Eine deutsch-namibische Kolonialgeschichte

Der Gürtel des Kahimemua Nguvauva

46:57 Minuten
Foto von Kahimemua und Nikodemus, gefangen genommen von deutschen Soldaten.
Das einzige Foto von Kahimemua (3.v.l.), kurz vor seiner Hinrichtung. © Basler Afrika Bibliographien
Von Christiane Habermalz |
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1896 wird in der Kolonie Südwestafrika der Chief Kahimemua Nguvauva von Deutschen hingerichtet. Sein Gürtel, der bis heute große Bedeutung für seine Landsleute hat, verschwindet. Liegt er in einem deutschen Museum? Unsere Autorin begibt sich auf Suche.
Epukiro, Ostnamibia, Januar 2020: Wir sitzen auf einer staubigen Tribüne mitten in der Omaheke-Region, 300 Kilometer von der namibischen Hauptstadt Windhoek entfernt. Um mich herum wird seit Stunden gefeiert und gesungen. Ich bin als Ehrengast geladen, während die Volksgruppe der Ovambanderu ihre traditionelle Gedenkzeremonie abhält zu Ehren ihres großen Chiefs, des 2008 verstorbenen Munjuku II. Nguvauva.
Die Männer in Uniformen, grasgrüne Manschetten, grüne Abzeichen. Die Frauen in ihrer traditionellen Kleidung – lange, grüne wilhelminische Kleider mit preußisch korrekten vier Unterröcken und den typischen breiten Hüten der Herero-Frauen, die den Hörnern von Ochsen nachempfunden sein sollen. Auch sie in grasgrün, der Farbe der Ovambanderu. Sie werden den Herero zugerechnet, legen aber Wert auf ihre Eigenständigkeit. Die Herero tragen rot, die Ovambanderu grün.
Lost in translation. Es ist sehr heiß, ich schwitze in meinem grünen Kleid, das ich mir extra für diesen Anlass von meiner Berliner Nachbarin ausgeliehen hatte. Neben mir sitzt, in Paradeuniform und dicker Fellmütze, der aktuelle Herrscher der Mbanderu-Community: Honourable King Kilus Munjuku III. Nguvauva.

Als die Deutschen den Gürtel raubten

Wie bin ich hierher gekommen? Das ist eine lange Geschichte. Eine, die für mich ganz profan anfing, in einer Berliner Kneipe vor zweieinhalb Jahren. Für die Ovambanderu aber reicht sie viel weiter zurück, bis zu Ereignissen, die sich vor 123 Jahren zugetragen haben. In Teilen genau hier, an diesem Ort, in den trockenen Buschlandsteppen entlang des Epukiroflusses.

Im September 2017 berichtete ich als Journalistin über die Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und der Regierung von Namibia über den Völkermord an den Herero und Nama – und hatte mich verabredet mit einer Delegation von Herero-Vertretern, die sich gerade zu einer neuen Verhandlungsrunde in Berlin aufhielten.
Frauen der Ovambanderu Community
Autorin Christiane Habermalz (2.v.l.) mit Frauen der Ovambanderu Community.© Deutschlandradio/Christiane Habermalz
Wir essen Gänsekeule mit Rotkohl und sprechen über die Forderungen nach Reparationen und einer offiziellen deutschen Entschuldigung für die begangenen Gräueltaten. Mit dabei: Freddy U. Nguvauva, Vertreter der Volksgruppe der Ovambanderu. Als ich ihn frage, ob sich ihre Entschädigungsforderungen an die Deutschen auch auf die Rückgabe von Kulturgütern bezögen, erzählt er mir eine erstaunliche Geschichte. Seine Familie, sein Volk, sagt er, suche noch immer nach dem Gürtel seines Ururgroßvaters, Kahimemua Nguvauva.
"Es war ein sehr historischer Gürtel, ein heiliger Gürtel. Er wurde nur vom Herrscher an seinen jeweiligen Nachfolger weitergegeben. Mein Ururgroßvater Kahimemua trug diesen Gürtel. Er wurde 1896 in Okahandja von den Deutschen hingerichtet, und die Deutschen haben den Gürtel mitgenommmen."
Wo, frage ich ihn. Wo soll dieser Gürtel sein? In einem Museum? Und wie sah er genau aus? Das wisse er leider nicht, sagt Freddy.
"Ich würde sehr gerne irgendwann wissen, wo er ist. Weil, es ist ein sehr, sehr wichtiges Objekt. Es wird gebraucht. Wenn wir es zurückbekämen, bin ich sicher, könnte es die Würde in unserer Community wiederherstellen."

