Eine Denkerin auch für das 21. Jahrhundert

Moderation: Liane von Billerbeck |
Nach Ansicht von Alice Schwarzer wirken Gedanken und Werk von Simone de Beauvoir weit in das 21. Jahrhundert hinein. Der 1949 erschienene Band "Das andere Geschlecht" sei "heute aktueller denn je", sagte die "Emma"-Herausgeberin aus Anlass des 100. Geburtstages der französischen Philosophin und Schriftstellerin.
Liane von Billerbeck: Heute vor 100 Jahren wurde in Paris die französische Schriftstellerin und Philosophin Simone de Beauvoir geboren, eine Ikone der Emanzipation, eine Autorin, die die Frauenrechte nicht nur propagierte, sondern sie auch selbst kompromisslos lebte. Ihr Buch "Das andere Geschlecht", 1949 erschienen, löste bei seinem Erscheinen ein gesellschaftliches Erdbeben aus. Mit diesem wegweisenden Werk legte Simone de Beauvoir die theoretischen Grundlagen des modernen Feminismus.

Alice Schwarzer ist Herausgeberin von "Emma" und hatte ein freundschaftliches Verhältnis zu Simone de Beauvoir. Kürzlich ist ihr Lesebuch mit Bildern zu Simone de Beauvoir veröffentlicht worden und auch ein weiterer Band mit Gesprächen, die sie zwischen 1972 und 1982 mit ihr geführt hat. Schwarzer ist derzeit bei einem Beauvoir-Kongress in Paris. Frau Schwarzer, Sie haben Simone de Beauvoir im Mai 1970 zum ersten Mal getroffen in Paris. Sie waren damals freie Korrespondentin. Wie haben Sie Beauvoir damals erlebt? Was war das für eine Begegnung?

Alice Schwarzer: Ja, es war eigentlich eine sehr witzige Geschichte. Und das war auch noch nicht im Rahmen der Frauenbewegung. Die startete dann ein paar Monate später im September 1970. Ich war ja junge Korrespondentin in Paris. Und ich hatte mir irgendwie ein Interview mit Jean-Paul Sartre ergattert, was man ja nicht jeden Tag führt, wie man sich denken kann. Und es ging dabei um die Frage der revolutionären Gewalt. Und ich saß nun da, ich hatte eine halbe Stunde und sprach mit ihm. Und Sartre lebte ja sehr bescheiden in einer Ein-Zimmer-Wohnung. Und plötzlich drehte sich der Schlüssel im Schloss und herein kam Beauvoir. Die halbe Stunde muss ungefähr vorbei gewesen sein. Und sie warf einen strengen, verärgerten Blick auf uns und sagte, Sartre, Sie denken daran, die beiden siezten sich ja, was man in der Bourgeoisie ihrer Generation in Frankreich noch tat, Sartre, denken Sie daran, wir sind gleich verabredet. Und guckte so auf mich, dass mir plötzlich bewusst wurde, ich bin jung, ich bin blond, und mein Minikleid ist sehr hochgerutscht. Und diese von mir unendlich bewunderte Simone de Beauvoir denkt jetzt: Der alte Trottel hat sich von so einer Blondine zu einem völlig überflüssigen Gespräch beschwatzen lassen. Was mir natürlich gar nicht gefiel. Und ich hatte dann trotzdem die Nerven aus Stahl, das Gespräch zu Ende zu führen, während sie im Hintergrund mit ihren Papieren raschelte. Und als wir dann in dem kleinen Aufzug zusammen runterfuhren, habe ich irgendwie versucht, mal ein Wort an Simone de Beauvoir, deren "Anderes Geschlecht" ich gelesen hatte und die für mich eine noch größere Bedeutung als Sartre hatte, irgendwie anzusprechen, diesen zu blonden Eindruck zu verwischen. Und da hat sie mich ganz eiskalt abfahren lassen. Später habe ich erfahren, das nannte man den Kamelkopf von Beauvoir, wenn sie so war. Ein paar Monate später haben wir dann angefangen, zusammen politisch zu agieren und dann auch zu befreunden. Und irgendwann habe ich ihr die Szene erzählt, und sie hat sehr herzlich gelacht.

Billerbeck: Was war sie denn eigentlich für ein Mensch? Sie haben es schon gesagt. Wenn sie gestört wurde, dann konnte sie sehr unwirsch sein. Aber was hatte sie so für Eigenschaften?

