Eine Frau, klüger als ein Lexikon
Als Hilde Speer in den 50er-Jahren aufs Gymnasium geht, ist sie fasziniert von ihrer Lehrerin Dora Lux. Nun hat sie - heute heißt sie Schramm - ein Buch über diese kluge, kritische Frau geschrieben, die als Jüdin den Holocaust überlebte, weil sie sich einfach nicht bei den Behörden registrieren ließ.
Klaus Pokatzky: Es ist nicht viel mehr als 100 Jahre her: 1895 kommt Edith Hamilton aus den USA nach Deutschland und studiert gemeinsam mit Ihrer Schwester Alice an den Universitäten Leipzig und München als die ersten weiblichen Studenten. Alte Philologie hat sie in München studiert und durfte nicht bei den männlichen Studenten sitzen, sondern musste vorne auf dem Podest beim Professor Platz nehmen. Das war schon ein gewaltiger Fortschritt, denn zunächst einmal war an der Universität überlegt worden, ob für Edith Hamilton nicht besser ein kleiner Verschlag mit Vorhang gebaut werden sollte, damit sie möglichst unsichtbar wird. Als Dora Bieber knapp zehn Jahre später dort studiert hat, war sie immerhin schon eine von 21 Frauen unter 4.745 Männern. Sie gehörte zu den 50 ersten Abiturientinnen in Deutschland und dann zu den ersten neun Gymnasiallehrerinnen - Dora Bieber, später verehelichte Lux und also dann Doktor Dora Lux war 50 Jahre später in Heidelberg, von 1953 bis 1955, die Geschichtslehrerin von Hilde Schramm, damals noch Hilde Speer, bis zu deren Abitur. Willkommen im Studio, Hilde Schramm!
Hilde Schramm: Vielen Dank!
Pokatzky: Frau Schramm, Ihr Buch über Dora Lux, die von 1882 bis 1959 gelebt hat, ist ein dicht gedrängtes Werk von mehr als 400 Seiten. Wie lange haben Sie daran gesessen und wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, dass Sie die Vita einer Geschichtslehrerin erforschen, bei der sie vor einem halben Jahrhundert Unterricht gehabt haben?
Schramm: Ja, ich habe daran mit Unterbrechungen ungefähr sechs Jahre gesessen - aber wie gesagt auch mit einigen Unterbrechungen -, und die letzten drei Jahre ganz intensiv, da habe ich praktisch nichts anderes mehr gemacht. Ich wollte schon immer mehr über sie wissen. Sie hat mich in meiner Jugend beeindruckt, ich mochte sie auch sehr: Sie war zurückhaltend, gleichzeitig souverän, hatte ein verschmitztes Lächeln, war ungeheuer klug, sehr freundlich, demokratisch und dabei doch entschieden, so hatte ich den Eindruck schon damals. Und Sie hat einen Geschichtsunterricht, man würde heute formelhaft sagen, gegen den Zeitgeist gemacht. Wir lasen bei ihr Marx, und sie sprach viel über die Arbeiterbewegung, über die sozialen Konflikte im alten Kaiserreich und dann auch noch in der Weimarer Republik. Also sie war eine hervorragende Geschichtslehrerin. Und ich will vielleicht kurz sagen, als ich - ich war ein Jahr in den USA, das ist ja nicht wichtig, im Austausch gewesen, als ich ...
Pokatzky: Da waren Sie 16, glaube ich, nicht? 52.
Schramm: ... ja, ja, 52, 53, das ist jetzt hier nicht wichtig -, aber als ich zurückkam, sagte eine Mitschülerin: Hilde, stell dir vor, wir haben jetzt eine neue Geschichtslehrerin, und wenn wir da schreiben, was im Brockhaus steht, meint sie, das ist alles falsch. Da war ich sehr, ja, fasziniert, und diese Frau, die beanspruchte, klüger zu sein als ein Lexikon, hatte mein Interesse und auch meine Neugierde. Und so war es dann auch, sie war sehr genau, sehr eigenständig.
Pokatzky: Und sie war ein wandelndes Lexikon. Sie beschreiben in dem Buch ja auch, sie wohnte in so einer kleinen Wohngemeinschaft, in so einer Pension, und da brauchten die gar kein Lexikon, weil immer, wenn sie irgendwas wissen wollten, haben sie Doktor Dora Lux gefragt.
