Eine Arbeitermär

1909 erscheint das erste dramatische Werk der Dichterin Else Lasker-Schüler "Die Wupper", mit dem sie ihrer Kindheit und Jugend in Elberfeld ein anrührendes und vielstimmiges Denkmal setzt. 1978 wurde "Die Wupper" vom Westdeutschen Rundfunk als Hörspiel inszeniert. Diese Fassung ist nun bei "parlando" in der Edition Brückner zu hören: Eine Perle, die man nicht verpassen sollte.
Hörbuch-Auszug: "Lott es dott, Lott es doot, Liesken leegt om Sterwen, dat et god, dat et god, gäwt et wat tu erwen!"

"Ich bin verliebt in meine Stadt und bin stolz auf ihre Schwebebahn… Immer fliegt mit Tausendgetöse das Bahnschiff durch die Lüfte über das Wasser auf schweren Ringfüßen durch Elberfeld… Ich muß an alles denken und stehe plötzlich wie hingehext vor meinem Elternhaus."

1913 schrieb Else Lasker-Schüler diese Liebeserklärung an ihre Geburtsstadt. Ihr Schauspiel "Die Wupper" erschien vier Jahre zuvor, 1909. In der jetzigen Hörspielfassung erklingt auch diese Hommage an Elberfeld - ein kluger kompositorischer Einfall, denn man beginnt zu ahnen, warum sie ihre "Stadtballade" schreiben musste.

"Bange Jahre gegoren, floß die Wupper durch das Gewölbe meines Herzens aus dunkler Erinnerung gepresst, eine alte schwere Schauspielauslese."

Uraufgeführt wurde ihr bekanntestes Drama erst 1919 am Deutschen Theater in Berlin. Allerdings ohne Erfolg. "Die Wupper" sei kein Drama, hieß es. Eher "eine Bildfolge, eine Ballade mit lyrischen Haltepunkten". Else Lasker-Schüler entwirft ein vielschichtiges Tableau. Ihre poetische Begabung zeigt sich auch beim dramatischen Genre in der subtilen Typisierung und psychologischen Auslotung der Figuren. Jede ist ein Kosmos, der eine Welt in sich trägt, die aus den Fugen gerät.

Die Leichtigkeit, mit der die Dichterin die schwelenden Krisenherde in der Arbeiterstadt einfängt und die Virtuosität, mit der sie die innere Obdachlosigkeit ihrer Bewohner nach außen kehrt, musste irritieren. In einem rasant sich drehenden Karussell fliegt die bunte Figurenschar vorbei: die Arbeiterfamilie Großvater Wallbreckers, Tochter Amanda Pius und Sohn Carl; die Fabrikbesitzerin Charlotte Sonntag und deren Kinder Eduard, Marta und Heinrich; Dienstboten, Färber, Weber, Zuhälter.

Großvater Wallbrecker: "Tumtingelinge… Hör auf dein alten Großvater, Carl, schmeiß den Gelehrtenkram beis Gerömpel. Du bist man so recht was für’n Meister, Gesellen müsst de unter dein Kommando hab’n."

Carl: "Lot mick man erst Pastor sein, Großvater, dann werden die Meisters meine Gesellen."

Großvater Wallbrecker: "Und dat Liesken drüben sollst de doch frein."

Carl: "Die hierat mick um so leber."


Während die Arbeiter im Elberfelder Dialekt schwätzen, gibt man sich in der Fabrikantenvilla hochsprachlich kontrolliert. Prallen beide Ebenen aufeinander, ergeben sich Brüche, die auf jene soziale Wirklichkeit verweisen, in die das Drama eingebettet ist. Die Gefühle des Arbeitersohns Carl lassen sich nicht domestizieren. Befreundet mit dem Fabrikantensohn Eduard, verzehrt er sich auch nach Marta, der Fabrikantentochter.

Unmut regt sich indes, als Carl Pius bekannt gibt, Pastor zu werden. Die sonntägliche Predigt aus dem Munde eines Proletariers?

Frau Sonntag: "Sie wollen also wirklich evangelischer Geistlicher werden, Herr Pius?"

Carl: "Ja, Madame Sonntag."

Frau Sonntag: "Ihre Großmutter wünscht es wohl?"

Carl: "So ernste Fragen pflege ich allein zu erledigen."

Frau Sonntag: "Versprechen Sie sich eine schnellere Karriere?"

Carl: "Ich bin mit den Dogmen der katholischen Kirche in Konflikt geraten."


Vielleicht trug gerade die Figur des Carl Pius dazu bei, "Die Wupper" nach der Kölner Aufführung 1958 in der katholischen Kirchenzeitung als "Sumpf der Amoralität" zu bezeichnen. Das hielt den Westdeutschen Rundfunk nicht davon ab, es 1978 als Hörspiel einzurichten, das bis heute nichts von seiner expressionistischen Sprachbewegung eingebüßt hat.

In einer brillanten Stimmbesetzung - Brigitte Horney als Else Lasker-Schüler, Heinz Schacht als Großvater Wallbrecker, Christian Brückner als Carl Pius - ist das Anliegen der Dichterin, eine "böse Arbeitermär" zu schreiben, sensibel umgesetzt.

Die jüdische Dichterin musste 1933 ins Exil gehen. Im Hörspiel wird die geliebte Stadt - jenes "Bagdad" mit seinem "schimmernden Fluß", der immer dichtet - noch einmal lebendig.

Rezensiert von Carola Wiemers

Else Lasker-Schüler: Die Wupper
Hörspielinszenierung von 1978
Eine Produktion des Westdeutschen Rundfunks Köln,
Alle Rechte bei und vorbehalten durch Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, parlando
Edition Christian Brückner, 2008
2 CDs mit Booklet, Gesamtlaufzeit 104:31
Musik: Enno Dugend, 19,95 Euro