"Eine breite Koalition, die unzufrieden ist"
Die Unterschriftenaktion gegen Staatspräsident Mohammed Mursi sei als positives Zeichen für die lebendige Zivilgesellschaft in Ägypten zu sehen, sagt Cengiz Günay, Wissenschaftler am Österreichischen Institut für internationale Politik. Der Protestbewegung gehe es um mehr Mitsprache.
Gabi Wuttke: Immer mehr verschleierte Frauen sind auf den Straßen von Ägypten zu sehen, immer mehr Muslimbrüder und Salafisten hievt Präsident Mursi in Amt und Macht. Ein neuer Pharao am Nil, der Arabische Frühling zur Eiszeit erstarrt - so ist immer öfter zu lesen und zu hören, besonders jetzt, wenige Tage vor Mursis Einjährigem. Aber stimmt das?
Cengiz Günay arbeitet beim österreichischen Institut für Internationale Politik, sein Forschungsschwerpunkt ist der Nahe Osten. Einen schönen guten Morgen!
Cengiz Günay: Guten Morgen!
Wuttke: Bis zum 30. Juni, dem Jahrestag also, läuft in Ägypten eine Unterschriftenaktion, mit der Neuwahlen erzwungen werden sollen. Die Initiatoren vermelden derzeit weit über drei Millionen Unterstützer. Wie stark ist für Sie die aktive Zivilgesellschaft, die keinen neuen Pharao will?
Günay: Was wir in Ägypten sehen, ist, dass nach der Revolution - wenn man es eine Revolution nennen kann -, jedenfalls nach dem Sturz von Präsident Mubarak eine sehr starke und lebendige Zivilgesellschaft entstanden ist. Das sind nicht nur immer Organisationen, die sich da zusammentun, sondern es gibt auch ganz neue Formen, bei denen sich Menschen zu bestimmten Themen einfinden und dort gemeinsam operieren, das heißt, dass sich Menschen wie zum Beispiel junge Rechtsanwälte zu einer Plattform zusammenschließen und Menschenrechtsverletzungen nachgehen.
Das sind alles Bewegungen, die sich von klassischen Protestbewegungen unterscheiden, weil sie keine charismatischen Führungsfiguren haben. Es geht meistens darum, mehr Mitsprache einzufordern, nicht übergangen zu werden und eben Teil des Systems zu werden.
Wuttke: Können Sie uns denn sagen, wo die Aktivisten der ägyptischen Kampagne Rebellion genau stehen?
Günay: Das sind hauptsächlich junge Menschen, das sind Menschen zum Teil auch, die schon bei den Protesten gegen Mubarak aktiv waren, also es hat sich dieser Kampagne jetzt auch die Sechste-April-Bewegung angeschlossen, die eine maßgebliche Rolle in der Organisierung des Protests gegen Mubarak eine Rolle gespielt hat.
Aber von diesen jungen Menschen ausgehend ... Das ist ja auch durchaus kreativ, diese Unterschriftenkampagne: Sie hat eigentlich gar keine rechtlichen Folgen, aber es soll darauf hindeuten, was es für ein großes Potenzial an Unzufriedenheit gibt und weit über die Plätze, wo Demonstrationen stattfinden, hinausgehen, diesen Protest auch in die Häuser hinein und aus Kairo auch in die Provinz hineintragen.
Das ist eine durchaus kreative Form, die eben von solchen jungen Menschen ausgeht, die aber auch verschiedene Schichten ansprechen kann. Es gibt zum Beispiel Berichte darüber, dass auch die Betreiber von kleinen Geschäften, also vom Handel und vom Gewerbe, durchaus Unterschriften leisten beziehungsweise auch sogar um Unterschriften werben.
Wuttke: Das heißt, es gibt durchaus eine Schnittmenge zwischen den Menschen, die unter Mubarak für niedrigere Brotpreise demonstriert haben, und denen, die jetzt Mursi aus dem Amt jagen wollen?
Günay: Die sind sicherlich auch dabei, aber nicht nur. Ich denke, es ist eine breite Koalition, die unzufrieden ist. Es sind sicherlich auch Personen darunter, die seinerzeit für Mursi gestimmt haben, aber jetzt nicht zufrieden sind. Das, was eigentlich Präsident Mursi vorgeworfen wird, ist, dass sich das System Mubarak nicht geändert hat, sondern das System dasselbe ist, islamisch angefärbt. Mursi hat weder die Politik gegenüber Israel verändert - kann er auch in dem Sinn nicht -, er hat auch die Wirtschaftspolitik nicht verändert - auch da ist er total eingeschränkt. Also es sind viele Punkte, in denen die Präsidentschaft von Mursi eigentlich eine Fortsetzung der Präsidentschaft von Mubarak darstellt.
Gleichzeitig natürlich muss man aber auch sagen, dass es natürlich auch neu errungene Freiheiten im Land gibt, sonst wären solche Aktionen wie diese Unterschriftenkampagne nicht möglich. Aber die Menschen fürchten - auch aufgrund von bestimmten Erlässen von Mursi beziehungsweise seinem Verhalten bei früheren Gelegenheiten, wo er zum Beispiel den Ausnahmezustand kurzfristig ausgerufen hat -, sie fürchten, wieder diese schwer errungenen Freiheiten zu verlieren.
