhebungen im Sowjetblock und nationaler polnischer Dramen als Warnung im Blick behielt. Ihre wichtigste Losung war daher: "Zündet keine Komitees an, sondern baut eigene".

Man könnte die Solidarność auch als eine "Anti-Revolution" bezeichnen. Nach den totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zeigte sich die Solidarność-Führung gegenüber jeglichen Utopien und Erlösungsversprechungen abgeneigt. Die polnische Revolution grenzte sich kritisch zur Revolutionsromantik großer europäischer Erhebungen, der Russischen und Französischen Revolution, ab. Sie brach bewusst mit ihnen, verzichtete vor allem auf eine Sprache der Gewalt. Die Solidarność hat dazu beigetragen, das Fundament für eine neue politische Kultur Europas nach den Erfahrungen der totalitären Utopien zu legen. Sie verdient es daher, weiter erinnert zu werden.


Basil Kerski, geb. 1969 in Danzig, ist Chefredakteur des zweisprachigen Deutsch-Polnischen Magazins "DIALOG". Er lebt seit 1979 in Berlin, wo er an der Freien Universität Slawistik und Politikwissenschaft studiert hat. Die von ihm geleitete Zeitschrift erhielt 2009 den von der Bundeszentrale für politische Bildung gestifteten "Einheitspreis 2009" in der Kategorie Kultur.