Eine Frau, die sich nicht zum Opfer machen lässt
Wie über ein Schicksal schreiben, für das es eigentlich keine Worte zu geben scheint? Wie dem Grauen einen Namen geben, ohne sich selbst darin zu verlieren? Natascha Kampusch gelingt beides. Klar strukturiert, fast sachlich schildert sie ihre 3096 Tage in Gefangenschaft, die ein Martyrium des Schreckens sind.
Schonungslos führt sie vor Augen, was ein psychisch kranker Mann versucht, ihr anzutun. Ihr die Identität zu rauben, sie zu seiner Sklavin zu machen – und wie er damit scheitert. Denn die junge Frau ertrinkt nicht in den ewigen Misshandlungen, in dem Kummer und der Hilflosigkeit, sondern sie schafft es aus eigener Kraft, Distanz zu wahren, in die innere Immigration zu gehen, ohne sich zu verlieren.
Ihr Blick richtet sich immer auf eine Zukunft in Freiheit, egal, wie aussichtslos diese zeitweise scheint. Psychologen nennen das Resilienz und beschreiben damit die Fähigkeit, Krisen durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern. Genau davon erzählt dieses 282 Seiten dicke Buch – und das macht es so lesenswert.
Der Tag, an dem die Welt der Natascha Kampusch zusammenbricht, ist ein nasskalter Märztag. Das damals 10-jährige Mädchen ist auf dem Weg zur Schule, als es in einen weißen Lieferwagen gezerrt wird. Der Täter, der erst viel später einen Namen bekommt, Wolfgang Priklopil, ist ein unauffällig scheinender Mann mit blauen Augen und braunen Haaren. Er wird Nataschas Leben die nächsten achteinhalb Jahre lang bestimmen, mehr noch, er wird es beherrschen.
In einem fünf Quadratmeter großen Verlies muss das Mädchen Schreckliches erleiden. Neben verbalen Verletzungen – "Sieh dich doch mal an. Du bist dick und hässlich" – gehören körperliche wie seelische Misshandlungen fortan zu ihrem Alltag. Ihre Haare werden abgeschoren, sie muss halbnackt das Haus putzen, und das Essen wird ihr streng rationiert zugeteilt.
In Tagebuchauszügen, die immer wieder in dieser Biographie des Schreckens auftauchen, schreibt sie im Januar 2006: "Brutale Fausthiebe auf den Kopf, die rechte Schulter, den Bauch, den Rücken und das Gesicht sowie aufs Ohr und Auge. Unkontrollierte, unberechenbare urplötzliche Wutanfälle. Anschreien. Beleidigungen. Stoßen beim Stufensteigen. Würgen, sich auf mich setzen und den Mund und die Nase zuhalten, ersticken." Das zu lesen fällt schwer.
Doch Nataschas Kampuschs Buch ist mehr als die reine Wiedergabe von Tagebuchnotizen einer Gepeinigten. Es ist vielmehr das mutige Zeugnis einer jungen Frau, die sich nicht zum Opfer machen lässt. Auch nach ihrer Befreiung. Allein ihre innere Stärke habe sie gerettet – so die unvermissverständliche Botschaft der heute 22-jährigen.
Nichts – bis auf die Beschreibung der sexuellen Übergriffe – lässt sie deshalb aus. Alles wird geschildert, ungeschönt. Auch die Herkunftsfamilie, die gefühlskalte Mutter, der unzuverlässige Vater, die beiden Stiefschwestern, die Großmutter. Sie alle sind Teil dieses Buches, das immer auch ein Versuch ist, Antwort darauf zu geben, warum gerade sie zum Opfer wurde.
Zögernd und zugleich psychologisch aufgerüstet, nähert sich Natascha Kampusch ihrer eigenen Geschichte, wie auch der ihres Täters. Nie fällt sie schnelle Urteile. Wolfgang Priklopil, "der Wolfgang", wie sie ihn im Tagebuch auch nennt, ist nicht nur das böse Monster. Oft ist er auch gut zu ihr. Gewährt Freiheiten. Es ist nicht alles schwarz und weiß in diesem Buch, nicht alles klar eingeteilt in gut und böse.
Letztendlich ist Priklopil ein kranker Mensch, der, getrieben aus Sehnsucht nach Liebe, zum Täter wird – so das Fazit seines Opfers. Das habe nichts mit dem "Stockholm Syndrom" zu tun, betont Natascha Kampusch mehrfach. Hass allein hätte sie nicht weitergebracht. Mit dem Buch, das sie jetzt mit Hilfe zweier Journalistinnen schrieb, zieht Natascha Kampusch einen Schlussstrich.