Ein Nationalheld und Widerstandskämpfer

Ein heiliger Gürtel, der vor über 120 Jahren geraubt wurde – und der die Würde der Ovambanderu wiederherstellen könnte? Ich google und stelle fest: Freddys Ururgroßvater Kahimemua Nguvauva ist in Namibia eine legendäre historische Figur, ein Nationalheld, dem auf dem Heldenacker bei Windhoek ein Gedenkstein errichtet wurde. Ich lese:
"Kahimemua Nguvauva hat sich im Mai 1896 zusammen mit dem Herero-Führer Nikodemus Kavikunua den Deutschen in den Weg gestellt, die sich im Herero-Land immer weiter ausbreiteten. Doch der Aufstand misslang. Am 12. Juni 1896 wurden er und Nikodemus auf Befehl von Theodor Leutwein, dem Oberkommandierenden der Schutztruppen in Deutsch-Südwestafrika, als gefährliche Aufrührer standrechtlich erschossen."
Autorin Christiane Habermalz im Gespräch mit Kilus Munjuku III. in Epukiro in Ostnamibia.
Kilus Munjuku III. fordert: Wird der Gürtel gefunden, soll er auf jeden Fall zurückgegeben werden.© Christiane Habermalz
Das war vor über 120 Jahren – fast acht Jahre vor dem großen Aufstand der Herero und Nama gegen die Deutschen! Was ist aus dem magischen Gürtel geworden? Sollte er tatsächlich noch irgendwo in Deutschland zu finden sein?
Ich lese in den Lebenserinnerungen von Theodor Leutwein "Elf Jahre Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika". Dem Aufstand von 1896 widmet er ein ganzes Kapitel. Anders als sein Nachfolger Lothar von Trotha stand Leutwein für eine gemäßigte Linie der Unterwerfung der Eingeborenen. Keine exzessive Anwendung militärischer Gewalt. Stattdessen: Divide et impera – teile und herrsche. Leutwein nutzte Streitigkeiten und Rivalitäten zwischen den afrikanischen Volksgruppen aus, um sich Verbündete zu schaffen und ihre Anführer in Abhängigkeit zu bringen. So auch den Herero-Anführer Samuel Maharero, mit deutschem Diktum zum Paramount-Chief, zum "Oberhäuptling", ernannt. Und den Nama-Chief Hendrik Witbooi, den er nach langen Kämpfen in einen Schutzvertrag mit den Deutschen gezwungen hatte.
Nur acht Jahre später würden beide, bedrängt durch die Rinderpest und die zunehmende Vertreibung von ihren angestammten Weidegebieten, selber den Deutschen den Krieg erklären. Doch jetzt, 1896, standen sie mit ihren Leuten auf der Seite Leutweins, gegen ihren alten Rivalen Kahimemua. Wie ernst Leutwein die Gefahr durch den Ovambanderu-Aufstand nahm, geht aus einem Bericht an seine vorgesetzte Behörde hervor.
"Wenn ich noch einmal auf den Verlauf des Krieges zurücksehe, so muss ich sagen, dass er ein ungewöhnlich glücklicher gewesen ist. In dem für uns ungünstigsten Momente losgebrochen, schien der Aufstand das Schutzgebiet an den Rand des Abgrundes zu bringen, zumal in den ersten Anfängen nicht zu übersehen war, welche Ausdehnung er gewinnen würde. Indes gelang die Lokalisierung und damit war die größte Gefahr beseitigt."

Liegt der Gürtel auf irgendeinem Dachboden in Deutschland?

Meine ersten Recherchen in Archiven und Bibliotheken sind wenig erfolgreich. Ich durchforste auf gut Glück Kataloge und Museumsbestände. Es gibt viele Bekleidungsstücke von Herero in den völkerkundlichen Sammlungen: Hauben, Stirn- und Halsbänder, aber keine Gürtel. Wo also beginnen? Etwa 50 völkerkundliche Museen gibt es in Deutschland. Mit wahrscheinlich um die zwei Millionen Objekten. Und wer weiß, ob nicht irgendein einfacher Schutztruppler den Gürtel als persönliche Erinnerung an den Krieg mitgenommen hat? Dann liegt er womöglich auf irgendeinem Dachboden in Hessen oder Niedersachsen oder ist längst verloren.
Ich rufe Larissa Förster an. Sie ist Ethnologin an der Humboldt-Universität und erfahrene Provenienzforscherin. Normalerweise läuft das in den Museen so: Man hat ein koloniales Objekt und versucht herauszufinden, wo es herkommt, und ob es möglicherweise unrechtmäßig entwendet wurde. Schon das ist schwierig genug und oft unmöglich zu beantworten.
Aber was ist, wenn es andersherum ist? Wenn es gar keinen Gegenstand gibt? Nur eine Leerstelle in einer afrikanischen Community, eine starke Erinnerung daran, dass einem etwas sehr Wichtiges genommen wurde? Ein Gefühl des Verlustes, das sich über Generationen gehalten hat?
Wie findet man ein Objekt, von dem man noch nicht einmal weiß, wie es aussieht, frage ich Larissa Förster am Telefon. Sie lacht erstmal laut – und sagt: Aussichtslos!
Aber sie gibt mir einen Tipp, wen ich fragen könnte. Der Mann weiß alles über deutsch-namibische Geschichte. Er ist Experte für mündliche Überlieferungen und traditionelle afrikanische Kulturen. Wenn es jemanden gibt, der einen magischen Gegenstand aufspüren kann, dann er. Er sitzt in einem Archiv in Basel. Sein Name ist Dag Henrichsen.
"Du weißt, dass es ein Foto von Kahimemua gibt?! Das haben wir lange auch nicht gewusst. Aber vor ein paar Jahren haben wir, ich meine über ein Berliner Auktionshaus, nein, das war über Ebay sogar, glaube ich, haben wir ein Foto ersteigert. In enger Zusammenarbeit mit dem Nationalarchiv in Windhoek, weil wir wie vom Schlag getroffen waren, dass es ein Foto von Kahimemua gibt."

Kahimemua: Es gibt ein Foto von ihm!

Ich starre das Bild an. Es zeigt einen müden alten Mann mit Hut, umringt von deutschen Soldaten. Wir sitzen in seinem kleinen Büro im BAB, den Basler Afrika Bibliographien. Dag ist selber Deutsch-Namibier, in Swakopmund geboren. Natürlich ist ihm Kahimemua und der Krieg von 1896 ein Begriff – und das erste, was er mir zeigt, ist diese alte Schwarz-Weiß-Aufnahme. Sie ist gestochen scharf und zeigt Kahimemua und Nikodemus kurz nach ihrer Verhaftung. Beide tragen westliche Kleidung, alte, abgewetzte Anzüge mit Hüten. Nikodemus, der Jüngere, schaut fast betreten in die Kamera. Kahimemua, der Ältere, wirkt abgeklärt. Er ist in einen langen staubigen Ledermantel gehüllt, die Hände in den Taschen vergraben.
"Während Nikodemus ja diese fast schon demütige Haltung, die gefalteten Hände zeigt…" – "Ja, der wirkt fast wie so ein ertappter Pennäler." – "Während Kahimemua ja weiterhin eine Souveränität ausstrahlt. Und ich finde, das drückt sich just darin aus, dass er die Hände in den Manteltaschen belässt. Und zugleich diese fast legere Haltung von dem Kahimemua. Sie hat auch was kolossal Abschätziges."
Unwillkürlich suche ich nach einem Gürtel. Aber da ist keiner zu sehen. Rechts und links posieren stolz vier deutsche Soldaten, auch sie staubig, in voller Montur, Gewehr bei Fuß. Am rechten Bildrand liegt eine abgelegte Militärmütze. Des Fotografen?
Ein Foto als Trophäe. Bis vor Kurzem war Kahimemua Nguvauva noch eine Legende aus grauer Vorzeit. Aber jetzt gibt es da ein Gesicht. Es ist das Gesicht eines alten Mannes, der weiß, dass er am Ende seines Weges angekommen ist. Ein würdevolles Gesicht, das mich nicht mehr loslassen wird. Wer war Kahimemua? Ein Aufrührer? Ein Politiker? Ein Visionär? Wie kam es überhaupt zu dem Krieg 1896, frage ich Dag.
"Die deutsche Kolonialverwaltung versuchte, im östlichen Namibia die Südgrenze durchzusetzen, also die dortige Mbanderu/Herero-Bevölkerung zu zwingen, gewisse Weidegrenzen zu respektieren. Damit letztendlich der Versuch, den politischen Einfluss auch von Kahimemua und der Mbanderu in dieser Region drastisch zu beschränken. Und dagegen rebellierte Kahimemua."
Die Deutschen, erklärt Dag, warfen Kahimemua vor, am Schmuggel mit Gewehren und Munition beteiligt zu sein, deren Verkauf an Afrikaner sie zu unterbinden versuchten.
"Hinzu kommt, dass Kahimemua gegenüber Samuel Mahahero, der auf die Legitimation durch die deutsche Kolonialverwaltung angewiesen war, eine kritische Position einnahm. Und damit ergaben sich zahlreiche Ereignisse und Dynamiken, die dazu führten, dass es zu dieser militärischen Auseinandersetzung kam, und damit zum ersten wesentlichen Widerstand durch einen wesentlichen Mbanderu/Herero-Führer gegenüber der deutschen Kolonialarmee."

