Eine Frau steigt aus
Gibt es ein Leben jenseits von Heimat und vertrauter Geschichte? In Judith Kuckarts Roman flieht eine Frau an ihrem 46. Geburtstag aus ihrer gewohnten Existenz - getrieben vom Wunsch nach Aufbruch und Abenteuer angesichts des drohenden Alters.
Eigentlich soll alles werden wie in jedem Jahr am Silvesterabend: Mit Mann und Sohn und Freunden der Jahreswechsel begangen, vor dem Fest der Film gesehen werden, in dem sie als junges Mädchen mitgespielt hatte. Ein Ritual, mit dem alle froh das neue Jahr feiern. Aber dieses Mal wird alles anders. Vera, die Protagonistin im neuen Roman der Berliner Autorin Judith Kuckart, verlässt das Haus ohne Mobiltelefon, ohne Hausschlüssel. Sie geht ins Schwimmbad und ergreift dort eine einzigartige Gelegenheit: In einer jüngeren Frau, die ihr ähnlich sieht, die mit ihr unter der Dusche steht, erkennt sie sich oder besser eine Variante ihrer selbst, eine andere Identität, die möglich wäre. Sie stiehlt der Frau Ausweis und Tasche – und verschwindet. Sie fährt nach London, wo sie vor vielen Jahren mit einer Freundin war, probiert dort ein neues Leben aus, lässt die vertraute Kleinstadt hinter sich und verschwindet in der Metropole, in der fremden Sprache.
Eine Frau flieht aus ihrer Existenz, sie will es noch einmal wissen: Gibt es ein Leben jenseits von Heimat und vertrauter Geschichte? Judith Kuckart erzählt variantenreich vom alten Traum nach einem neuen Leben, vom Wunsch nach Aufbruch und Abenteuer angesichts des drohenden Alters. Im Zentrum steht die Berufsschullehrerin, die ihre Angehörigen und Freunde ratlos zurück lässt. Dieser Kleinstadtbewohnerin, die in der Jugend eine Hauptrolle in einem Film spielen durfte und sich seitdem ausmalt, sie hätte auch Schauspielerin werden können, ist das Geschwisterpaar Wünsche dramaturgisch geschickt an die Seite gestellt. Die Beiden haben das Kaufhaus der Stadt geerbt und wollen es zurückverwandeln in einen altmodischen Ort der Wünsche jenseits von schnellem Konsum und pragmatischer Verkaufsstrategien. Die alte Drehtür wird wieder eingebaut, Symbol einer vergangenen Kaufhausepoche.
Dieses Geschwisterpaar, ein desillusionierter Manager und seine exzentrische Schwester am Rande jugendlicher Attraktivität, gehörten immer schon in die Biografie der Flüchtigen. Der eine hätte der Mann an ihrer Seite werden können, die andere war ihre beste Freundin. Aus wechselnden Perspektiven, an wechselnden Orten erzählt die Autorin vom Leben mittelalter Menschen, die erkennen müssen, dass ihre Zukunft hinter ihnen liegt und die nicht zuletzt deswegen mit aller Kraft um ihre Zukunftsträume kämpfen. Ein Jahr vergeht, und dann ist Vera wieder da. Sie kehrt zurück, alles ist geblieben, wie es war und alles hat sich doch verän¬dert. Sie hat das Glück nicht in der Ferne gefunden, kann aber nun in der Nähe getrost aufhören nach ihm zu suchen.
Am Ende steht also in diesem geschichtenreichen Roman nicht der große Aufbruch, sondern die Heimkehr, kein Ausrufezeichen beendet das Abenteuer, nur ein Punkt wird gesetzt. Bis dahin sind alle gekommen, hier sind sie zu Hause. Der Sohn ist erwachsen geworden, die Freunde sind geblieben, der Ehemann ist krank. Das ist alles nicht großartig, aber tröstlich. Der Schlusssatz ist schön und lakonisch: "In diesem Jahr wird das Jahr im September beginnen, und sie würde gerne rauchen."
Besprochen von Manuela Reichart
Eine Frau flieht aus ihrer Existenz, sie will es noch einmal wissen: Gibt es ein Leben jenseits von Heimat und vertrauter Geschichte? Judith Kuckart erzählt variantenreich vom alten Traum nach einem neuen Leben, vom Wunsch nach Aufbruch und Abenteuer angesichts des drohenden Alters. Im Zentrum steht die Berufsschullehrerin, die ihre Angehörigen und Freunde ratlos zurück lässt. Dieser Kleinstadtbewohnerin, die in der Jugend eine Hauptrolle in einem Film spielen durfte und sich seitdem ausmalt, sie hätte auch Schauspielerin werden können, ist das Geschwisterpaar Wünsche dramaturgisch geschickt an die Seite gestellt. Die Beiden haben das Kaufhaus der Stadt geerbt und wollen es zurückverwandeln in einen altmodischen Ort der Wünsche jenseits von schnellem Konsum und pragmatischer Verkaufsstrategien. Die alte Drehtür wird wieder eingebaut, Symbol einer vergangenen Kaufhausepoche.
Dieses Geschwisterpaar, ein desillusionierter Manager und seine exzentrische Schwester am Rande jugendlicher Attraktivität, gehörten immer schon in die Biografie der Flüchtigen. Der eine hätte der Mann an ihrer Seite werden können, die andere war ihre beste Freundin. Aus wechselnden Perspektiven, an wechselnden Orten erzählt die Autorin vom Leben mittelalter Menschen, die erkennen müssen, dass ihre Zukunft hinter ihnen liegt und die nicht zuletzt deswegen mit aller Kraft um ihre Zukunftsträume kämpfen. Ein Jahr vergeht, und dann ist Vera wieder da. Sie kehrt zurück, alles ist geblieben, wie es war und alles hat sich doch verän¬dert. Sie hat das Glück nicht in der Ferne gefunden, kann aber nun in der Nähe getrost aufhören nach ihm zu suchen.
Am Ende steht also in diesem geschichtenreichen Roman nicht der große Aufbruch, sondern die Heimkehr, kein Ausrufezeichen beendet das Abenteuer, nur ein Punkt wird gesetzt. Bis dahin sind alle gekommen, hier sind sie zu Hause. Der Sohn ist erwachsen geworden, die Freunde sind geblieben, der Ehemann ist krank. Das ist alles nicht großartig, aber tröstlich. Der Schlusssatz ist schön und lakonisch: "In diesem Jahr wird das Jahr im September beginnen, und sie würde gerne rauchen."
Besprochen von Manuela Reichart
Judith Kuckart: Wünsche
DuMont Verlag, Köln 2013
304 Seiten, 19,99 Euro
DuMont Verlag, Köln 2013
304 Seiten, 19,99 Euro