Eine Chronik, die den Leser beglückt

17.05.2012
Ein französischer Offizier bereist um die Mitte des 18. Jahrhunderts den Westen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Sein Tagebuch besticht durch einen wunderbar leichten, unangestrengten Ton.
"Die Stadt Bonn ist klein, von einer alten Mauer umgeben, und besitzt ein einfaches, mittelmäßiges Bollwerk. Sie wirkt recht volkreich und geschäftig. Es gibt nur zwei oder drei Damenstifte, deren Bewohnerinnen sich selten ins Schloss begeben, wo sie auch nicht übernachten können, da der Kurfürst geistlichen Standes ist. Sein Schloss ist vollendet schön ... Das Kurfürstentum Mainz ist das vornehmste der neun und genießt die meisten Privilegien. Es ist groß und reich, besitzt alles im Überfluss und ist von den drei geistlichen das wohlhabendste ... Mainz ist einer der Schlüssel zu Deutschland, sehr alt und groß, volkreich; die Gassen sind eng und krumm, die Häuser hoch. Es heißt, hier spreche man das beste Deutsch und trinke den besten Rheinwein, und man trinkt beängstigend viel davon ..."

So erlebte ein französischer Offizier um die Mitte des 18. Jahrhunderts den Westen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Der hier so munter plaudert, hieß Emmanuel Herzog von Croy. Er stammte aus einer altadligen Familie deutsch-französischen Ursprungs, wurde 1718 geboren, standesgemäß erzogen und führte bis zu seinem Tod im März 1784 Tagebuch. Es war gewiss nicht zur Veröffentlichung bestimmt, diente vielmehr der Selbstvergewisserung, dem Rückblick auch am Lebensabend und war wohl auch als Bericht an die Nachkommen gedacht. Die 41 handschriftlichen Bände gelangten in die Handschriftensammlung der Bibliothek der Académie Francaise, eine autorisierte Abschrift liegt bis heute im Familienarchiv der Croys in Dülmen.

Der Münchner Schriftsteller Hans Pleschinski, ein Kenner und Liebhaber der Geisteswelt des 18. Jahrhunderts, hat Teile des Tagebuchs erstmals ins Deutsche übersetzt. Seine klug kommentierte Auswahl ist unter dem Titel "Nie war es herrlicher zu leben" im Verlag C.H. Beck erschienen: ein historisches Buch, das man wie ein unerwartetes Geschenk in den Händen hält und das den Leser beglückt zurücklässt.

Der Herzog von Croy besteht neben den großen Chronisten seines Zeitalters, neben Casanova und Friedrich II. von Preußen. Er hält glanzvolle und schreckliche Ereignisse fest: die Wahl und Krönung Kaiser Karls VII., die Vermählung Marie Antoinettes mit dem Dauphin, die Hinrichtung des Attentäters Damiens, ein schauriges Spektakel, das traurige Dahinsiechen Ludwigs XV. und die Ballonfahrt der Brüder Montgolfier. Daneben treten prominente Zeitgenossen auf und kommen zu Wort: Voltaire, Rousseau und Benjamin Franklin ebenso wie die Pompadour.

Vor allem aber besticht dieses Tagebuch durch einen wunderbar leichten, unangestrengten Ton. Man spürt bis in jeden Halbsatz, dass der Herzog nicht um Aufmerksamkeit kämpfen, nicht auf Effekte setzen musste. Neugierig, begeisterungsfähig, unbefangen, aber nicht urteilslos, schildert er Wünsche und Treiben seiner Mitmenschen; er wundert sich über seinen eigenen Ehrgeiz, am Hof eine Rolle zu spielen, bedauert all jene, die durch Geburt und Rang an Glanz gewöhnt und der schönen Dinge bald müde sind. Dieser Aristokrat war mit sich und seiner Welt im Reinen. Das Leben scheint zufrieden und unaufgeregt, alles hat seine Ordnung. Nicht einmal erotische Leidenschaften beunruhigen den viel schreibenden, an Naturgeschichte interessierten Emmanuel de Croy. Aber manches deutet bereits auf die kommende Revolution, zumindest für uns: Unruhen wegen gestiegener Brotpreise, eine hohe Staatsverschuldung und ein allmählicher Wandel der Gemüter:

"Der Geschmack an der Naturphilosophie und ein Geist des toleranten Materialismus breiteten sich aus; die Werke Rousseaus und Voltaires gewannen nur allzu viele Anhänger. Daraus entwickelte sich ein mächtiger Tolerantismus, der das Kernprinzip zu sein schien. Dieses Prinzip zeigte sich als eine Art von Gleichgültigkeit gegenüber allem. Daraus ließ sich ableiten, dass Kriege und Parteienhader in Europa künftig niemanden mehr in Wallung versetzen würden. Sowohl Glaube als auch Frömmelei kamen aus der Mode. Unsere untätige Nation wurde zunehmend frivol und weibisch, die Frauen gaben überall den Ton an. Nun denn, wo die Gemüter seltener aufbrausten, schienen zumindest die Sitten milder zu werden."

Wir erleben in diesen so unterhaltsamen Schilderungen den Abend des Ancien Regime: Was für ein Sonnenuntergang im Jahrhundert der Aufklärung!

"Nie war es herrlicher zu leben." Das geheime Tagebuch des Herzogs von Croy, 1718-1784.
Übersetzt und herausgegeben von Hans Pleschinski.
Verlag C.H. Beck, München 2011.
428 Seiten, 24,95 Euro.