"Kahimemua starb mutig"

Am 6. Mai 1896 kam es bei Otjunda – zu Deutsch: Sturmfeld – zum Gefecht. Die Mbanderu kämpften tapfer. Viele wurden getötet, mehrere seiner Söhne fielen. Kahimemua selber wurde verwundet und flüchtete. Einige Wochen später wurde er von den Truppen aufgestöbert und ergab er sich kampflos den Deutschen. Am 11. Juni wurden er und Nikodemus in Okahandja, dem traditionellen Sitz von Samuel Maharero, von einem deutschen Kriegsgericht zum Tode verurteilt.
"Die gerichtliche Untersuchung über die Ursachen und Urheber des Aufstands wurde durch Assessor von Lindequist geführt. Nikodemus selbst leugnete alles. Kahimemua beschönigte nichts. Angesichts dieses zweifellos mildernden Umstandes sowie seines offenen Geständnisses würde ich Kahimemua gerne begnadigt haben, jedoch sprach sich Samuel entschieden dagegen aus. Infolgedessen wurden in Vollziehung des gefällten Urteils die beiden Führer am 12. Juni erschossen. Kahimemua starb mutig, Nikodemus dagegen als Feigling, vor Angst schon halbtot, als er zum Richtplatz geführt wurde. Theodor Leutwein: Elf Jahre Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika."
Grabstein
Die Geschichte von seinem heldenhaften Tod wird nach wie vor weiter erzählt: Grabstein von Kahimemua Nguvauva.© Deutschlandradio/Christiane Habermalz
Auf der Rückfahrt von Basel nach Berlin schicke ich Freddy Nguvauva in Windhoek eine WhatsApp. Was wissen die Mbanderu-Historiker noch über Kahimemuas Hinrichtung, frage ich. Und gibt es wirklich keine Überlieferungen darüber, wie der Gürtel aussah? Irgendetwas, was mir bei der Suche helfen könnte?
Er antwortet, dass er in zwei Wochen nach Epukiro in die Omaheke-Region fahre, dem Siedlungsgebiet der Ovambanderu. Da sei auch das Büro der traditionellen Stammesverwaltung. Er werde die Ältesten nach dem Gürtel fragen. Und dann erzählt er mir noch eine Geschichte. Sein afrikanischer Vorname, schreibt Freddy, sei Ueriurika. Der Name beziehe sich auf seinen Ururgroßvater. Er bedeutet "Der, der zeigte, wie er getötet werden sollte".
"Auf Kahimemua, so heißt es in den Überlieferungen der OvaMbanderu, sind vom Erschießungskommando der Deutschen elf Kugeln abgefeuert worden. Er war schwer verletzt, doch er konnte nicht sterben. Da riss er sich die Binde von den Augen und zeigte auf seine Stirn. Wisst ihr nicht, wie man einen Bullen tötet? Da müsst ihr hin schießen, wenn ihr mich töten wollt. Und er verlangte, dass es jemand von Rang tun müsse, denn er sei ein König. Da nahm einer der deutschen Offiziere sein Gewehr und schoss ihm in die Stirn. Endlich starb er. Zwölf Kugeln brauchte es, um ihn zu töten. Er fiel nach vorne in den Sand, und seine Hände krallten sich in die Erde seiner Vorfahren. Ueriurika, der, der zeigte, wie er getötet werden sollte. Als Kahimemua den letzten Atemzug getan hatte, hörten alle ein dumpfes Donnergrollen, ohne dass eine Wolke am Himmel zu sehen war. Zugleich begannen alle Hühner, Ochsen und Kälber zu schreien und zu klagen. Alle wussten nun: Kahimemua ist tot. Nachdem dies alles geschehen war, kamen die Leute zu Samuel Maharero und fragten ihn: Warum hast du solch einen Mann töten lassen? Er war ein Prophet des Landes. Nun wird er Unglück über unser Land bringen."
Nachtrag: Nikodemus hatte sehr große Angst gehabt zu sterben. Deswegen bat Kahimemua darum, Nikodemus zuerst zu erschießen, damit er Kahimemuas Hinrichtung nicht mit ansehen müsse und noch mehr Angst bekäme. Und das taten die Deutschen. So schrieb es Freddy mir auf WhatsApp. Über 120 Jahre alte Überlieferungen per Kurznachricht. Ich hätte auch große Angst gehabt auf diesem steinigen Hügel im Südwesten Afrikas.

Handelt es sich beim heiligen Gürtel um Ahnenschnüre?