Schramm: Das ist eine der überlieferten Legenden in der Familie, aber es wird schon stimmen. Sie war wirklich universell gebildet und hatte ein hervorragendes Gedächtnis, ja.
Pokatzky: Nun hatte Dora Lux jüdische Wurzeln. Die Eltern bereits waren zum Protestantismus übergetreten, aber in der Nazizeit galt sie damit natürlich als jüdisch belastet. Was hat das bei Ihnen ausgelöst damals? Das ist ja doch zumindest mal so dezent angedeutet worden auch, dass sie so einen Hintergrund hat, sie, also Dora Lux, die NS-Verfolgte, die mit viel Mut und Glück den Naziterror überlebt hat, und Hilde Speer damals, deren Kindheit sich auf der anderen Seite des Systems abgespielt hatte - geboren 1936 sind Sie.
Schramm: Ja, ja, also das hat mich sehr beschäftigt. Ich wollte gerne wissen, wie sie überlebt hat, aber man hat sich nicht getraut zu fragen, und sie hat auch nicht darüber gesprochen. Sie hat einfließen lassen in den Unterricht anderes - auch, sehr interessant und auch Spuren für später für mich -, auf alle Fälle hat einfließen lassen, dass sie ihre Stelle verloren hat, also sie hatte Berufsverbot bekommen 33.
Pokatzky: 1933, ja.
Schramm: Ja, und daraus - so erinnere ich mich - schloss ich, dass sie Jüdin war, aber vielleicht hat mich ein entsprechendes Gerücht, das gab es nämlich an der Schule, auch vorher schon erreicht. Ein offenes Thema war es nicht, das war es nicht, denn ich habe nachgefragt bei Mitschülerinnen, etliche wussten es gar nicht, ja? Und ich war schon informiert über die Morde an den Juden damals, und dann eine so wunderbare Frau, alte Dame als Lehrerin zu haben, empfand ich als großes Glück, gleichzeitig habe ich vielleicht auch deshalb so intensiv ihr zugehört, weil sie wirklich die erste Jüdin in Deutschland war, der ich begegnet bin. Das kann man heute vielleicht gar nicht mehr fassen, aber so ist meine Erinnerung. Und auch, weil sie so souverän war, mich und auch andere in der Klasse überhaupt nicht nach ihrer Herkunft irgendwie spüren zu lassen ...
Pokatzky: ... weil sie wusste, wer Hilde Speer war?
Schramm: ... ja, ja, natürlich!
Pokatzky: Das hat sie aber nie Sie spüren lassen?
Schramm: Ja, das wussten alle. Nein, sie hat mich nie auch nur unterschwellig irgendwie diffamiert oder diskriminiert, gar nicht. Sie hat niemand, sie hat auch die anderen Schülerinnen aus keinem Grund, hat sie jemanden diffamiert. Wie gesagt, sie war eine Humanistin auch als Lehrerin, ja?
Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur Hilde Schramm über ihre Lehrerin Dora Lux, über die sie ein Buch geschrieben hat. Dora Lux hat ja einfach etwas gemacht, was auch Geschwister von ihr gemacht haben, sie hat sich nicht als Jüdin oder Halbjüdin oder Mischling ersten Grades bei den Behörden angemeldet. Sie hat einfach gesagt, ich mache das nicht, ich trage auch nicht den Judenstern - das war ein großes Risiko -, aber sie hat damit am Ende überlebt.
Schramm: Ja, das habe ich erst durch Recherchen rausgekriegt, und ich konnte es auch lange gar nicht fassen und auch nicht richtig einordnen, und es führte dann zu vielen historischen Nachforschungen, und es ist auch ein sehr exzeptioneller Fall. Das ging auch nur, weil keine Unterlagen über ihre jüdische Herkunft ganz offensichtlich bei den Verfolgungsbehörden - also Polizei, Meldebehörde und Gestapo - da waren, es gab aber gleichzeitig, zum Beispiel beim Schulamt, natürlich Unterlagen über sie, dass sie nach der damaligen Terminologie eine Volljüdin war. Aber es gab den Datenabgleich noch nicht, der funktionierte zum Glück noch nicht.
