Eine Frage der Ziele

Von Klaus Hödl |
Hamburger oder Münchner, Saarländer oder auch Schlesier, normalerweise fällt es uns nicht schwer, unsere Herkunft zu benennen. Muslime oder Juden dagegen fühlen sich oft als Deutsche zweiter Klasse, wenn wir über sie reden. Der Judaist Klaus Hödl bedauert diese Unsensibilität.
Die gegenwärtigen Debatten zum Judentum und zu den Juden in Deutschland, die sich in den letzten Monaten vor allem um die Beschneidung, dann auch um den Überfall auf einen Rabbiner in Berlin drehten, scheinen eine neue Wendung genommen zu haben. Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Gemeinde München, fragte in der Süddeutschen Zeitung, ob Juden in Deutschland noch willkommen seien?

Mit dieser Frage hat eine der höchsten RepräsentantInnen der Juden in Deutschland die Öffentlichkeit aufgefordert, nicht mehr länger über Riten, Antisemitismus und ähnliches zu diskutieren, sondern direkt und unmissverständlich zum jüdischen Leben in Deutschland Stellung zu beziehen.

Die Antworten ließen nicht lange auf sich warten. Nebst anderen hat sich der Präsident des Deutschen Bundestags, Norbert Lammert, mit einem lauten Ja zu Wort gemeldet. Gleichzeitig zeigt er sich allerdings irritiert über Charlotte Knoblochs Wortwahl und Formulierungen. Auf die Frage "Wollt ihr uns Juden noch"? antwortet Lammert: "Wen meint ‚ihr’? Und wer ist ‚uns’? ‚Wir’ in diesem Land - … unterscheiden uns in unserem Glauben. Aber uns eint, Teil dieser deutschen Gesellschaft zu sein."

Mit diesen wenigen Worten bringt Lammert die Malaise des jüdisch-nichtjüdischen Verhältnisses im Deutschland der Gegenwart präzise auf den Punkt: Die Wurzel des Missverständnisses zwischen Juden und Nichtjuden liegt in der Bezeichnung wie auch der Selbstwahrnehmung der Juden als ‚anders‘.

Aber wie kann eine Sichtweise, die auf eine Unterscheidung von Juden und Nichtjuden verzichtet, vermittelt werden? Wissenschaftler, gewöhnlich die Vordenker in der Gesellschaft, halten mit beispielloser Zähigkeit an dieser Differenzierung fest.

Einen Beleg dafür bildet eine Tagung, die im Juni 2012 am Hamburger Institut für die Geschichte der deutschen Juden stattgefunden hat. Dabei ging es um die Frage der Integration der jüdischen Geschichte in die allgemeine Geschichte. Es war den Anwesenden in keinster Weise einsichtig, dass allein schon die geläufige Bezeichnung der Juden als ‚Minderheit’ die jüdische Gemeinschaft in Kontrast zur nichtjüdischen ‚Mehrheit’ setzt und sie damit als ‚anders‘ positioniert.

Das Versäumnis der VertreterInnen der Geschichtswissenschaft, der Jüdischen Studien und anderer Fächer, die Unterscheidung von Juden und Nichtjuden aufzuheben, bestimmt auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von den Juden bzw. deren Selbstwahrnehmung. So beispielsweise, wenn PolitikerInnen über den ‚unverzichtbaren Beitrag der Juden zur deutschen Kultur und Gesellschaft‘ sprechen.

Haben Juden wirklich als Juden, somit aus dem Judentum schöpfend, der nichtjüdischen Gesellschaft etwas vermittelt? Oder haben sie nicht vielmehr als Deutsche an der Gestaltung der deutschen Gesellschaft und Kultur mitgewirkt? Und was wäre das Jüdische, das sie zu ihren Aktivitäten motiviert hat oder das sie weitergegeben haben?

Wie sehr Differenzierungen Ausschlussmechanismen sind, die auf konkreten Interessen beruhen, kann man an der sogenannten Judith Butler-Affäre ablesen. Die Kritik des Zentralrats der Juden in Deutschland sowie anderer jüdischer Organisationen an der Verleihung des Theodor-Adorno-Preises an die amerikanische Philosophin trifft eine Intellektuelle, die wie nur wenig andere Menschen ihr Denken und Reflektieren in der jüdischen Tradition verankert hat.

Allein, diese positive Bezugnahme zu Aspekten des Judentums kann im konkreten Fall nicht verhindern, dass Butler des jüdischen Selbsthasses geziehen und mit Antisemiten verglichen wird. Diese Episode zeigt, dass Unterscheidungen eher auf Imaginationen und Strategien als realen Merkmalen fußen. Das gilt auch für eine Unterscheidung zwischen Juden und Nichtjuden. Man sollte immer fragen, welche Ziele damit verfolgt werden.

Klaus Hödl ist Historiker am Centrum für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz, dessen Gründungsdirektor er von 2001-2007 war, und Autor von fünf Monographien über osteuropäische Juden, Bilder des jüdischen Körpers und jüdische Geschichtsschreibung. Das sechste Buch über Juden in Deutschland im 19. Und 20. Jahrhundert erscheint im September 2012 im Paderborner Verlag Ferdinand Schöningh und trägt den Titel "Kultur und Gedächtnis".
Klaus Hödl
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