Eine differenzierte Betrachtungsweise

Rezensiert von Martin Zähringer |
Frank Sieren lebt seit über eineinhalb Jahrzehnten in Peking. Dort arbeitet er als Dokumentarfilmer. Sieren gilt als einer der führenden deutschen China-Kenner. Das Buch "Angst vor China. Wie die neue Weltmacht unsere Krise nutzt" vermittelt das Bild der Wirtschaftsmacht China.
"Keine Angst vor China" müsste das Buch eigentlich heißen. Denn Frank Sieren, der seit 1994 als Journalist in Peking lebt, hat weder persönlich Angst vor China noch spielt er publizistisch mit ihr, wie es allzu oft die westliche China-Berichterstattung tut. In neun Kapiteln aufwendig recherchiert, vermittelt er vielmehr das Bild einer Wirtschaftsmacht, die sich rational und nachvollziehbar verhält:

"China ist kein Feind, der immer mächtiger wird und uns schließlich überrollt. Das Reich der Mitte ist allenfalls ein Wettbewerber, dem wir uns stellen müssen, wenngleich er zuweilen unerbittlich ist. Vor allem aber ist das Land ein Partner."

Der Wirtschaftsexperte Sieren zeigt diesen Wettbewerber auf dem globalen Parkett sich rasant verändernder Märkte. Dabei interessiert er sich besonders für die chinesische Entwicklungsstrategie. Ein exemplarisches Lehrstück dazu ist das erste Kapitel, eine große Reportage über die Atomwirtschaft in China.

Mit langem Atem plante die KP-China einen langfristigen Austausch mit dem Westen und ließ chinesische Ingenieure unter anderem auch in Deutschland ausbilden. Heute freut sich Siemens, seine Kugelhaufenreaktoren in China absetzen zu können, und ist damit ein besonders gutes Beispiel dafür, wie der deutsche Export auf die asiatische Wirtschaftsmacht angewiesen ist.

Auch im Kapitel über den Flugzeugbau legt Frank Sieren eine erfolgreiche chinesische Strategie offen. Schon Mao Tsetung habe auf Joint Venture, auf gemeinsame Projekte mit ausländischen Partnern gesetzt, weil die eigene Produktion einfach zu schlecht war. Und jetzt steht der staatseigene Luftfahrtkonzern Cormac als dritter Wettbewerber weltweit neben Boeing und Airbus.

"Während wir im Westen uns noch fragen, wie man chinesische Plagiate eindämmen und sich gegen Technologieklau wappnen kann, und während wir noch darüber diskutieren, wann China technologisch auf Augenhöhe ist, wie gut chinesische Ingenieure sind und überhaupt werden können, rollt das neue chinesische Kurzstreckenflugzeug ARJ21 bereits an den Start."

Mittel- und Langstreckenmaschinen sind in Planung, und sie werden kommen. Denn die Chinesen liegen technisch nicht mehr allzu weit zurück. Und um aufzuholen, nutzen sie alle Mittel - beispielsweise die Konkurrenz zwischen mittelständischen westlichen Zuliefererunternehmen, die auch chinesische Abnehmer nicht verschmähen und so für einen Technologietransfer sorgen, wie er einfacher noch nie war. Sieren sieht dies als positive Folge der Globalisierung und kommt zu dem Schluss:

"Angst vor China müssen nur diejenigen westlichen Manager und Unternehmer haben, die die Sogwirkung dieser Entwicklung unterschätzen und glauben, sie lägen nach wie vor uneinholbar vorne."

Seine Kritik an solcher Art Ignoranz belegt Sieren mit der Karriere des Arbeitersohnes Kris. Aus Warren/Ohio stammend, brachte der Amerikaner es zum stellvertretenden Geschäftsführer eines großen Medienberatungsunternehmens in China - und heute finanziert der Gastarbeiter mit seinem hohen Gehalt aus Peking die Familienschulden zuhause in Ohio, wo die traditionsreiche Schwerindustrie mit der chinesischen Konkurrenz nicht mithalten konnte.

