Eine Frau, was aus ihr wurde und was hätte sein können
Jenny Erpenbeck hat einen literarisch hoch ambitionierten und tief beeindruckenden Roman vorgelegt. Ausgehend vom Leben einer 1902 im galizischen Brody geborenen Beamtentochter, die später als Genossin H. in der DDR leben wird, gelingt ihr die Beschreibung eines ganzen Jahrhunderts.
Der neue Roman von Jenny Erpenbeck umfasst in fünf Kapiteln neunzig Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Zwischen die einzelnen Kapitel schiebt die 1967 in Ost-Berlin geborene Autorin jeweils ein "Intermezzo". In diesem "Zwischenspiel", das ist einer der vielen Kunstgriffe des Romans, variiert sie das Thema von Leben und Tod und beschreibt, was geschehen wäre, "wenn". Wenn das Leben anders verlaufen wäre, wenn der Säugling, der auf den ersten Seiten stirbt, nicht gestorben, sondern mit einem Klumpen Schnee ins Leben zurückgerufen worden wäre.
"Hätte" und "wäre", diese Wunschformen nimmt Jenny Erpenbeck so ernst, wie den Buchtitel, ein Sprichwort, von ihr allerdings unvollständig zitiert. In diesem Raum zwischen: "Es ist noch nicht aller Tage Abend" und "Aller Tage Abend", zwischen Leben und Tod, erzählt Jenny Erpenbeck vom Leben einer 1902 im galizischen Brody geborenen Beamtentochter, die auf der ersten Seite des Buches gestorben, aber eben doch gerettet worden ist, von ihrer Kindheit, ihrer jüdischen Mutter und ihrem arischen Vater, ihrer Politisierung und Begeisterung für das Programm der Kommunistischen Partei.
Sie kommt über Prag und Wien, wo sie 1920 der KPÖ beitritt , 1934 in die Sowjetunion. Als Genossin H. wird sie antimilitärische Schriften und einen Roman verfassen und verzweifelt ihren 1938 verhafteten Mann, den Genossen H., suchen. Schließlich wird sie von einem russischen Dichter schwanger werden, dessen Gedichte sie ins Deutsche übersetzt. Nach dem Krieg zieht sie mit ihrem Sohn nach Ost-Berlin und wird eine bekannte und mit Staats- und sonstigen Preisen hochgeehrte Schriftstellerin.
Die Genossin H., die nach ihrem frühen Tod Sascha, ihren siebzehnjährigen Sohn, hinterlässt, verwandelt sich, frei nach dem Thema, "was wäre wenn", im V. Kapitel in die 90-jährige Frau Hoffmann im Altersheim. Auf ihrer Beerdigung trifft ihr Sohn zum ersten mal in seinem Leben den russischen Dichter. Sie geben sich die Hand und wissen nicht, dass der eine der Sohn und der andere der Vater ist.
Jenny Erpenbeck erzählt den politischen und privaten Lebensweg dieser Frau als ein Leben in der Möglichkeitsform und schöpft die Spielformen des Fiktionalen aus. Wie würde die Welt aussehen, wenn die Sozialdemokraten nicht die "Frontlinie" zu den Kommunisten gezogen hätten? Was wäre, wenn die "Wand zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil Deutschlands" nicht im "Freudentaumel" umgerannt und die "Staatsgewalt" nicht in sich zusammengesackt wäre? Dass Jenny Erpenbeck als Vorlage die Lebensgeschichte ihrer Großmutter Hedda Zinner benutzt, die schon in ihrem letzten Roman "Heimsuchung" eine wichtige Rolle einnahm, ist überflüssig zu wissen. Was der Roman will und was ihm in seinem sprachlichen Variationsreichtum, der Ausbreitung unterschiedlicher Gefühlswelten und Geschwindigkeiten gleich der Komposition eines Musikstücks äußerst kunstvoll gelingt, ist eine Beschreibung des 20. Jahrhunderts. Ein politisch eindringlicher, literarisch hoch ambitionierter und tief beeindruckender Roman.
Von Verena Auffermann
Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend
Knaus Verlag, München 2012
283 Seiten, 24,99 Euro
"Hätte" und "wäre", diese Wunschformen nimmt Jenny Erpenbeck so ernst, wie den Buchtitel, ein Sprichwort, von ihr allerdings unvollständig zitiert. In diesem Raum zwischen: "Es ist noch nicht aller Tage Abend" und "Aller Tage Abend", zwischen Leben und Tod, erzählt Jenny Erpenbeck vom Leben einer 1902 im galizischen Brody geborenen Beamtentochter, die auf der ersten Seite des Buches gestorben, aber eben doch gerettet worden ist, von ihrer Kindheit, ihrer jüdischen Mutter und ihrem arischen Vater, ihrer Politisierung und Begeisterung für das Programm der Kommunistischen Partei.
Sie kommt über Prag und Wien, wo sie 1920 der KPÖ beitritt , 1934 in die Sowjetunion. Als Genossin H. wird sie antimilitärische Schriften und einen Roman verfassen und verzweifelt ihren 1938 verhafteten Mann, den Genossen H., suchen. Schließlich wird sie von einem russischen Dichter schwanger werden, dessen Gedichte sie ins Deutsche übersetzt. Nach dem Krieg zieht sie mit ihrem Sohn nach Ost-Berlin und wird eine bekannte und mit Staats- und sonstigen Preisen hochgeehrte Schriftstellerin.
Die Genossin H., die nach ihrem frühen Tod Sascha, ihren siebzehnjährigen Sohn, hinterlässt, verwandelt sich, frei nach dem Thema, "was wäre wenn", im V. Kapitel in die 90-jährige Frau Hoffmann im Altersheim. Auf ihrer Beerdigung trifft ihr Sohn zum ersten mal in seinem Leben den russischen Dichter. Sie geben sich die Hand und wissen nicht, dass der eine der Sohn und der andere der Vater ist.
Jenny Erpenbeck erzählt den politischen und privaten Lebensweg dieser Frau als ein Leben in der Möglichkeitsform und schöpft die Spielformen des Fiktionalen aus. Wie würde die Welt aussehen, wenn die Sozialdemokraten nicht die "Frontlinie" zu den Kommunisten gezogen hätten? Was wäre, wenn die "Wand zwischen dem östlichen und dem westlichen Teil Deutschlands" nicht im "Freudentaumel" umgerannt und die "Staatsgewalt" nicht in sich zusammengesackt wäre? Dass Jenny Erpenbeck als Vorlage die Lebensgeschichte ihrer Großmutter Hedda Zinner benutzt, die schon in ihrem letzten Roman "Heimsuchung" eine wichtige Rolle einnahm, ist überflüssig zu wissen. Was der Roman will und was ihm in seinem sprachlichen Variationsreichtum, der Ausbreitung unterschiedlicher Gefühlswelten und Geschwindigkeiten gleich der Komposition eines Musikstücks äußerst kunstvoll gelingt, ist eine Beschreibung des 20. Jahrhunderts. Ein politisch eindringlicher, literarisch hoch ambitionierter und tief beeindruckender Roman.
Von Verena Auffermann
Jenny Erpenbeck: Aller Tage Abend
Knaus Verlag, München 2012
283 Seiten, 24,99 Euro