Eine Frage der Ehre

Von Rolf Schneider · 28.12.2009
Wir benutzen Eigenschaftsworte wie ehrbar und ehrpusselig, ehrlich und unehrlich. Die zwei ersten sind altmodisch, die zwei letzten bedeutungsgleich mit wahrhaftig und verlogen. Was das Wort Ehre dabei zu suchen hat, bedenken wir nicht.
Reden wir über die Ehre. Das Wort scheint omnipräsent. Wir finden es in Zusammensetzungen und Ableitungen, in Ehrenamt und Ehrensold, in Ehrengrab und Ehrenzeichen, in Ehrfurcht, Ehrenrecht, Ehrenkompanie, Verehrung und Ehrverlust, in Ehrabschneiden, Ehrenhändel und Ehrenmord. Wir benutzen Eigenschaftsworte wie ehrbar und ehrpusselig, ehrlich und unehrlich. Die zwei ersten sind altmodisch, die zwei letzten bedeutungsgleich mit wahrhaftig und verlogen. Was das Wort Ehre dabei zu suchen hat, bedenken wir nicht.

Das Wort selbst ist alt und kommt in vielen indogermanischen Sprachen vor. Die ursprüngliche Bedeutung bezeichnet Scheu gegenüber etwas Heiligem; Ehre sei Gott in der Höhe lautet, ganz richtig, eine in christlichen Kirchen verwendete Formel. Nun wird nicht nur Gott Ehre erwiesen, sondern auch Menschen. Der übergroße Teil der eingangs zitierten Begriffe hat nichts mit Religion zu schaffen, sondern mit irdisch-menschlichen Angelegenheiten.

Ehre ist etwas Immaterielles und stammt aus vordemokratischen Zeiten. Im Feudalismus war sie Attribut eines frei Geborenen, der sich privilegiert fühlen durfte gegenüber einem rechtlosen Unfreien. Ehre konnte bedroht sein und genommen werden, weswegen man sie verteidigen musste, was auch geschah, meistens blutig. Mit der Ehre verbunden war ein Sittenkodex, den es einzuhalten galt und gegen den zu verstoßen den Ehrverlust zur Folge haben konnte.

Dergleichen existiert hierzulande bloß noch in Resten. Viele Wortzusammensetzungen mit Ehre bezeichnen etwas so Profanes wie Unentgeltlichkeit: Ehrenämter und Ehrenzeichen kennen keine monetäre Zuwendung. Ehre ist da ein Synonym für Anerkennung.

Dies spiegelt eine vergleichsweise junge Haltung. Denn wiewohl wir in Mitteleuropa demokratische Ideen schon seit zweihundert Jahren pflegen, gab es Ehrpusseligkeit und Ehrenhändel bis in allerjüngste Zeit. Die übliche Form, solche Händel auszutragen, war das Duell. Man veranstaltete es bis zum Ersten Weltkrieg, dann kam es außer Gebrauch; inkriminiert war es vorher schon, und feudalistisch bedingt war es sowieso, denn es gründet auf die ritterlichen Zweikämpfe des Mittelalters. Den Anlass zum Duell bot üblicherweise ein Angriff auf die Ehre. Heute nennen wir so was Beleidigung. Sie ist das Objekt von Gegendarstellungen und Zivilgerichten.

Ihre letzte Konjunktur erlebte die Ehre im Deutschland Adolf Hitlers. Da wurde unentwegt mit der Ehre hantiert, jener des deutschen Mannes, der deutschen Frau, des deutschen Vaterlands. Das 1935 erlassene Nürnberger Rassegesetz mit seiner Diskriminierung der Juden trug den offiziellen Titel "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre". "Meine Ehre heißt Treue" wurde gesagt, geschrieben und am Koppelschloss getragen. Der gesamte Spuk ging 1945 verdientermaßen zugrunde, den Ehrbegriff riss es zu wesentlichen Teilen mit.

Doch nicht völlig. Noch immer befinden deutsche Gerichtsurteile auf Ehrverlust, womit Geschäftsfähigkeit und Wahlrecht gemeint sind. Ein prominenter Ministerpräsident, Uwe Barschel, gab öffentlich sein Ehrenwort, von bestimmten Gaunereien nichts gewusst zu haben. Hatte er aber doch, und als dies offenbar wurde, verstarb er in einer Schweizer Hotelbadewanne.

Also wollen wir die Ehre lassen, wo sie hingehört: in ungute Vergangenheiten. Wir wollen einschreiten, wenn anatolische Familien Ehrenmorde begehen, wir wollen nicht von letzter Ehre reden, wenn wir an Begräbnissen teilnehmen, wir wollen den Kopf schütteln, wenn ein Staatsbesucher wieder einmal mit militärischen Ehren empfangen wird. Das Abschreiten einer Soldatenfront hat mit Ehre nichts zu tun. Es handelt sich um eine vom Protokoll vorgeschriebene Handlung.

Unser Grundgesetz verwendet den Begriff Ehre nicht. Es spricht stattdessen von Menschenwürde, und genau dies ist der angemessene Ausdruck. "Was ist Ehre? Ein Wort. Was steckt in dem Wort Ehre? Was ist diese Ehre? Luft. Ehre ist nichts als ein gemalter Wappenschild beim Leichenzuge." Dieses korrekte Urteil stammt von William Shakespeare. Er fällte es vor mehr als vierhundert Jahren.

Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u.a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.