Theodor Leutwein, der Mann mit dem Kaiser-Wilhelm-Bart, Oberkommandierender der deutschen Schutztruppe, wurde in Anerkennung seiner Leistung bei der Niederschlagung des Aufstandes der Mbanderu zum Gouverneur von Deutsch-Südwestafrika befördert.
Dag Henrichsen hat eine Theorie: Er glaubt, dass es sich bei dem vermissten magischen Gürtel möglicherweise um etwas ganz anderes gehandelt hat: Um "Omuvia Omurangere", sogenannte Ahnenschnüre. Er habe demnächst in Berlin zu tun, dann würde er mir mehr erzählen.
Was sind Ahnenschnüre, frage ich ihn, als er mich ein paar Wochen später in Berlin besucht. Er hat ein altes Buch dabei: "Die Herero", veröffentlicht im Jahr 1906 von Jakob Irle, einem Missionar der Rheinischen Missionsgesellschaft. Irle hat sich, wie viele Missionare, für den Schutz der Herero eingesetzt und sich auch für ihre Kultur und Religion interessiert. Die Ahnenschnüre, so beschreibt es Irle, gehörten – neben den Utensilien für das heilige Feuer und die Kalebassen und Milchgefäße der heiligen Kuh des Stammes – zu den sakralsten Objekten der Herero und der Mbanderu. Sie stellten die Verbindung zu den Ahnen dar. Dag blättert.
"Bei Erbrecht, Erbteilung… hier. Hier heißt es dann, das ist die Ahnenschnur. Also das ist, sozusagen, Geschlechter, Registerriemen, das ist also die Schnur, der Riemen, vielleicht der Gürtel, der sozusagen mittels Knoten die Familienmitglieder physisch repräsentiert." – "Und der wurde um die Hüfte getragen?" – "Genau. Und ist Teil anderer Gegenstände, die von dem Familienoberhaupt gehütet, bewahrt, und genutzt wurden."
Gibt es solche Ahnenschnüre in deutschen Museen? Seines Wissens nicht, sagt Dag. Denn diese heiligsten Gegenstände wurden selbst vor den Missionaren geheim gehalten. Nur ein einziges Mal sei es Irle gelungen, in den Besitz eines Ahnenriemens beziehungsweise Ahnenstäben zu gelangen: Als sich ein greiser Herero-Chief im hohen Alter doch noch zum Christentum bekehren ließ und ihm die sakralen Gegenstände seines Volkes aushändigte. Diese Objekte würden, soweit er informiert sei, bis heute von der Vereinten Evangelischen Mission in Wuppertal aufbewahrt.

Kahimemua ahnte, was kommen würde

Dag hat noch etwas anderes mitgebracht. 1966 war der deutsche Theologe Theo Sundermeier von der Führung der Mbanderu gebeten worden, ihre bis dahin nur mündlich überlieferte Geschichte aufzuzeichnen, was er tat und in einem Buch veröffentlichte. In den Tagen vor dem Gefecht von Otjunda besuchte Kahimemua das Grab seines Vaters, heißt es dort. Zuvor hatte er alle, die ihm nicht folgen wollten, von ihren Treuepflichten entbunden und sie, wie auch die Frauen und Kinder, fortgeschickt. Er hatte die Heilige Kuh schlachten lassen und die sakralen Geräte seines Stammes verbrannt. Und dann heißt es:
"Kahimemua hatte ein langes omuvia omurangere, einen sogenannten Familienriemen mit vielen Knoten. Als die Kinder die Nachricht brachten, die Feinde kämen – es war ein Tag vor dem Überfall – löste er alle Knoten des Riemens auf. Während er sie auflöste, nannte er alle Krale mit Namen, die auf diese Weise vernichtet wurden. Zum Schluss waren noch die Knoten seiner zwei Brüder und die seiner eigenen Söhne übrig. Bevor er sie losmachte, fragte er erst, ob er sie lösen solle. Auch seine drei Söhne gaben ihre Zustimmung. Alle waren in diesem Augenblick zugegen. Aber als sein Sohn Nikodemus – eigentlich sein Neffe – an die Reihe kam und schon sein Ja gesprochen hatte, sagte Kahimemua: Nein, deinen Knoten werde ich nicht lösen, denn du sollst nicht getötet, sondern nur verwundet werden. Du wirst in ein fremdes Land ziehen, doch wenn alles hier still geworden ist, wirst du in unser Land zurückkommen. Danach warf Kahimemua den Riemen ins Feuer, sodass er verbrannte."
Er verbrannte den Riemen! Ist damit unsere Suche nach dem Gürtel zu Ende? Nach diesem Narrativ ja, antwortet Dag Henrichsen. Ich bin irgendwie enttäuscht – und zugleich fasziniert von der Poesie und der Kraft, aber auch der Dramatik der Erzählung.
"Aber auch kolossal hart und tragisch. Zugleich, das sagt natürlich auch etwas über Kahimemua aus. Als eine Figur, die in sich eine kolossal tragische Konsequenz im Umgang mit diesem deutschen Kolonialismus aufweist."
Anders als die anderen Stammesführer, die versuchten, mit den Deutschen Abkommen zu schließen, ihnen auch Land und Rinder verkauften, hatte Kahimemua das Wesen des deutschen Kolonialismus erkannt – mit seinem zutiefst rassistischen und absoluten Herrschafts- und Besitzanspruch, der schon wenige Jahre später das gesamte Land und seine Bewohner verschlingen würde.

War das sakrale Objekt ein Patronengürtel?