Schwarzer: Ja, ich denke, eigentlich war sie schüchtern. Und deswegen hat sie eben nach außen bei Fremden so eine gewisse Unnahbarkeit signalisiert. Und außerdem war sie wählerisch. Sie fand, dass sie keine Zeit zu verlieren hatte. Und sie wollte nicht mit überflüssigen Dingen und auch nicht mit Menschen, die sie nicht interessierten, Zeit verlieren. Aber wenn man zu den Menschen gehörte, die die Ehre hatten, sie zu interessieren, dann war sie wahnsinnig offen und konnte auch ganz verspielt sein und übermütig. Und das Entscheidendste ist eigentlich: Beauvoir hat die Menschen, mit denen sie verkehrte, uneingeschränkt von gleich zu gleich behandelt, egal, ob man jetzt 40 Jahre jünger war, egal, welchen Beruf man hatte, wer man war oder was auch immer. Es gab für sie nur die Begegnung auf Augenhöhe. Und das heißt natürlich auch eine Zurücknahme ihrer selbst und eine große Bescheidenheit. Und das hat mich eigentlich immer sehr gerührt.

von Billerbeck: Was sie nicht mochte, das habe ich in mehreren Veröffentlichungen gelesen, war Kochen, obwohl sie doch sehr sinnfroh war, das Einziehen mit einer anderen Feministin. Ich habe ja im vergangenen Jahr ein sehr schönes Buch gelesen über Iris von Roten, die hat zum Beispiel ihren Mann vor der Eheschließung einen privatrechtlichen Vertrag vorgelegt. Und da steht drin, dass sie gefälligst keine Hausarbeit zu machen hat, und dazu gehörte natürlich das Kochen.

Schwarzer: Ja, ja. Das musste Beauvoir Sartre natürlich gar nicht vorlegen. Man muss sich mal überlegen: Simone de Beauvoir ist von Verhältnissen des 19. Jahrhunderts geprägt worden, sie ist Anfang des 20. geboren worden, und hat dann Gedanken und ein Werk entwickelt und ein Leben gelebt, das weit ins 21. Jahrhundert hineinragt. Und das ist natürlich eine Wahnsinnsspanne. Und sie hat erleben müssen, wie ihre Mutter irgendwann, als ihr Vater anfing, Verhältnisse zu haben, völlig entwertet war und auch tief erschüttert in ihrem Selbstwertgefühl. Und sie hat diese weiblichen Pflichten für sich abgelehnt, weil sie einfach bei der Analyse des Lebens von Frauen gesehen hat, wohin das führen kann. Und dass die Frauen ganz versinken können in dem Geschirr und in den Windeln.

Billerbeck: Sie hat ja in ihrem Buch, Sie haben es schon erwähnt, "Das andere Geschlecht", 1949 erschienen, ist sie ja der Frage nachgegangen, was es denn für Frauen bedeutet, wenn sie von Männern fremdbestimmt werden, festgelegt und herabgesetzt. Und bei seinem Erscheinen gab es ja einen Skandal. Nun haben Sie sich immer wieder mit diesem Werk befasst. Hat sich Ihre Sicht auf Beauvoirs Thesen eigentlich über die Jahre geändert?

Schwarzer: Nein, keineswegs. Ganz im Gegenteil: Ich habe jetzt, Sie erwähnten eben, dass ich jetzt ein Lesebuch herausgegeben habe, mit Texten aus ihrem ganzen Werk, aus den Briefen, aus den Romanen, aus den politischen Essays, und ich habe jetzt im Sommer Beauvoir noch mal lesen müssen. Vielmehr, ich muss sagen, dürfen, weil es hat mich ungeheuer animiert. Ich bin ganz rebellisch geworden nach der Lektüre. Und ich bin ja schon an und für sich nicht so wahnsinnig eingeschlummert und angepasst. Aber es hat mich so richtig noch mal wachgerüttelt und übrigens sehr gerührt. Denn ihre beiden letzten Romane, die 1966 und 1968 erschienen sind, die hatte ich nicht gelesen. Ganz einfach, weil der Zeitgeist damals so war, dass man keine Romane las. Man las nur Sachbücher ...

Billerbeck: Oder Manifeste?