Wuttke: Weil Sie so betont haben, dass die, die jetzt gegen Mursi demonstrieren, in welcher Form auch immer, besonders junge Menschen sind: Der Wille der Ägypter, sich gegen Unfreiheit zur Wehr zu setzen, der hat also über die 30 Jahre Mubarak nicht geschlafen, der ist in gewisser Weise neu?
Günay: Ich denke, es ist eine neue Generation herangewachsen, die ganz andere Ideale und Ziele hat. Das ist die Stärke und gleichzeitig auch die Schwäche dieser Jugendbewegung: Sie ist unideologisch. Auch wenn die Muslimbrüder das versuchen, in diese alten Schablonen zu pressen - das sind die Säkularen gegen die Islamisten -, in dem Sinn stimmt das nicht mehr so, weil es auch genug junge Muslimbrüder gibt, die unzufrieden sind.
Das heißt, sie wehren sich gegen jede Form von Autorität vonseiten des Staates, und da gibt es auch junge Islamisten, die sich dem anschließen können.
Wuttke: Da stellt sich jetzt die Frage, angesichts der geplanten Großdemonstration gegen Mursi kommende Woche: Hat diese Generation, haben diese Kritiker die Kraft, zurückzuholen, was Sie als Revolution, in Anführungszeichen, sehen?
Günay: Ich denke, das ist sowieso ein Protest, der noch nicht abgeschlossen ist. Also wir haben zu oft, glaube ich, ... Auch im Diskurs in Europa beziehungsweise außerhalb der Region sind wir davon ausgegangen, dass das so ein Ereignis war, das passiert ist, und wenn wir dorthin blicken, fast verwundert, dass das noch nicht zur Normalität wieder gefunden hat.
Das ist vollkommen klar, dass das nicht so schnell gehen kann. Das ist ein sehr wichtiges und fundamentales Ereignis gewesen, das diese autokratischen Führer, die als unumstürzbar gegolten haben, auf einmal gestürzt wurden. Und nun braucht es seine Zeit, bis die neuen Kräfte sich finden beziehungsweise sich auch ein demokratisches Spiel und ein demokratisches Gleichgewicht etablieren kann. Ich denke, dass, wie gesagt, auch diese Unterschriftenaktion durchaus etwas ist, was in Richtung Demokratie und weitere Demokratisierung führen kann. Es zeigt, dass es eine lebendige Zivilgesellschaft gibt, die mit manchen Dingen nicht zufrieden ist und die, wenn sie nicht zufrieden ist, auf sich aufmerksam machen möchte.
Wuttke: Cengiz Günay vom österreichischen Institut für Internationale Politik, durchaus nicht pessimistisch, was Ägypten anbelangt. Ich danke Ihnen sehr für dieses Interview und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
Günay: Ihnen auch, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Cengiz Günay arbeitet beim österreichischen Institut für Internationale Politik, sein Forschungsschwerpunkt ist der Nahe Osten. Einen schönen guten Morgen!
Cengiz Günay: Guten Morgen!
Wuttke: Bis zum 30. Juni, dem Jahrestag also, läuft in Ägypten eine Unterschriftenaktion, mit der Neuwahlen erzwungen werden sollen. Die Initiatoren vermelden derzeit weit über drei Millionen Unterstützer. Wie stark ist für Sie die aktive Zivilgesellschaft, die keinen neuen Pharao will?
Günay: Was wir in Ägypten sehen, ist, dass nach der Revolution - wenn man es eine Revolution nennen kann -, jedenfalls nach dem Sturz von Präsident Mubarak eine sehr starke und lebendige Zivilgesellschaft entstanden ist. Das sind nicht nur immer Organisationen, die sich da zusammentun, sondern es gibt auch ganz neue Formen, bei denen sich Menschen zu bestimmten Themen einfinden und dort gemeinsam operieren, das heißt, dass sich Menschen wie zum Beispiel junge Rechtsanwälte zu einer Plattform zusammenschließen und Menschenrechtsverletzungen nachgehen.
Das sind alles Bewegungen, die sich von klassischen Protestbewegungen unterscheiden, weil sie keine charismatischen Führungsfiguren haben. Es geht meistens darum, mehr Mitsprache einzufordern, nicht übergangen zu werden und eben Teil des Systems zu werden.
Wuttke: Können Sie uns denn sagen, wo die Aktivisten der ägyptischen Kampagne Rebellion genau stehen?
Günay: Das sind hauptsächlich junge Menschen, das sind Menschen zum Teil auch, die schon bei den Protesten gegen Mubarak aktiv waren, also es hat sich dieser Kampagne jetzt auch die Sechste-April-Bewegung angeschlossen, die eine maßgebliche Rolle in der Organisierung des Protests gegen Mubarak eine Rolle gespielt hat.