Ein paar Monate später sitze ich im ICE nach Braunschweig. Denn die Suche nach dem Gürtel des Kahimemua hat eine neue, überraschende Wendung genommen.
Freddy Nguvauva hatte mich angerufen. Der frühere Leiter des namibischen Nationalarchivs in Windhoek, Werner Hillebrecht, ist auf eine neue Spur gestoßen. Ausgerechnet in dem Buch eines alten Nazis.
Hans Grimm heißt der Autor. 1926 wurde er in der Weimarer Republik mit dem Roman "Volk ohne Raum" schlagartig berühmt. Darin lieferte er den Nationalsozialisten die Formel und die Vorlage für ihre spätere Expansionspolitik. Grimm war Kolonialrevisionist, hatte selbst lange in Deutsch-Südwestafrika gelebt. 1929 schrieb er "Das Deutsche Südwester-Buch", das die Abenteuer und die Lebensgeschichte des Kaufmanns Gustav Voigts nacherzählt und das im Deutschen Reich sehr populär war.
Die Voigts-Brüder waren früh nach Deutsch Süd-West ausgewandert und Gustav Voigts hatte 1892 in Windhoek ein Handelshaus gegründet, das mit den Herero regen Handel trieb: Vieh gegen westliche Kleidung, Töpfe, Spaten, Alkohol oder Gewehre. Er lernte ihre Sprache, interessierte sich für ihre Kultur. Das hinderte ihn nicht, 1896 als Reserveoffizier ohne zu Zögern mit den deutschen Truppen gegen die aufständischen Mbanderu zu ziehen.
In einer Passage des Grimm-Buches erzählt Voigts von der Gefangennahme Kahimemuas:
"Kahimemua wurde den Epukiro entlang verfolgt. Dann kam die Nachricht, er säße unentschlossen auf Omukuvaru. Er wurde dort umstellt und ohne Schuss gefangengenommen. Mit ihm stellte sich der Rest der aufständischen Khauas-Hottentotten. Sobald Kahimemua Leutweins ansichtig wurde, murmelte er: Hinao ondjo. Das heißt: Ich habe keine Schuld. Er sagte sonst nichts. Leutwein überwies ihn mir. Ich nahm ihm Gewehr und Patronengürtel ab. Beides hängt im Braunschweiger Museum."
Also doch keine Ahnenschnüre? Das heilige, sakrale Objekt ein schnöder Patronengürtel?

Die Spur führt nach Braunschweig in ein Museum

Werner Hillebrecht hatte von Windhoek aus schon vor Jahren versucht, wegen dieser Passage in Grimms Buch mit dem Museum in Braunschweig Kontakt aufzunehmen – doch zurück kam nur eine dürre Mail, man sehe sich aus Zeitmangel gerade nicht in der Lage, dem nachzugehen. Die Kolonialzeit stand noch nicht sehr im Fokus der Öffentlichkeit.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Als ich jetzt als Journalistin noch mal offiziell nachfrage, ruft mich der neue Direktor Peter Joch sofort zurück und lädt mich nach Braunschweig ein. Hat das Museum den Patronengürtel gefunden?
"Leider nicht. Wir haben immer wieder nachgeforscht. Und wenn wir der Geschichte nachgehen, sehen wir, dass im Bestandskatalog, der 1968 erstellt wurde, der afrikanischen Sammlung im Städtischen Museum Braunschweig, dieser Gürtel nicht erwähnt ist. Alle anderen Objekte, die mit Gustav Voigts zusammenhängen, sind aufgelistet, aber nicht dieser Patronengurt. Leider!"
Auch vom Gewehr keine Spur. Enttäuschend. Doch was man gefunden habe, sagt Joch, sei die Original-Karteikarte, die belegt, dass der Gürtel einmal hier gewesen ist. Er hat mir Kopien gemacht. Unter der Objektnummer A III c. 172 steht:
"Lederner Patronengürtel, dem aufständischen Häuptlinge der Ovambandyeru, Kahimemua, von Herrn Gustav Voigts 1896 abgenommen."
Und dann, doppelt unterstrichen: "Eigentum von Gustav Voigts in Windhoek."
Auch eine persönliche Erklärung von Voigts ist zu den Akten genommen worden: "Und gesagt ist hier: Der im Mai 1896 dem aufständischen Häuptling der Ost-Herero/ der Banderu, Kahimemua, in Omukuvaru am Epukirofluss gefangen genommen wurde, wurde ich beauftragt, diesen Häuptling zu entwaffnen, wobei ich ihm diesen Patronengurt abnahm. Dieser Gürtel ist von Eingeborenen angefertigt."

Suche im Museumsdepot

Wow. Das ist die erste konkrete Spur! Der Gürtel des Kahimemua – ein Gürtel des Kahimemua war hier. Aber – wo ist er jetzt? Der Eigentumsvorbehalt, der Gustav Voigts so wichtig war, könnte darauf hinweisen, dass er das Objekt möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt wieder an sich genommen hat, vermutet der Braunschweiger Museumsleiter Peter Joch.
"Das war wohl augenscheinlich eine besondere Geschichte für Voigts, dass er den Häuptling überwältigte und ihm den Patronengurt abnahm. Das war so eine Triumphatorgeste natürlich. Der hat den entwaffnet! Das kann also gut sein, dass der mal zurückgegeben wurde, das ist leider nicht dokumentiert auf den Karteikarten. Jedenfalls haben wir das Depot auf den Kopf gestellt. Wir haben geguckt, wo es aus Versehen noch hätte hin geräumt werden können, aber da war leider nichts zu machen."
Es gibt aber noch etwas: Im Stadtarchiv findet sich ein Artikel aus der Braunschweiger Landeszeitung, vom 5. Juni 1898, der froh verkündet:
"Herr Gustav Voigts aus Meerdorf, jetzt in Windhoek in Deutsch-Südwestafrika ansässig, schenkte hochinteressante Waffen, Bekleidungs-, Schmuck- und Gebrauchsgegenstände der Hereros und der Hottentotten. Darunter befindet sich auch der Patronengürtel Kahimemuas, des Häuptlings der Ovabandyeru, die sich 1896 gegen die deutsche Herrschaft auflehnten, aber nach hartem Kampfe niedergerungen wurden. Herrn Voigts, der an jenen Kämpfen mit Auszeichnung teilnahm, gelang es, den erwähnten Häuptling gefangen zu nehmen. Und jener Patronengürtel ist uns daher ein schönes Andenken an die tapfere Tat eines Braunschweigers in den fernen Gegenden des schwarzen Erdteils."
So schnell entstehen Heldenlegenden, denke ich. Bald wird der Kaufmann Gustav Voigts den wilden Häuptling mit seinen nackten Händen niedergerungen haben.
Freddy ist begeistert von den neuen Nachrichten. Das ist der Beweis, dass die Erinnerungen seines Volkes nicht trügen. Der Gürtel hat existiert und er war einmal in Deutschland. Aber ist das wirklich der heilige Gürtel, nachdem ihr sucht, frage ich ihn. Ein schnöder Patronengürtel? Freddy ist sich sicher. Und auch Werner Hillebrecht erklärt:
"Waffen, alles, was mit Waffen zusammenhängt, hatte eine große Bedeutung und hat es bis heute. Ja, bis heute sind die Uniformen ein wichtiger Bestandteil des Zeremoniells. Und der Patronengürtel ist ja nach Angaben von Gustav Voigts im Lande hergestellt, also kein importiertes Utensil. Und dass das dann auch eine rituelle Bedeutung gehabt haben kann, dass also der Vater seinem Sohn diesen Gürtel übergibt als Zeichen seiner Würde, das ist sehr gut vorstellbar."
Für die Ovambanderu bedeutete der verlorene Krieg gegen die deutschen Kolonialherren und der Tod ihres Häuptlings vor 120 Jahren, der ja auch spiritueller Führer war, eine Katastrophe. Sie verloren ihre Identität, ihr Land, und – für sie am verheerendsten – ihre Rinderherden, einzige Einkommensquelle und Grundlage ihrer Kultur und Religion. Kahimemua besiegelte den Untergang, indem er die sakralen Objekte verbrannte. Der geraubte Patronengürtel – vielleicht stand er symbolisch für alles, was den Ovambanderu genommen wurde.
"Die Ausbeute des Sieges war groß. Sie bestand in einer Menge Gewehre, sechs Wagen, 3000 Stück Vieh und zahlreichen Gefangenen, aber diese meist Weiber und Kinder. Vom Gegner wurden 40 Tote gefunden, darunter ein Bruder und zwei Söhne Kahiumemuas und drei Söhne Kahikaetas."
Theodor Leutwein nach der Schlacht von Otjunda.