Schwarzer: ... und redete über Politik und Manifeste und machte Flugblätter. Und diese beiden letzten Romane sind ein so anrührendes Dokument dafür, das ist die "Welt der schönen Bilder" und "Eine gebrochene Frau", wie schmerzlich viel Beauvoir auch von einem ganz normalen Frauenleben versteht. Dass sie wirklich alles weiß, und dass sie trotzdem, und das macht, glaube ich, die ungeheure Spanne aus, sie ist ja gar nicht die kopflastige Intellektuelle, die alles andere weggedrückt hat. Sie weiß um alles. Sie hat alles gelebt. Sie hat übrigens kompromisslos gelebt. Das stimmt nicht. Sie hat versucht, sehr konsequent zu leben. Aber sie hat oft Kompromisse gemacht und auch schmerzliche Kompromisse. Und sie hat ihr Denken und Schreiben immer wirklich mit dem Leben konfrontiert. Sie hat es immer am Leben selbst überprüft. Und das ist das wahnsinnig Interessante, mal ganz abgesehen vom "Anderen Geschlecht", das ein Schlüsselwerk ist. Und im Grunde, ganz ehrlich gesagt, wenn man von Feminismus verstehen will, braucht man nur die Einleitung und das Schlusswort vom "Anderen Geschlecht" zu lesen, dann hat man 95 Prozent intus. Und ich habe den Eindruck, dieses "Andere Geschlecht" ist heute aktueller denn je zuvor. Denn das, was diese Pionierin 1949 gewagt hat zu denken, das ist heute in der Mehrheit der Köpfe, wenn auch noch nicht ganz Realität, nämlich dass Frauen ganz einfach die gleichen Rechte und Pflichten haben sollen wie Männer. Das war damals eine Revolution und unerhört. Und das ist heute selbstverständlich. Und deswegen: Ich bin ja jetzt seit ein paar Tagen in Frankreich, und gleich gehe ich zu diesem Kolloquium, wo Intellektuelle aus der ganzen Welt angereist sind und sich fragen, was bedeutet Beauvoir heute. Ich kann Ihnen sagen, dass in diesen Tagen in Frankreich ganz viele Sonderausgaben erschienen sind und Wiederauflagen usw. Und der Tenor ist: Es gibt ein großes Comeback von Simone de Beauvoir. Ihr Denken ist heute angesagter als vor 20 Jahren.

Billerbeck: Es gab ja auch immer Kritik an den Thesen der Philosophin. Die häuft sich ja eigenartigerweise schon bald nach dem Tod Sartres 1980. Und die erbittertsten Wortführerinnen waren die Linken und die Feministinnen. Die haben Simone de Beauvoir zum Teil sogar Frauenfeindlichkeit vorgeworfen. Haben Sie eine Erklärung, warum das so war?

Schwarzer: Ja, man kann nicht sagen: die Feministinnen. Gewisse Feministinnen.

Billerbeck: Ein Teil der Feministinnen, sagen wir.

Schwarzer: Und dann können wir auch gleich benennen, welcher Teil. Dass die Linken Beauvoir kritisiert haben, ist klar. Ihr ganzes Denken richtete sich ja auch gegen die Linken. Dass die konservativen und rechten Männer nicht viel von der Emanzipation halten, davon war man zunächst nicht überrascht. Dass man aber dann auch sah in den 60er und 70er Jahren, dass die linken Männer zwar noch den letzten bolivianischen Bauern befreien wollten, ihre eigenen Frauen aber weiter schön die Klappe halten sollten und Kaffee kochen, Kinder versorgen und Flugblätter tippen und ansonsten jetzt nicht mehr nur einem Mann zur Verfügung zu stehen hatten, sondern allen, das war nun das Neue, wogegen sich die Frauenbewegung und mit ihr dann Beauvoir gerichtet hat, die sich ja dann sozusagen als Weggefährtin zur Frauenbewegung gesellt hat. Und die Feministinnen, das ist ganz einfach, es hat immer im Feminismus, auch in der historischen Bewegung, zwei große Strömungen gegeben. Die eine Strömung, zu der Beauvoir zu rechnen ist und übrigens auch ich, sind die sogenannten Gleichheitsfeministinnen. Das sind die Feministinnen, die sagen: Frauen und Männer sind zwar unter diesen unterschiedlichen Bedingungen auf der Welt natürlich unterschiedlich heute. Im Prinzip aber sollen sie die gleichen Chancen haben, die gleichen Rechte und die gleichen Pflichten. Und dann gibt es die andere Strömung, die in den letzten Jahrzehnten Differenzialistinnen hießen. Die sagen: Frauen und Männer sind irgendwo tief, tief unterschiedlich, unterschiedlich geboren oder unterschiedlich geworden, auf jeden Fall irreversibel. Frauen sind emotionaler und friedlicher. Männer sind kriegerischer und rationaler usw., was ich persönlich auch sehr männerfeindlich finde, muss ich sagen. Und diese Strömung hat sich eben in dem Moment, wo die Frauenbewegung ein bisschen schwächelte, auf Beauvoir gestürzt, weil sie international einer der Hauptprotagonistinnen des Gleichheitsfeminismus ist.
Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre in Paris
Simone de Beauvoir und Jean Paul Sartre in Paris© AP Archiv
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