Ja, die Geschichte ist so - Sie haben es im Wesentlichen schon gesagt -, ab 39 mussten alle Juden, egal ob Religionsgemeinschaft oder nach der rassistischen Definition über die Herkunft, alle, die als Juden definiert waren, mussten sich bei der Meldestelle eine Kennkarte holen, einen Ausweis holen - das war Pflicht -, da wurde "J" eingestempelt, und sie mussten den Vornamen Sarah führen. Und das hat sie einfach nicht gemacht. Also sie ist einfach nicht da hingegangen, hat sich es nicht geholt. Freunde, auch jüdische, haben sie bedrängt, das sei zu gefährlich, wurde natürlich hoch bestraft und sanktioniert, ja? Und es scheint so, dass nicht viele sich getraut haben, das zu machen.
Pokatzky: Aber sie hat auf diese Weise mit diesem Mut auch überlebt, und nach dem Krieg dann hat sie in relativ ärmlichen Verhältnissen gelebt. Haben Sie sich da mal in dem Alter auch gefragt, wie kann das sein, dass es der so schlecht geht, und sie haben in einem wohlgeordneten Gymnasium in Heidelberg auch als eine Wohlsituierte, wie die anderen Mitschülerinnen da, gelernt?
Schramm: Ja, man muss seinen Erinnerungen gegenüber ja immer skeptisch sein. Was später kam, was dann war - aber ich habe in der Tat eine recht klare Vorstellung, dass die Frage, warum bewohnt diese Frau Doktor Lux nur ein Zimmer, in dem sie arbeitete, schlief und eben - ja, sie hatte nur ein Zimmer in einer Familienpension, das hat mich schon beschäftigt. Unser Haus war von Amerikanern wieder freigegeben worden und wir wohnten in einem stattlichen Haus vom Familienhintergrund Großvater her.
Pokatzky: In Heidelberg?
Schramm: Ja, in Heidelberg. Und ich habe auch überlegt, warum unterrichtet die alte Dame noch. Sie war ja schon damals über 70 und jenseits des Pensionsalters. Ich denke, sie hat auch gerne unterrichtet, aber eine Zwangssituation war es auch. Sie musste Geld verdienen, denn damals war die Gesetzgebung noch überhaupt nicht so entwickelt, dass ihr diese zwölf Jahre Berufsverbot wirklich hinreichend auf die Rente angerechnet worden wären. Sie hat dann einen Antrag gestellt auf Wiedergutmachung und hat dann nach wirklich zähen Mühen und Verhandlungen und auch ziemlichen Unverschämtheiten, was sie alles hätte beibringen sollen, was gar nicht beizubringen geht, hat dann einmalig 4.500 Mark gekriegt für die ganzen zwölf Jahre.
Pokatzky: Was hat Sie denn dann dazu veranlasst, dass Sie angefangen haben, so zu recherchieren, ein halbes Jahrhundert, nachdem Sie bei ihr Schülerin waren? Und was hat Sie dabei am meisten überrascht?
Schramm: Ja, ich habe immer an Frau Doktor Lux gedacht. Ich hatte auch mal da und da angerufen. Ich wusste, sie war in der Frauenbildung in Berlin tätig, aber dann war es nicht. Und ich hatte auch keine Zeit, aber ich habe - was man nennt - innere Monologe mit ihr geführt, als ich zum Beispiel Lehrer ausbildete, weil sie entsprach überhaupt nicht dem Bild, dem Ideal einer Lehrerin mit Methodenwechsel und jung und dynamisch sowieso nicht. Und warum konnte sie - nicht nur mich übrigens, das ist sehr wichtig, sondern sehr viele andere auch, so beeindrucken, ja? Ihr Leben gab mir so viele Fragen auf, die habe ich nicht vergessen. Die konnte ich gar nicht vergessen.
Pokatzky: Das heißt, sie hat sie über Jahrzehnte begleitet im Kopf?
Schramm: Ja, das muss man schon so sagen, immer mal wieder stärker, mal weniger - immer mal wieder. Und als ich dann pensioniert war, habe ich angefangen, und war selber erstaunt, auf was ich stoße, war auch erstaunt, dass es so viele Recherchen gibt, und ich auf so viele Neuigkeiten und auch interessante Themen übrigens, die ich auch vorher nicht so mir angeeignet hatte, nun gestoßen bin. Also sehr überrascht hat mich zum Beispiel, ich weiß es noch ganz genau, ich sitze in der Staatsbibliothek und entdecke dann, dass sie in einer kleinen Zeitschrift regimekritische Artikel nach 33 geschrieben hat. Wie kann das sein, eine Jüdin mit Berufsverbot? Und so weiter.