Tausende wurden getötet

Nach der Hinrichtung Kahimemuas schickte Leutwein eine 100-köpfige Expedition unter Major Müller los, um als Ersatz für die verschossene deutsche Munition auch noch das restliche Vieh der aufständischen Volksgruppen einzutreiben. Es wurde meistbietend an die deutschen Siedler versteigert, auch die verbündeten Hereros bekamen ihren Teil.
Die Mbanderu, insbesondere die Familienmitglieder Kahimemuas, wurden noch lange verfolgt. Viele flohen, völlig verarmt, nach Botswana, darunter auch Nikodemus Nguvauva, der überlebende Sohn Kahimemuas. Die, die blieben, verloren ihre Unabhängigkeit als Stamm, sie wurden von den Deutschen Samuel Mahahero unterstellt und galten fortan als Hereros. Als solche wurden sie acht Jahre später zum zweiten Mal Opfer – Opfer des deutschen Völkermords, nachdem Samuel Mahahero seine Gefolgschaft den Deutschen gegenüber aufgekündigt und sich nun selber gegen die Deutschen erhoben hatte.
Die Reaktion der deutschen Kolonialtruppen war maßlos. Tausende wurden getötet, Zehntausende zum Verdursten in die Omaheke-Wüste getrieben, wer überlebte – Männer, Frauen und Kinder - wurde in Konzentrationslagern interniert, die nur die wenigsten nach Jahren lebend verließen.
Ab 1907 war den Afrikanern, mit Ausnahme der Ovambo im Norden und der sogenannten Rehoboth-Bastarde, der Besitz von Land und Großvieh verboten. Ihnen blieb nichts anderes, als sich als Farmarbeiter bei den Weißen zu verdingen. Das Ziel, das Leutwein schon früh als Grundlage eines prosperierenden Deutsch-Südwestafrikas formuliert hatte, war erreicht:
"Dass ‚die ganze Zukunft der Kolonie in dem allmählichen Übergang des Landes aus den Händen der arbeitsscheuen Eingeborenen in diejenigen der Europäer begründet liegt.‘"
Ich lese noch ein bisschen in Hans Grimms Südwester-Buch. Das Ende des freien Herero-Volkes, der Tod der Tausenden im Durstfelde, habe daheim in Deutschland ja vor allem von manchen Nicht-Kennern der Verhältnisse Anklagen hervorgerufen, schreibt er verächtlich. Aber, sinniert der spätere "Volk ohne Raum"-Autor:
"Ob ein neuer Kompromiss nicht bei Gelegenheit zu neuen Kämpfen und Morden geführt hätte? Ob ein Land, das durch sein Klima für ein weißes Volk und weiße Arbeit geeignet ist, nicht endlich leichter weißes Arbeitsland wird, so schwer der Schritt ist, wenn die farbige Unterrasse fehlt oder weniger zahlreich ist? Wo der weiße Arbeiter Zukunft finden will und kann und wird, muss zunächst der ‚Neger‘ mit seinen Feudalsystemen weichen, entweder im Guten oder im Bösen. Der weiße Arbeiter ist mehr wert als jede Romantik eines ‚Negerkönigs‘ und ‚Negerhäuptlings‘." (Hans Grimm: Das deutsche Südwester-Buch. 1929)

Die einstigen Kolonialherren – noch heute Großgrundbesitzer

Wenn der Gürtel im Besitz der Voigts-Familie ist, die bis heute in Namibia lebt – wie können wir da herankommen? Könnte schwierig sein, vermutet Werner Hillebrecht.
"Man muss erst mal die Nachkommen ausfindig machen. Schon in der deutschen Kolonialzeit waren drei Gebrüder Voigts ausgewandert, und soweit ich weiß, haben alle Nachkommen gehabt, die jetzt teilweise auch nicht mehr Voigts heißen." – "Ist doch eine der reichsten Familien in Namibia, oder?" – "Ja. Wecke und Voigts ist immer noch eine große Handelsfirma mit Filialen in allen größeren Städten. Das kennt jeder."
Und sie besitzt sehr viel Land. 70 Prozent des nutzbaren Weide- und Ackerlandes sind noch immer in weißer Hand. 70 Prozent! Für uns Deutsche ist die Kolonialgeschichte ferne Vergangenheit. Hier sind ihre Folgen noch immer sehr gegenwärtig. Immer wieder gibt es Forderungen nach einer radikalen Landreform in Namibia.
Da hat die Voigts- Familie sicher wenig Interesse daran, mit einer alten Kolonialgeschichte behelligt zu werden, vermuten wir. Doch die Nguvauva-Familie will nur ihren Gürtel zurückhaben. Liegt er in irgendeinem Familienarchiv der Voigts? Oder hängt er als Andenken an einer Wohnzimmerwand?
Freddy, der selber eine kleine Farm in Namibia bewirtschaftet, kennt ein Mitglied der Voigts-Familie vom Viehhandel. Dag Henrichsen in Basel hat ebenfalls Kontakt zu einer Urenkelin von Gustav Voigts, die mittlerweile in Deutschland lebt. Oder soll ich als Journalistin eine offizielle Anfrage stellen?

