Eine Chance für Europa

Von Ulrike Guérot |
Auch mit dem neuen Fiskalpakt bleiben die Mitgliedsstaaten der EU die Herren der Verträge - und Europa damit eine Domäne der Exekutive. Doch weil nationale Autonomie zunehmend als ohnmächtig empfunden wird, wird die Krise zur Chance für die europäische Utopie, meint die Politologin Ulrike Guérot.
Die Lösung der Eurokrise gleicht dem Versuch, nicht nur ein biblisches Kamel, sondern gleich die Titanic durch ein Nadelöhr zu manövrieren. Es geht längst nicht mehr um kühne europäische Träume, sondern um Sisyphus-Arbeit.

Niemand wird leugnen: es wird gerade viel gearbeitet und auch erreicht in Europa, vergleichbar einer Altbausanierung, wo hinter der Fassade kein Stein auf dem anderen bleibt, die haushaltspolitischen Kontrollmechanismen eine Generalüberholung erfahren und mit dem neuen 'Fiscal Compact' ein politischer Integrationssprung angestrebt wird.

Und doch fragt man sich einerseits, ob die EU auf der Baustelle nicht in einem immer komplizierter werdenden Regelwerk die Übersicht verliert – zumal in einem, das weitgehend außerhalb der geltenden institutionellen Verfahren errichtet wird, weswegen sich im Europäischen Parlament zunehmend Widerstand regt. Und andererseits fragt man sich, ob noch auf der richtigen Baustelle gebaut wird.

In letzter Konsequenz bleibt der Fiskalpakt intergouvernemental, bleibt die EU ein Staatenverbund im Sinne des Bundesverfassungsgerichtes, bleiben die Mitgliedsstaaten die Herren der Verträge, Europa damit eine Domäne der Exekutive und erwächst gerade daraus eine inzwischen unheilvolle Legitimationskrise, die überall den Populismus nährt. Die europäische Integration gleicht immer noch dem Versuch, ein Omelette zu braten ohne die Eier zu zerschlagen: die Eier, das sind das nationale Eingemachte, genauer nationale Haushaltssouveränität, Parlamentsvorbehalte und Schuldenautarkie.

Es sind diese Stimmen, die sagen, dass das Gros der Krise mit dem Abschuss des Fiskalvertrags überwunden sein wird: die 'firewall', den Rettungsschirm als "ESM" endgültig einführen, Griechenland umschulden, Portugal helfen. Fertig. Die EU, so die Hoffnung, käme dann aus der Krise ohne jenen Sprung in einen fiskalischen Föderalismus, ohne Eurobonds, ohne Banklizenz des ESM oder ohne Schuldentilgungsfonds. Diese Hoffnung könnte sich jedoch als trügerisch erweisen.

Denn diese Stimmen übersehen, dass die meisten Staaten in der Eurozone jenseits von Schuldenbremsen vor allem eins brauchen, nämlich Wachstum. Spanien zum Beispiel hat eine Verschuldung von 394 Prozent des BIP, davon aber nur 73 Prozent öffentliche, aber 321 Prozent private Verschuldung – an denen der für März geplante Vertrag zunächst einmal gar nichts ändert. Wie Spanien innerhalb von zwei Jahren sein Defizit von sieben auf drei Prozent BIP zurückführen soll, und zwar ohne Wachstum, ist schleierhaft.

Die Alternative, eine Stabilitätsunion, erforderte eine transnationale Demokratie und ein anderes Europäisches Parlament. Das Problem ist, dass dies derzeit an der deutschen Verfassung scheitern würde. Deutschland müsste, um ein modernes Europa im 21. Jahrhundert möglich zu machen, sich selbst zuvor nach Art. 146 Grundgesetz neu verfassen und eine wirkliche politische Union möglich machen. Ein solcher plebiszitärer Akt wäre auch die beste Gelegenheit, eine inzwischen skeptische deutsche Bevölkerung wieder für Europa zu gewinnen.

Dies klingt wie eine Utopie, muss aber keine bleiben: in einem ersten Schritt würde es reichen, eine Kommission einzusetzen, die prüft, wie das Grundgesetz geändert werden müsste, damit die EU zugleich eine Stabilitätsunion und ein schlagkräftiger Akteur im 21. Jahrhundert werden kann. Für eine solche Politik dürfte es trotz der mutlos stimmenden Umfragen eine breite Mehrheit in der deutschen Bevölkerung geben. Ein deutsches Votum wiederum hätte Signalwirkung für Europa.

Nein, derartiges zu denken ist keine europäische Utopie, geschweige denn ihr Ende, sondern der Anfang einer europäischen Realität, in der Europa seinen Bürgern vertraut: weil Europa nämlich derzeit Wirklichkeit wird, und zwar in einem Ausmaße, wie man es vor kurzem noch für unmöglich gehalten hätte!

Ulrike Guérot, Politikwissenschaftlerin, leitet seit 2007 das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des German Marshall Fund, der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. Als Juniorprofessorin lehrte sie an der amerikanischen Johns Hopkins Universität. Für ihr europäisches Engagement wurde sie mit dem ‘Ordre pour le Merite' ausgezeichnet.
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Autorenfoto Ulrike Guerot© privat