Eine französische Institution

Martina Meister im Gespräch mit Susanne Führer · 01.07.2011
Kein anderer Verlag hat sich um die französische Literatur, aber auch um viele Werke der Weltliteratur, so verdient gemacht wie Gallimard. Vor 100 Jahren wurde der Verlag gegründet, und noch heute ist es ein Ritterschlag, bei Gallimard zu erscheinen.
Susanne Führer: Gallimard, das ist der französische Verlag schlechthin. Vor 100 Jahren wurde er von einem gewissen Gaston Gallimard gegründet, heute wird der Verlag in dritter Generation von Enkel Antoine geleitet. Wie groß das Ansehen des Verlags ist, das zeigt sich an der schönen Geste der Stadt Paris: Seit ein paar Tagen lautet die Adresse des Verlages nämlich nicht mehr Rue Sébastien-Bottin, sondern Rue Gaston Gallimard. Und was diesen Verlag so besonders macht, darüber spreche ich nun mit der Kulturjournalistin Martina Meister, zugeschaltet aus Paris. Guten Tag, Frau Meister!

Martina Meister: Hallo, Frau Führer!

Führer: Wo wir gerade bei der Adresse sind, erzählen Sie doch mal ein bisschen: Wie sieht denn das da aus? Wie haust oder wie residiert denn Gallimard in der Rue Gaston Gallimard?

Meister: Das ist eine ganz winzige Straße im Saint Germain, und das Witzige ist, Sie nannten gerade diese Straßenumbenennung. Das einzige Haus in dieser Straße, was von normalen Einwohnern bewohnt wird, die haben sich gegen diese Namensänderung gesperrt, und deswegen ist die Nummer 5 immer noch Rue Sébastien-Bottin. Der Verlag Gallimard darf sich nun in die Rue Gallimard seine Briefe hinschicken lassen. Das Haus ist von außen eigentlich gar nicht so beeindruckend, das ist natürlich ein stattliches Haus, aber davon gibt es sehr viele in Saint Germain. Was dann schon sehr viel beeindruckender ist, sind die Innenräume. Das ist alles sehr prachtvoll, mit Spiegeln und Parkett und Kamin, wie man sich das so schön Französisch à la Haussmann vorstellt, der irgendwie die Pracht des Königs auch ans Großbürgertum hineingeholt hat. Aber das wirklich eigentliche Beeindruckende – natürlich ahnt man auch die Geister der Autoren, die da umgegangen sind, die wirklich großen Namen der Literatur: Proust, Camus, Nabokov, die waren ja alle da, aber das wirklich Beeindruckende ist der Garten in diesem Haus. Da ist also ein kleiner, schöner, gebändigter französischer klassischer Garten mit noch so einer Art Schlösschen im Hintergrund, und dieser Garten ist natürlich auch Schauplatz der unterschiedlichsten Veranstaltungen. Da werden die Porträts der Autoren aufgenommen, da werden Cocktails gegeben, Preise gefeiert. Und da trifft sich le tout Paris, wie man so schön sagt, und tratscht und trinkt. Und ich kann mir vorstellen, dass da so einiges literarisches Schicksal auch entschieden wurde in diesem Garten.

Führer: Frau Meister, wenn sie alle großen Autoren aufzählten, die bei Gallimard erschienen sind, dann säßen wir wahrscheinlich heute Nacht noch hier. Ich habe irgendwie gelesen, 24.000 Titel soll der Katalog umfassen. Aber ein paar sollten wir vielleicht doch noch nennen, und vielleicht die wenigen, die nicht bei Gallimard erschienen sind.

Meister: Ja, ich glaube, dass die Besonderheit bei Gallimard wirklich ist, dass man eine – nicht nur eine französische – Literaturgeschichte anhand der Gallimard-Autoren schreiben könnte, sondern im Grunde eine europäische und eine amerikanische. Die großen Franzosen waren alle da, fangen wir an bei Sartre, Proust, Camus, Beauvoir, das sind alles Gallimard-Autoren, aber eben auch die Amerikaner und die Engländer, also Hemingway, Joyce, Kafka, der Deutsche, Nabokov – man muss einfach nur sagen: 36 Literatur-Nobelpreisträger und 35 Goncourt-Preisträger, das sagt eigentlich schon alles. Ein paar sind ihnen allerdings durch die Lappen gegangen. Viele sind es nicht. Also Samuel Beckett fällt mir ein, Julien Gracq, der dann später eingekauft wurde, weil die "Pléiade" dazugekauft wurde zum Verlag, und natürlich …

Führer: … die "Pléiade", das …

Meister: … das ist die schöne, ledergebundene Dünndruckausgabe, sozusagen, der Porsche in der Bibliothek …

Führer: Ja, ich glaube, wenn man da erscheint, dann weiß man, jetzt bin ich Klassiker!