Pokatzky: Das alles ist nachzulesen, dringend empfehlenswert, in dem Band "Meine Lehrerin Doktor Dora Lux" von Hilde Schramm, bei der ich mich ganz herzlich bedanke. Erschienen ist der Band bei Rowohlt, mit 432 Seiten und kostet 19,95 Euro. Und im Internet auf rowohlt.de, da finden Sie auch die nächsten Lesetermine von Doktor Hilde Schramm im Juni in Berlin und in Heidelberg. Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hilde Schramm: Vielen Dank!
Pokatzky: Frau Schramm, Ihr Buch über Dora Lux, die von 1882 bis 1959 gelebt hat, ist ein dicht gedrängtes Werk von mehr als 400 Seiten. Wie lange haben Sie daran gesessen und wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, dass Sie die Vita einer Geschichtslehrerin erforschen, bei der sie vor einem halben Jahrhundert Unterricht gehabt haben?
Schramm: Ja, ich habe daran mit Unterbrechungen ungefähr sechs Jahre gesessen - aber wie gesagt auch mit einigen Unterbrechungen -, und die letzten drei Jahre ganz intensiv, da habe ich praktisch nichts anderes mehr gemacht. Ich wollte schon immer mehr über sie wissen. Sie hat mich in meiner Jugend beeindruckt, ich mochte sie auch sehr: Sie war zurückhaltend, gleichzeitig souverän, hatte ein verschmitztes Lächeln, war ungeheuer klug, sehr freundlich, demokratisch und dabei doch entschieden, so hatte ich den Eindruck schon damals. Und Sie hat einen Geschichtsunterricht, man würde heute formelhaft sagen, gegen den Zeitgeist gemacht. Wir lasen bei ihr Marx, und sie sprach viel über die Arbeiterbewegung, über die sozialen Konflikte im alten Kaiserreich und dann auch noch in der Weimarer Republik. Also sie war eine hervorragende Geschichtslehrerin. Und ich will vielleicht kurz sagen, als ich - ich war ein Jahr in den USA, das ist ja nicht wichtig, im Austausch gewesen, als ich ...
Pokatzky: Da waren Sie 16, glaube ich, nicht? 52.
Schramm: ... ja, ja, 52, 53, das ist jetzt hier nicht wichtig -, aber als ich zurückkam, sagte eine Mitschülerin: Hilde, stell dir vor, wir haben jetzt eine neue Geschichtslehrerin, und wenn wir da schreiben, was im Brockhaus steht, meint sie, das ist alles falsch. Da war ich sehr, ja, fasziniert, und diese Frau, die beanspruchte, klüger zu sein als ein Lexikon, hatte mein Interesse und auch meine Neugierde. Und so war es dann auch, sie war sehr genau, sehr eigenständig.
Pokatzky: Und sie war ein wandelndes Lexikon. Sie beschreiben in dem Buch ja auch, sie wohnte in so einer kleinen Wohngemeinschaft, in so einer Pension, und da brauchten die gar kein Lexikon, weil immer, wenn sie irgendwas wissen wollten, haben sie Doktor Dora Lux gefragt.
Schramm: Das ist eine der überlieferten Legenden in der Familie, aber es wird schon stimmen. Sie war wirklich universell gebildet und hatte ein hervorragendes Gedächtnis, ja.
Pokatzky: Nun hatte Dora Lux jüdische Wurzeln. Die Eltern bereits waren zum Protestantismus übergetreten, aber in der Nazizeit galt sie damit natürlich als jüdisch belastet. Was hat das bei Ihnen ausgelöst damals? Das ist ja doch zumindest mal so dezent angedeutet worden auch, dass sie so einen Hintergrund hat, sie, also Dora Lux, die NS-Verfolgte, die mit viel Mut und Glück den Naziterror überlebt hat, und Hilde Speer damals, deren Kindheit sich auf der anderen Seite des Systems abgespielt hatte - geboren 1936 sind Sie.