Nie wieder, so ihr eindruckvolles Plädoyer, soll jemand sie zum Opfer machen, und sei es auch nur zum Opfer eines Syndroms.
Besprochen von Kim Kindermann
Natascha Kampusch, mit Heike Gronemeier und Corinna Milborn: 3096 Tage
Verlag List, Berlin 2010
284 Seiten, 19,95 Euro
Ihr Blick richtet sich immer auf eine Zukunft in Freiheit, egal, wie aussichtslos diese zeitweise scheint. Psychologen nennen das Resilienz und beschreiben damit die Fähigkeit, Krisen durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern. Genau davon erzählt dieses 282 Seiten dicke Buch – und das macht es so lesenswert.
Der Tag, an dem die Welt der Natascha Kampusch zusammenbricht, ist ein nasskalter Märztag. Das damals 10-jährige Mädchen ist auf dem Weg zur Schule, als es in einen weißen Lieferwagen gezerrt wird. Der Täter, der erst viel später einen Namen bekommt, Wolfgang Priklopil, ist ein unauffällig scheinender Mann mit blauen Augen und braunen Haaren. Er wird Nataschas Leben die nächsten achteinhalb Jahre lang bestimmen, mehr noch, er wird es beherrschen.
In einem fünf Quadratmeter großen Verlies muss das Mädchen Schreckliches erleiden. Neben verbalen Verletzungen – "Sieh dich doch mal an. Du bist dick und hässlich" – gehören körperliche wie seelische Misshandlungen fortan zu ihrem Alltag. Ihre Haare werden abgeschoren, sie muss halbnackt das Haus putzen, und das Essen wird ihr streng rationiert zugeteilt.
In Tagebuchauszügen, die immer wieder in dieser Biographie des Schreckens auftauchen, schreibt sie im Januar 2006: "Brutale Fausthiebe auf den Kopf, die rechte Schulter, den Bauch, den Rücken und das Gesicht sowie aufs Ohr und Auge. Unkontrollierte, unberechenbare urplötzliche Wutanfälle. Anschreien. Beleidigungen. Stoßen beim Stufensteigen. Würgen, sich auf mich setzen und den Mund und die Nase zuhalten, ersticken." Das zu lesen fällt schwer.
Doch Nataschas Kampuschs Buch ist mehr als die reine Wiedergabe von Tagebuchnotizen einer Gepeinigten. Es ist vielmehr das mutige Zeugnis einer jungen Frau, die sich nicht zum Opfer machen lässt. Auch nach ihrer Befreiung. Allein ihre innere Stärke habe sie gerettet – so die unvermissverständliche Botschaft der heute 22-jährigen.
Nichts – bis auf die Beschreibung der sexuellen Übergriffe – lässt sie deshalb aus. Alles wird geschildert, ungeschönt. Auch die Herkunftsfamilie, die gefühlskalte Mutter, der unzuverlässige Vater, die beiden Stiefschwestern, die Großmutter. Sie alle sind Teil dieses Buches, das immer auch ein Versuch ist, Antwort darauf zu geben, warum gerade sie zum Opfer wurde.
Zögernd und zugleich psychologisch aufgerüstet, nähert sich Natascha Kampusch ihrer eigenen Geschichte, wie auch der ihres Täters. Nie fällt sie schnelle Urteile. Wolfgang Priklopil, "der Wolfgang", wie sie ihn im Tagebuch auch nennt, ist nicht nur das böse Monster. Oft ist er auch gut zu ihr. Gewährt Freiheiten. Es ist nicht alles schwarz und weiß in diesem Buch, nicht alles klar eingeteilt in gut und böse.
Letztendlich ist Priklopil ein kranker Mensch, der, getrieben aus Sehnsucht nach Liebe, zum Täter wird – so das Fazit seines Opfers. Das habe nichts mit dem "Stockholm Syndrom" zu tun, betont Natascha Kampusch mehrfach. Hass allein hätte sie nicht weitergebracht. Mit dem Buch, das sie jetzt mit Hilfe zweier Journalistinnen schrieb, zieht Natascha Kampusch einen Schlussstrich.
Nie wieder, so ihr eindruckvolles Plädoyer, soll jemand sie zum Opfer machen, und sei es auch nur zum Opfer eines Syndroms.
Besprochen von Kim Kindermann
Natascha Kampusch, mit Heike Gronemeier und Corinna Milborn: 3096 Tage
Verlag List, Berlin 2010
284 Seiten, 19,95 Euro