Meister: Genau, dann ist man Klassiker. Und Milan Kundera ist übrigens der erste lebende Autor, der das sozusagen miterlebt hat, in dem Olymp der "Pléiade" aufgenommen zu werden.

Führer: Also, Julien Gracq ist nur in der "Pléiade" erschienen, aber nicht im Verlag, und Beckett auch nicht. Das sind so die Ausnahmen, die einem einfallen.

Meister: Ja, und es gibt natürlich die schöne Proust-Anekdote, dass der abgelehnt wurde, und das ist vielleicht die Besonderheit von Gallimard. Es gab ja immer schon dieses Lektorenkomitee, was eben vorwiegend aus Schriftstellern bestand, und André Gide war derjenige der den Verlag mitbegründet hat, der eben gesagt hat: Das ist nichts für uns, dieser Proust, da sind viel zu viele Gräfinnen, das interessiert uns nicht. Und …

Führer: Ich glaube, das war der erste Band der "Suche nach der verlorenen Zeit".

Meister: Genau, das war der erste Band der "Suche nach der verlorenen Zeit". Er hat ihn also abgelehnt. Es gab Noten, die gibt es bis heute, eins, zwei, drei. Eins heißt: auf jeden Fall publizieren! Drei: Auf keinen Fall. Und Gide wollte ihn nicht, und ich glaube, er hat gespürt damals, dass das ein größerer war, ein besserer, und dass ist vielleicht der einzige Haken an dieser Politik, an dieser Verlagspolitik, dass natürlich die Schriftsteller gewisse Instinkte haben und anderes Urteilsvermögen haben und vielleicht sogar ein besseres als so ein ganz normalsterblicher Lektor. Aber wenn dann ein größerer kommt, dann gehört da, glaube ich, auch viel Reife dazu, das zu sehen und das zuzulassen. Und die hat Gide offensichtlich nicht gehabt, und das musste dann Gaston Gallimard später regeln und hat das abgekauft, die "Recherche", und konnte dann sozusagen auch noch den ersten Band in seinen Umschlag einfach legen und hat ihn dann auch noch verkauft.

Führer: Immerhin hat der Verlag die Größe besessen, das Urteil zu revidieren!

Meister: Ja, das kann man sagen. Das haben sie geschafft.

Führer: Mit der Kulturjournalistin Martina Meister spreche ich über den französischen Verlag schlechthin, die Éditions Gallimard. Frau Meister, unter deutscher Besatzung während des Zweiten Weltkrieges soll der Verlag ja keine besonders rühmliche Rolle gespielt haben. Wie hat sich – wie sehr hat sich der Verlag denn den Nazis damals angedient?

Meister: Sehr. Aber er hatte auch keine andere Wahl! Der Verlag war am 9. November 1940 geschlossen worden, und Gaston Gallimard hat dann mit den Nazis ein bisschen verhandelt und diskutiert, und hat Kompromisse gemacht. Der Verlag wurde wieder aufgemacht, er hat aber Drieu de la Rochelle, einen wirklich extrem Rechten, einen Nazi, einen Kollaborateur als Chefredakteur der "Nouvelle Revue francaise" eingesetzt, aus der ja der Verlag sozusagen hervorgegangen ist. Er konnte aber weiter machen. Er hat jüdische Mitarbeiter entlassen und er hat so einige andere Sachen noch machen müssen, aber ich glaube, er war ein Verleger, der sich für seine Autoren verantwortlich fühlte, der wirklich dieses Verantwortungsbewusstsein hatte und wusste, dass die ohne ihn und ohne das Weiterleben des Verlages auch einfach untergegangen währen. Und das war in gewisser Weise Pragmatik. Das war auf keinen Fall Antisemitismus oder: er war kein Überzeugungstäter. Das kann man an ein paar Sachen ablesen, also zum Beispiel auch daran, dass er den jüdischen Schweizer Autoren Albert Cohen wahnsinnig gefördert hat und ihm geholfen hat, in den 20er-, 30er-Jahren die "Revue Juive" aufzubauen. Er war ganz bestimmt kein Antisemit! Aber er musste sozusagen, um den Verlag weiterführen zu können, Kompromisse eingehen.

Führer: Das heißt, so dieser Stempel, der in Frankreich ja äußerst schädlich ist, des Kollaborateurs, der klebt nicht auf dem Verlag Gallimard?