Schramm: Ja, ja, also das hat mich sehr beschäftigt. Ich wollte gerne wissen, wie sie überlebt hat, aber man hat sich nicht getraut zu fragen, und sie hat auch nicht darüber gesprochen. Sie hat einfließen lassen in den Unterricht anderes - auch, sehr interessant und auch Spuren für später für mich -, auf alle Fälle hat einfließen lassen, dass sie ihre Stelle verloren hat, also sie hatte Berufsverbot bekommen 33.
Pokatzky: 1933, ja.
Schramm: Ja, und daraus - so erinnere ich mich - schloss ich, dass sie Jüdin war, aber vielleicht hat mich ein entsprechendes Gerücht, das gab es nämlich an der Schule, auch vorher schon erreicht. Ein offenes Thema war es nicht, das war es nicht, denn ich habe nachgefragt bei Mitschülerinnen, etliche wussten es gar nicht, ja? Und ich war schon informiert über die Morde an den Juden damals, und dann eine so wunderbare Frau, alte Dame als Lehrerin zu haben, empfand ich als großes Glück, gleichzeitig habe ich vielleicht auch deshalb so intensiv ihr zugehört, weil sie wirklich die erste Jüdin in Deutschland war, der ich begegnet bin. Das kann man heute vielleicht gar nicht mehr fassen, aber so ist meine Erinnerung. Und auch, weil sie so souverän war, mich und auch andere in der Klasse überhaupt nicht nach ihrer Herkunft irgendwie spüren zu lassen ...
Pokatzky: ... weil sie wusste, wer Hilde Speer war?
Schramm: ... ja, ja, natürlich!
Pokatzky: Das hat sie aber nie Sie spüren lassen?
Schramm: Ja, das wussten alle. Nein, sie hat mich nie auch nur unterschwellig irgendwie diffamiert oder diskriminiert, gar nicht. Sie hat niemand, sie hat auch die anderen Schülerinnen aus keinem Grund, hat sie jemanden diffamiert. Wie gesagt, sie war eine Humanistin auch als Lehrerin, ja?
Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur Hilde Schramm über ihre Lehrerin Dora Lux, über die sie ein Buch geschrieben hat. Dora Lux hat ja einfach etwas gemacht, was auch Geschwister von ihr gemacht haben, sie hat sich nicht als Jüdin oder Halbjüdin oder Mischling ersten Grades bei den Behörden angemeldet. Sie hat einfach gesagt, ich mache das nicht, ich trage auch nicht den Judenstern - das war ein großes Risiko -, aber sie hat damit am Ende überlebt.
Schramm: Ja, das habe ich erst durch Recherchen rausgekriegt, und ich konnte es auch lange gar nicht fassen und auch nicht richtig einordnen, und es führte dann zu vielen historischen Nachforschungen, und es ist auch ein sehr exzeptioneller Fall. Das ging auch nur, weil keine Unterlagen über ihre jüdische Herkunft ganz offensichtlich bei den Verfolgungsbehörden - also Polizei, Meldebehörde und Gestapo - da waren, es gab aber gleichzeitig, zum Beispiel beim Schulamt, natürlich Unterlagen über sie, dass sie nach der damaligen Terminologie eine Volljüdin war. Aber es gab den Datenabgleich noch nicht, der funktionierte zum Glück noch nicht.
Ja, die Geschichte ist so - Sie haben es im Wesentlichen schon gesagt -, ab 39 mussten alle Juden, egal ob Religionsgemeinschaft oder nach der rassistischen Definition über die Herkunft, alle, die als Juden definiert waren, mussten sich bei der Meldestelle eine Kennkarte holen, einen Ausweis holen - das war Pflicht -, da wurde "J" eingestempelt, und sie mussten den Vornamen Sarah führen. Und das hat sie einfach nicht gemacht. Also sie ist einfach nicht da hingegangen, hat sich es nicht geholt. Freunde, auch jüdische, haben sie bedrängt, das sei zu gefährlich, wurde natürlich hoch bestraft und sanktioniert, ja? Und es scheint so, dass nicht viele sich getraut haben, das zu machen.