Ein dunkelbrauner Patronengurt aus Leder

Freddy wendet sich schließlich an das Büro der Geschäftsführung des Unternehmens Wecke und Voigts in Windhoek. Doch der Geschäftsführer Robert Voigts sei auf Reisen und nicht zu sprechen, wird ihm gesagt. Dann passiert, womit wir nicht gerechnet hatten.
Nachricht von Werner Hillebrecht: Der Patronengürtel ist aufgetaucht! Besser: Ein Patronengürtel ist aufgetaucht. Und zwar da, wo er partout nicht zu finden gewesen war. Im Museum in Braunschweig. In einer Schublade im Depot der ethnografischen Abteilung, unter den undokumentierten Objekten.
Ich werde ins Depot geführt… Da liegt er auf einem Tisch, auf Seidenpapier gebettet. Ein alter, dunkelbrauner Patronengurt aus Leder, an dem ein lederner Schultergurt mit einer Schnalle befestigt ist. Handgefertigt, das sieht man an den unregelmäßigen Nähten. Wie auf der Karteikarte beschrieben. Ist er das, der historische Gürtel des Kahimemua? Museumsdirektor Joch ist zurückhaltend.
"Also, die Geschichte war jetzt einfach, dass Herr Hillebrecht bei seinem Besuch ein Objekt entdeckt hat. Das hat er mit Fotografien verglichen von Herero-Patronengurten und hat gesagt: Da gibt es eine bestimmte Ähnlichkeit."
Werner Hillebrecht war zufällig zu einem Museums-Workshop in Niedersachsen und hat die Gelegenheit genutzt, sich im Braunschweiger Depot umzusehen. Die Leiterin der Afrikasammlung, Evelin Haase, zeigte ihm schließlich diesen Gürtel. Früher habe man für einen Gaucho-Gürtel gehalten habe, erklärt sie.
"Das ist hier die Ethnografie, was wir also aus der ganzen Welt haben. Von daher. Es hätte ja auch aus Südamerika stammen können. Und wir haben natürlich auch europäische Sachen hier aus der Braunschweiger Gegend. Wir haben ja da auch Uniformteile. Es hätte also auch sein können, dass eben da eine Vermischung ist. Wie gesagt, wir hatten uns das eben anders vorgestellt."

Das Museum will den Gürtel chemisch und ethnografisch untersuchen lassen. Für die Identifizierung solle auch die Expertise der betroffenen Community einbezogen werden. Sobald die afrikanische Herkunft des Gürtels bestätigt sei, erklärt Museumsleiter Joch, sei man selbstverständlich bereit, ihn zurückzugeben. Fragt sich nur: An wen? An die Familie, die Community der Ovambanderu? Oder an den Staat Namibia, das Nationalmuseum? Immerhin war Kahimemua eine wichtige historische Figur.
Historischer Patronengürtel
Ist dies der historisch so bedeutsame Gürtel? - Das Museum will ihn chemisch und ethnografisch untersuchen lassen. © Christiane Habermalz
Und es gäbe noch ein anderes Problem: der Eigentumsvorbehalt. Rein rechtlich gehört der Patronengurt des Kahimemua den Nachfahren von Gustav Voigts.

Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus

Epikuro, Namibia: Der sogenannte "Palace", der Wohnsitz des derzeitigen Chiefs der Ovambanderu, ist eine Ansammlung von ärmlichen Hütten. In der Mitte ist unter freiem Himmel eine Tribüne aufgebaut. Seit 20 Minuten rede ich, gebe Auskunft über die Recherchen, über den Stand der Dinge. Betone, dass der Gürtel erst noch identifiziert werden müsse, dass weitere Forschungen nötig sind.
Freddy hatte mich mit dem Auto vom Flughafen in Windhoek abgeholt, seine Frau und zwei seiner Töchter sind auch dabei. Sie sitzen auf dem Rücksitz und tippen in ihre Handys. Teenager wie überall. Auf dem Weg hierher fuhren wir eine gefühlte Ewigkeit durch Land, das rechts und links durch Zäune eingefasst war. "Voigts-Land", sagt Freddy. "Sie sind hier die Landbarone. Früher war das alles unser Land, das der Ovambanderu und Herero." Geschichte und Gegenwart des Kolonialismus.
Ich schwitze auf der Tribüne unter meinem grünen Kleid, nicht nur wegen der Hitze. 200 Menschen sitzen auf Stühlen vor uns, nicht alle verstehen Englisch, jedes meiner Worte wird übersetzt. Automatisch muss ich mich hier auch als Deutsche erklären, muss Stellung nehmen dazu, wie mein Land heute mit dem Thema Kolonialismus umgeht. Sehe in die aufmerksamen Gesichter, hier und da ein Nicken, eine gerunzelte Stirn.
Ob die Geschichte der Ovambanderu in Deutschland bekannt ist, wollen viele wissen. Was man sich dort darüber erzählt. Hier ist sie allgegenwärtig. In den vielen Reden, den Gesängen, in den Erzählungen. Eine alte Frau erhebt sich spontan und erzählt von Kahimemua, davon, wie er verhaftet wurde, was alles während seiner Hinrichtung im Juni 1896 geschah. Die zwölf Kugeln, die es brauchte um ihn zu töten. Und von seiner Prophezeiung. Prophezeiung? Davon höre ich hier zum ersten Mal.
"Im Angesicht des Todes sprach Kahimemua alle seine Feinde direkt an, auch Samuel Maharero. Die, die jetzt als Verbündete hier gegen mich stehen, werden sich bald im Streit gegeneinander wenden, sprach er. Du wirst fern deiner Heimat sterben. Und so geschah es. Nur wenige Jahre später begann der Krieg der Herero gegen die Deutschen – und Samuel Mahahero starb einsam im Exil. Auch den anderen Stammesführern an der Seite der Deutschen sagte er ihr nahes Ende voraus. Zu Leutwein aber sprach er: Wie du mein Reich zerstörst, wird auch dein Reich bald zerstört werden. Das konnten sich die Deutschen nicht vorstellen, dass das jemals geschehen könnte. Doch dann wurde Deutschland vernichtet: Erst im Ersten, dann im Zweiten Weltkrieg."