In einem weiteren Kapitel geht es kompakt und faktengesättigt um den Wettbewerb auf dem Rohstoffmarkt, insbesondere um die chinesischen Beziehungen zu Iran, Irak, Pakistan und Afghanistan. Frank Sieren entdeckt im Kampf um Einfluss und Ressourcen zwei konkurrierende Strategien am Werk:

Der Westen setzt stärker auf Sanktionen. Also auf Härte und Konfrontation. China betont eher Kooperation, Verständnis und Nachsicht. China bindet ein. Wandel durch Annäherung lautet Pekings Strategie. Die Chinesen neigen also, wie bei der Atomenergie, eher zu einer pragmatischen Ethik im Umgang mit diesen Ländern. Die Amerikaner eher zu einer prinzipiellen. Sie fordern Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung in demokratischen Verhältnissen. Die Chinesen begnügen sich mit Stabilität und Prosperität - unter welcher Regierungsform auch immer.

Das ist recht nüchtern ausgedrückt. Tatsächlich unterlaufen sie die politisch motivierten Sanktionen des Westens in den genannten Ländern. Und Frank Sieren schildert selbst eindrücklich, wie sie derzeit im Irak die westlichen Konzerne erbarmungslos aus dem Markt drängen. Das spricht gegen die These vom "Partner China".

Aber der Journalist in Peking kennt auch die Sicht der Chinesen. Sie durchschauen die offensichtlichen Widersprüche in der Politik des Westens und fragen, wie deutsche Panzerlieferungen an Saudi-Arabien mit dem NATO-Einsatz über Libyen zusammenpassen. Die Sanktionen der Demokraten erscheinen ihnen nicht sehr konsequent, der eigene handelspolitische Pragmatismus dagegen logisch.

Sieren ist daran gelegen, die Perspektiven der Chinesen sichtbar zu machen und gleichzeitig eingefahrene Denkmuster bei uns aufzuweichen. Dazu nutzt er das rhetorische Prinzip der moralischen Einbindung des Lesers:

"Die Jeans kommt mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Reich der Mitte. Sie wurde dort nicht nur genäht, sondern auch gefärbt. Das Wasser unserer Flüsse ist tiefschwarz, sagen die Bauern in der Umgebung von Xintang. Das kommt von der Farbe. Von der Farbe unserer Jeans. Doch so weit reicht unser Gewissen nicht. Es reicht, um China anzuklagen, aber nicht, um uns zu unserer Verantwortung zu bekennen. Unserer Verantwortung für die Flüsse von Xintang zum Beispiel."

Und über die Flüsse kommt der Autor zur Konfliktregion Tibet. Dort sei China präsent, weil es das tibetische Wasser brauche, um Waren preiswert in großen Mengen herzustellen, eben auch die von uns nachgefragten Jeans.

Wie Frank Sieren schreibt, hat das auch der Dalai Lama erkannt, indem er an die geostrategische Bedeutung des Wassers erinnert und Peking mahnt, als verantwortungsvoller Akteur einer multipolaren Weltordnung müsste sich China der Tatsache stellen, dass tibetisches Wasser eine natürliche Ressource für alle Anrainer darstelle und geteilt werden müsse. Wenn Peking das einsieht, müsste sich der Griff um Tibet eigentlich lockern.

Nun zeigt das Beispiel Irak, dass China derzeit andere Prioritäten in Energie- und Rohstoffragen setzt. Ob es sich dem Westen im internationalen Geschäft als Partner anbietet, wird sich erst noch erweisen. Angst vor China aber, da ist dem Autor zuzustimmen, ist die falsche Reaktion auf Pekings Einfluss und Politik. Frank Sieren verhilft zu objektiven Einschätzungen, weil er gängige Klischees mit einer journalistisch differenzierten Betrachtungsweise beantwortet. Von ihr ist viel zu lernen.

Frank Sieren: Angst vor China.Wie die neue Weltmacht unsere Krise nutzt
Econ Verlag, Berlin 2011
Buchcover: "Angst vor China" von Frank Sieren
Buchcover: "Angst vor China" von Frank Sieren© Econ Verlag
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