Pokatzky: Aber sie hat auf diese Weise mit diesem Mut auch überlebt, und nach dem Krieg dann hat sie in relativ ärmlichen Verhältnissen gelebt. Haben Sie sich da mal in dem Alter auch gefragt, wie kann das sein, dass es der so schlecht geht, und sie haben in einem wohlgeordneten Gymnasium in Heidelberg auch als eine Wohlsituierte, wie die anderen Mitschülerinnen da, gelernt?
Schramm: Ja, man muss seinen Erinnerungen gegenüber ja immer skeptisch sein. Was später kam, was dann war - aber ich habe in der Tat eine recht klare Vorstellung, dass die Frage, warum bewohnt diese Frau Doktor Lux nur ein Zimmer, in dem sie arbeitete, schlief und eben - ja, sie hatte nur ein Zimmer in einer Familienpension, das hat mich schon beschäftigt. Unser Haus war von Amerikanern wieder freigegeben worden und wir wohnten in einem stattlichen Haus vom Familienhintergrund Großvater her.
Pokatzky: In Heidelberg?
Schramm: Ja, in Heidelberg. Und ich habe auch überlegt, warum unterrichtet die alte Dame noch. Sie war ja schon damals über 70 und jenseits des Pensionsalters. Ich denke, sie hat auch gerne unterrichtet, aber eine Zwangssituation war es auch. Sie musste Geld verdienen, denn damals war die Gesetzgebung noch überhaupt nicht so entwickelt, dass ihr diese zwölf Jahre Berufsverbot wirklich hinreichend auf die Rente angerechnet worden wären. Sie hat dann einen Antrag gestellt auf Wiedergutmachung und hat dann nach wirklich zähen Mühen und Verhandlungen und auch ziemlichen Unverschämtheiten, was sie alles hätte beibringen sollen, was gar nicht beizubringen geht, hat dann einmalig 4.500 Mark gekriegt für die ganzen zwölf Jahre.
Pokatzky: Was hat Sie denn dann dazu veranlasst, dass Sie angefangen haben, so zu recherchieren, ein halbes Jahrhundert, nachdem Sie bei ihr Schülerin waren? Und was hat Sie dabei am meisten überrascht?
Schramm: Ja, ich habe immer an Frau Doktor Lux gedacht. Ich hatte auch mal da und da angerufen. Ich wusste, sie war in der Frauenbildung in Berlin tätig, aber dann war es nicht. Und ich hatte auch keine Zeit, aber ich habe - was man nennt - innere Monologe mit ihr geführt, als ich zum Beispiel Lehrer ausbildete, weil sie entsprach überhaupt nicht dem Bild, dem Ideal einer Lehrerin mit Methodenwechsel und jung und dynamisch sowieso nicht. Und warum konnte sie - nicht nur mich übrigens, das ist sehr wichtig, sondern sehr viele andere auch, so beeindrucken, ja? Ihr Leben gab mir so viele Fragen auf, die habe ich nicht vergessen. Die konnte ich gar nicht vergessen.
Pokatzky: Das heißt, sie hat sie über Jahrzehnte begleitet im Kopf?
Schramm: Ja, das muss man schon so sagen, immer mal wieder stärker, mal weniger - immer mal wieder. Und als ich dann pensioniert war, habe ich angefangen, und war selber erstaunt, auf was ich stoße, war auch erstaunt, dass es so viele Recherchen gibt, und ich auf so viele Neuigkeiten und auch interessante Themen übrigens, die ich auch vorher nicht so mir angeeignet hatte, nun gestoßen bin. Also sehr überrascht hat mich zum Beispiel, ich weiß es noch ganz genau, ich sitze in der Staatsbibliothek und entdecke dann, dass sie in einer kleinen Zeitschrift regimekritische Artikel nach 33 geschrieben hat. Wie kann das sein, eine Jüdin mit Berufsverbot? Und so weiter.
Pokatzky: Das alles ist nachzulesen, dringend empfehlenswert, in dem Band "Meine Lehrerin Doktor Dora Lux" von Hilde Schramm, bei der ich mich ganz herzlich bedanke. Erschienen ist der Band bei Rowohlt, mit 432 Seiten und kostet 19,95 Euro. Und im Internet auf rowohlt.de, da finden Sie auch die nächsten Lesetermine von Doktor Hilde Schramm im Juni in Berlin und in Heidelberg. Danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.