Meister: Nein, das ist ihm irgendwie gelungen, zum einen, glaube ich, weil das so getrennt war, die "Nouvelle Revue francaise" auf der einen Seite – Drieu de la Rochelle hat dann sofort nach der Niederlage Selbstmord begangen –, und dann kam auch dazu, dass sich ganz, ganz viele Autoren – und das sieht man übrigens auf der Ausstellung auch schön, die im Moment in der Bibliothèque Nationale zu sehen ist – wirklich für ihn eingesetzt haben. Da liegen Briefe von Sartre und anderen Großen, die alle gesagt haben, dass er sozusagen keine andere Wahl gehabt hat. Und deswegen ist es ihm gelungen, da ziemlich ungeschoren herauszukommen, ohne dass die Aura des Verlages da wirklich drunter gelitten hätte.

Führer: Ja, Aura ist ein schönes Stichwort. Ich habe mal so überlegt, ob es irgendwie einen vergleichbaren deutschen Verlag gibt, also, wir haben ja mal von der Suhrkamp-Kultur gesprochen. Aber die ist im Grunde genommen Vergangenheit. Und wenn ich das richtig verstehe, dann hat Gallimard heute noch diese Aura, diesen Nimbus. Das kann ja nicht nur daran liegen, dass die – aus heutiger Sicht – moderne Klassiker verlegen. Wie schaffen die das?

Meister: Nein, das ist bis heute tatsächlich erhalten geblieben. Ich glaube, das liegt natürlich einfach an dieser Gesellschaft, in die man sich begibt. Das liegt auch daran, dass diese Lektorenkomitees immer noch aus Autoren bestehen, also da sind Kundera heute drin und Philippe Sollers und andere Gegenwartsautoren, sodass das wirklich wie ein Ritterschlag ist, bei Gallimard aufgenommen zu werden. Das ist mehr als nur ein Verlag! Das ist sozusagen dazu zu gehören, zur großen Literatur. Und auch selbst, wenn man Gallimard vielleicht in den letzten Jahren hätte vorwerfen können, ziemlich verschnarcht oder ein bisschen verschlafen zu sein, haben sie immer wieder bewiesen, dass sie immer noch auch einen Riecher haben. Zum Beispiel Jonathan Littell ist ja … "Die Wohlgesinnten" sind bei Gallimard erschienen. Das war eine mutige Entscheidung! Es werden immer wieder auch Entscheidungen getroffen, die für Unmut unter den Autoren sorgen, weil die Struktur von Gallimard eben dafür sorgt, dass die unterschiedlichsten Autoren in diesem Haus versammelt sind, weil das Bindeglied ist eben das ästhetische Kriterium und nichts anderes, nicht die politischen Überzeugungen, nicht die Schulen, denen irgendwelche Autoren angehören.

Führer: Und das Erstaunliche finde ich ja in dieser Zeit der Medienkonzerne, dass Gallimard weiterhin, seit 100 Jahren, ein unabhängiger Verlag ist, außerdem ein Literaturverlag, und noch in Familienbesitz. Das scheint ja, also, gerade zu die Quadratur des Kreises zu sein!

Meister: Ja, das ist wirklich eine Seltenheit. Es sind wieder 98 Prozent des Verlages Eigentum der Familienholding der Gallimards – das ist wirklich immer noch die Familie! –, obwohl es da zwischenzeitlich wirklich auch große Streitigkeiten gegeben hat: Der älteste Sohn von Gallimard ist sozusagen rausbugsiert worden, die Geschwister sprechen heute wohl untereinander nicht mehr alle miteinander – man möchte da gar nicht genauer hinter die Kulisse gucken, wie das dann auch wirklich aussieht! Aber feststeht, dass sich der Verlag seine Unabhängigkeit bewahrt hat, und dass er auch sehr stolz darauf ist, und dass er trotzdem unter den zehn größten Verlagen Frankreichs firmiert, also nicht sehr viel weiter hinter Hachette, was irgendwie der größte Verlag ist, mit immerhin noch 240 Millionen Euro Umsatz. Und man muss sagen, ein bisschen hat er das auch Harry Potter zu verdanken. Durch diesen enormen Erfolg Harry Potters hat sich Gallimard auch ziemlich saniert und Anteile zurückgekauft, die eben während dieser Familienstreitigkeiten an eine Bank weitergegeben wurden.

Führer: Das heißt, macht der Verlag dann letztlich doch sein Geld mit den großen Bestsellern hauptsächlich?

Meister: Ich glaube, 60 Prozent des Umsatzes kommen tatsächlich aus der berühmten Backlist, wie Sie sagen. Die hat diese berühmten 24.000 Titel, und eben Longsellers, wie Camus, der sich immer noch millionenfach verkauft und wo immer noch Rechte weitergegeben werden. Das ist die Haupteinkunft des Verlages – was ihn nicht daran hindert, natürlich auch irgendwie neue Autoren zu entdecken.

Führer: 100 Jahre Verlag Gallimard, eine französische Institution. Das war die Kulturjournalistin Martina Meister aus Paris. Ich danke Ihnen fürs Gespräch, Frau Meister!

Meister: Ich danke Ihnen!