Die Geschichte zweier Länder miteinander verwoben

Ich verstehe erst jetzt, wie sehr unser beider Geschichte verwoben ist. Die Kolonialzeit, bei uns lange vergessen oder verklärt – hier ist sie jeden Tag präsent geblieben. Jeden Tag. Viele haben deutsche Großväter, tragen deutsche Namen – infolge von, zurückhaltend formuliert, unfreiwilliger Begegnungen ihrer Großmütter mit Angehörigen der deutschen Schutztruppen.
Katiti Mbaeva ist 82 Jahre alt. Sein Vater, sagt er, wurde 1887 geboren, als fast Zehnjähriger habe er die Hinrichtung Kahimemuas miterlebt. Ich rechne. Kann das sein? Er habe ihnen in seiner Kindheit immer von dem heiligen Gürtel erzählt, sagt Mbaeva. Er ist überzeugt: Kehrt er nicht zurück, wird das Unglück über die Ovambanderu bringen.
"In unserem Glauben war dieser Patronengürtel von Kahimemua so, als wäre unser ganzes Leben in diesem Gürtel gewesen. Er hat noch immer große spirituelle Macht. Wir beten für seine Rückkehr, damit er wieder für uns lebendig wird."
Was wollt ihr mit dem Gürtel machen, wenn ihr ihn zurückbekommen solltet, frage ich Chief Kilus Munjuku. Er ist der Urenkel von Kahimemua. Assaria Tjozongoro, einer der Stammeshistoriker, übersetzt.
"Die Antwort des Chiefs lautet: Es ist sein Wunsch, dass der Patronengurt zunächst an die Familie zurückgegeben wird, damit sie ihn aufbewahren kann und alle ihn sehen können. Aber er erkennt an, dass sich die Zeiten gewandelt haben. Zu einem späteren Zeitpunkt wird die Community beraten, ob der Gürtel dem Staat übergeben wird, damit er an einem Ort gezeigt wird, wo er für die ganze Nation zugänglich ist."
Ich lausche den Liedern, die von der Vergangenheit erzählen, von Rindern und weiter Landschaft, von Verlust und Schmerz. Und von einem Gürtel. Wie lange kann Erinnerung überdauern? Und welchen Weg geht sie, welchen Veränderungen ist sie unterworfen? Geschichte hat hier wie dort eine Funktion. Sie strukturiert die Welt. Sie hilft, zu überleben. Sie stiftet Identität und sie schafft Legitimität.
Für die Ovambanderu würde die Rückkehr des Gürtels nicht nur eine schmerzhafte Lücke schließen. Er hätte noch eine andere wichtige Bedeutung. Ihre historische Rolle als erste Widerstandskämpfer gegen die Kolonialherrschaft, für die sie einen hohen Preis zahlen mussten und an deren Folgen sie bis heute tragen, würde mit der Restitution des Gürtels endlich eine für alle sichtbare Gestalt annehmen.
Dohunda Morena gehört einer Exilgemeinde an, die erst vor ein paar Jahren zurückgekehrt ist in die alte Heimat.
"Wir haben im Krieg gekämpft, wir sind dort fast umgekommen. Wir mussten fliehen und viele von uns sind auf der Flucht gestorben. Doch jetzt sind wir zurück, einige von uns. Und alles was wir wollen ist, dass dieser Gürtel, den die Deutschen Kahimemua vor seiner Exekution gestohlen haben, und von dem wir wissen, dass er in Deutschland ist, zurückgegeben wird."
Der Gürtel wird gebraucht, sagte mir Freddy vor zweieinhalb Jahren, als wir uns das erste Mal sahen. Noch ist er in Braunschweig, da die wissenschaftlichen Untersuchungen noch nicht abgeschlossen sind.

Auf dem Heldenacker der Ovambanderu

Am Ende der Reise stehe ich mit Freddy vor dem Grab Kahimemuas, auf dem "Heroes- Acre", dem Heldenacker der Ovambanderu in Okahandja. Ein schlichter schwarzer Granitstein im Gestrüpp, mit seinem Namen und seinen Lebensdaten. Daneben ein großer Steinhaufen. Vögel singen. Die Bäume rauschen. Ja, es ist ein heiliger Ort. Hier irgendwo in der Nähe fand auch die Hinrichtung statt. Doch der genaue Ort ist nicht überliefert.
Menschen am Grab des Kahimemua in Okahandja
Mitglieder der Tradional Authority der Ovambanderu-Community am Grab des Kahimemua in Okahandja© Christiane Habermalz
Glaubst du, dass unser beider Geschichten, die der Deutschen und die der Ovambanderu miteinander verbunden sind, frage ich Freddy. Er nickt entschieden, ja, davon sei er zutiefst überzeugt. Es war beileibe lange keine positive Verbindung. Aber es sei kein Zufall gewesen, sagt er, dass Namibia sich im selben Jahr von der Apartheid befreit habe, in dem in Deutschland die Mauer gefallen sei.
"Und jetzt befinden wir uns gerade in Verhandlungen mit der deutschen Regierung. Für mich ist das ein Zeichen in die richtige Richtung. Und letztes Jahr waren wir eingeladen nach Swakopmund, wo wir eine Gruppe von Deutsch-Namibiern getroffen haben, um über die Geschichte zu sprechen. In diesem Frühjahr werden wir wieder hinfahren. Es tut sich etwas. Vielleicht werden nicht mehr wir es sein, aber ich bin sicher, unsere Kinder werden einen Weg finden."
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