Aber von diesen jungen Menschen ausgehend ... Das ist ja auch durchaus kreativ, diese Unterschriftenkampagne: Sie hat eigentlich gar keine rechtlichen Folgen, aber es soll darauf hindeuten, was es für ein großes Potenzial an Unzufriedenheit gibt und weit über die Plätze, wo Demonstrationen stattfinden, hinausgehen, diesen Protest auch in die Häuser hinein und aus Kairo auch in die Provinz hineintragen.
Das ist eine durchaus kreative Form, die eben von solchen jungen Menschen ausgeht, die aber auch verschiedene Schichten ansprechen kann. Es gibt zum Beispiel Berichte darüber, dass auch die Betreiber von kleinen Geschäften, also vom Handel und vom Gewerbe, durchaus Unterschriften leisten beziehungsweise auch sogar um Unterschriften werben.
Wuttke: Das heißt, es gibt durchaus eine Schnittmenge zwischen den Menschen, die unter Mubarak für niedrigere Brotpreise demonstriert haben, und denen, die jetzt Mursi aus dem Amt jagen wollen?
Günay: Die sind sicherlich auch dabei, aber nicht nur. Ich denke, es ist eine breite Koalition, die unzufrieden ist. Es sind sicherlich auch Personen darunter, die seinerzeit für Mursi gestimmt haben, aber jetzt nicht zufrieden sind. Das, was eigentlich Präsident Mursi vorgeworfen wird, ist, dass sich das System Mubarak nicht geändert hat, sondern das System dasselbe ist, islamisch angefärbt. Mursi hat weder die Politik gegenüber Israel verändert - kann er auch in dem Sinn nicht -, er hat auch die Wirtschaftspolitik nicht verändert - auch da ist er total eingeschränkt. Also es sind viele Punkte, in denen die Präsidentschaft von Mursi eigentlich eine Fortsetzung der Präsidentschaft von Mubarak darstellt.
Gleichzeitig natürlich muss man aber auch sagen, dass es natürlich auch neu errungene Freiheiten im Land gibt, sonst wären solche Aktionen wie diese Unterschriftenkampagne nicht möglich. Aber die Menschen fürchten - auch aufgrund von bestimmten Erlässen von Mursi beziehungsweise seinem Verhalten bei früheren Gelegenheiten, wo er zum Beispiel den Ausnahmezustand kurzfristig ausgerufen hat -, sie fürchten, wieder diese schwer errungenen Freiheiten zu verlieren.
Wuttke: Weil Sie so betont haben, dass die, die jetzt gegen Mursi demonstrieren, in welcher Form auch immer, besonders junge Menschen sind: Der Wille der Ägypter, sich gegen Unfreiheit zur Wehr zu setzen, der hat also über die 30 Jahre Mubarak nicht geschlafen, der ist in gewisser Weise neu?
Günay: Ich denke, es ist eine neue Generation herangewachsen, die ganz andere Ideale und Ziele hat. Das ist die Stärke und gleichzeitig auch die Schwäche dieser Jugendbewegung: Sie ist unideologisch. Auch wenn die Muslimbrüder das versuchen, in diese alten Schablonen zu pressen - das sind die Säkularen gegen die Islamisten -, in dem Sinn stimmt das nicht mehr so, weil es auch genug junge Muslimbrüder gibt, die unzufrieden sind.
Das heißt, sie wehren sich gegen jede Form von Autorität vonseiten des Staates, und da gibt es auch junge Islamisten, die sich dem anschließen können.
Wuttke: Da stellt sich jetzt die Frage, angesichts der geplanten Großdemonstration gegen Mursi kommende Woche: Hat diese Generation, haben diese Kritiker die Kraft, zurückzuholen, was Sie als Revolution, in Anführungszeichen, sehen?
Günay: Ich denke, das ist sowieso ein Protest, der noch nicht abgeschlossen ist. Also wir haben zu oft, glaube ich, ... Auch im Diskurs in Europa beziehungsweise außerhalb der Region sind wir davon ausgegangen, dass das so ein Ereignis war, das passiert ist, und wenn wir dorthin blicken, fast verwundert, dass das noch nicht zur Normalität wieder gefunden hat.
Das ist vollkommen klar, dass das nicht so schnell gehen kann. Das ist ein sehr wichtiges und fundamentales Ereignis gewesen, das diese autokratischen Führer, die als unumstürzbar gegolten haben, auf einmal gestürzt wurden. Und nun braucht es seine Zeit, bis die neuen Kräfte sich finden beziehungsweise sich auch ein demokratisches Spiel und ein demokratisches Gleichgewicht etablieren kann. Ich denke, dass, wie gesagt, auch diese Unterschriftenaktion durchaus etwas ist, was in Richtung Demokratie und weitere Demokratisierung führen kann. Es zeigt, dass es eine lebendige Zivilgesellschaft gibt, die mit manchen Dingen nicht zufrieden ist und die, wenn sie nicht zufrieden ist, auf sich aufmerksam machen möchte.
Wuttke: Cengiz Günay vom österreichischen Institut für Internationale Politik, durchaus nicht pessimistisch, was Ägypten anbelangt. Ich danke Ihnen sehr für dieses Interview und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
Günay: Ihnen auch, danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.