Erziehung mit dem Rohrstock
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"Wer nicht hören will, muss fühlen" – dieser Spruch gehörte früher zum Erziehungsalltag. Schläge mit der Hand oder dem Stock waren für Eltern ein alltägliches Erziehungsmittel. Wenn der Teppichklopfer zum Einsatz kam, mutierte er zum "Liebmacher".
"Wir mussten uns vor der Balkontür in der Küche aufstellen. Schulter an Schulter, die Hände an der Hosennaht. Keine Ahnung, was wir ausgefressen hatten. Wird schon irgendwas vorgefallen sein, vielleicht hatten wir beide mal wieder unsere kleine Schwester geärgert. – Und wir wussten genau, was uns jetzt bevorstand."
So erinnert sich Ulrich Land an seine eigene Kindheit.
"Unsere Mutter baute sich vor uns auf, bedeutete uns noch einmal mit ausgestrecktem Zeigefinger, die Hände nicht zu bewegen. Für jedes reflexhafte nach oben Zucken der Hände, um das Gesicht zu schützen, würde es zwei Ohrfeigen extra hageln. Das gehörte zu den ungeschriebenen Statuten dieses Rituals. Und dann prasselte eine Serie von jeweils zehn 'Knallzijarren', wie unsere Mutter sich auszudrücken pflegte, auf uns nieder. Mir ist, als stünde ich auch Jahrzehnte später noch vor der Balkontür in der Küche."
Wer geprügelt wurde, hielt sich für den Täter
Die eigenen Kinder zu verprügeln, ist heute Eltern gesetzlich verboten. Wer jedoch in den ersten Nachkriegsjahrzehnten aufgewachsen ist, kennt die "Tracht Prügel" noch aus eigener schmerzhafter Erfahrung – nicht nur im Elternhaus, sondern auch in der Schule.
"Der Lehrer riss die Tür auf und – zack zack – hatte ich eine kleben. Ich war schockiert, konnte das überhaupt nicht verstehen, und dann war der zweite Gedanke: Ach, du warst zu laut! Och, ja mhm, ist richtig. Und bloß nicht zu Hause erzählen!"
So erinnert sich der Autor Willi Achten aus Aachen an seine Volksschulzeit in den 60er-Jahren.
"Es gab prügelnde Lehrer, die einfach in die Klasse reinkamen, wenn wir da zu laut waren, und dann um sich schlugen! Das war jetzt nicht die Regel. Aber es gab immer wieder solche Attacken. Derjenige, der geprügelt wurde, hielt sich für den Täter. Er fand diese Prügelstrafe gerecht; mir ist es einmal passiert, ich fühlte mich schuldig."
Festes Ritual im Umgang mit Straftätern
In früheren Jahrhunderten gehörte die Prügelstrafe in vielen Variationen zum festen Ritual beim Umgang mit Straftätern. Sie wurden gefesselt und mit Stöcken, Ruten, Ochsenziemern und Peitschen auf Gesäß, Fußsohlen oder Rücken geschlagen.
Man hoffte, dass der Gezüchtigte durch die Lektion ein für alle Mal eines Besseren belehrt werde. Und durch die drastische Demütigung sollte bei den Betroffenen eine Langzeitwirkung erreicht werden.
"Die Strafbehörden praktizierten die Prügelstrafe wie jede peinliche Strafe in der Öffentlichkeit. Im Mittelpunkt der Strafe standen damit Vergeltung, Sühne, aber auch die präventive Abschreckung."
So der Rechtshistoriker Frank Schäfer von der Universität Freiburg. Mit der Aufklärung und den Revolutionen des 19. Jahrhunderts mehrten sich die Zweifel an diesen drastischen Erziehungsmitteln. Und doch setzte sich mit der Prügelstrafe bis ins späte 20. Jahrhundert eine archaische Form der Erziehung durch Züchtigung fort.
Widerspruch gegen die Lehrerin – eine Frechheit
"Der liberale Zeitgeist sah in der Prügelstrafe ein Unterdrückungsinstrument zur Ausdifferenzierung sozialer Klassen, weil die Prügelstrafe de facto die Strafe für das Prekariat war", sagt Frank Schäfer.
So sah die Frankfurter Nationalversammlung in ihrem revolutionären Verfassungsentwurf 1849 die Abschaffung von Todesstrafe, Pranger und körperlicher Züchtigung vor. Die Revolution scheiterte, Reformen kamen nur langsam in Gang – und das Bürgertum prügelte weiter den eigenen Nachwuchs – oder der Ehemann die eigene Frau. Das Recht hatte er.
"Auf dem rechten Schulterblatte der Maria Cornelia Spees finden sich kreuz und quer verlaufende, gelblich-braune Streifen in der Haut in einer Ausdehnung von 15 zu 10 Centimetern. Der Rand des Knochens ist auf Druck sehr schmerzhaft. Die Haut zeigt sich angeschwollen, die Bewegung des rechten Armes infolge dessen sehr schmerzhaft. Unterhalb des linken Schulterblattes ziehen sich 3 einzelne Striemen von circa 6 Centimetern nach der Wirbelsäule hin. – Die genannte Spees wird mehrere Tage noch heftige Schmerzen spüren."
So berichtete der Kreisphysikus 1887 im Kreis Heinsberg von einer misshandelten Schülerin, die protestiert hatte, dass die Lehrerin eine Seite aus ihrem Schulheft gerissen hatte. Die Lehrerin reagierte auf den Protest der Schülerin mit der Bemerkung: "Diese Frechheit konnte ich nicht unbestraft lassen."
Auf den Bericht des Kreisschulinspektors antwortet der Lokalschulinspektor 1887:
"Euer Hochwohlgeboren,
die Züchtigung, die das Kind von der Lehrerin empfangen, war wohl verdient und notwendig. Es hat die That nicht aus Übereilung, im Moment einer augenblicklichen Erregung, sondern mit kalter, ruhiger Überlegung vorbereitet und ausgeführt. Und mit beispielloser Frechheit, öffentlich, vor der ganzen Klasse, in ostentativer, ich möchte sagen, theatralischer Weise der Lehrerin Trotz geboten. Ich meinerseits bedauere jeden Hieb, der bei dieser Gelegenheit etwa sein Ziel verfehlt haben sollte."
die Züchtigung, die das Kind von der Lehrerin empfangen, war wohl verdient und notwendig. Es hat die That nicht aus Übereilung, im Moment einer augenblicklichen Erregung, sondern mit kalter, ruhiger Überlegung vorbereitet und ausgeführt. Und mit beispielloser Frechheit, öffentlich, vor der ganzen Klasse, in ostentativer, ich möchte sagen, theatralischer Weise der Lehrerin Trotz geboten. Ich meinerseits bedauere jeden Hieb, der bei dieser Gelegenheit etwa sein Ziel verfehlt haben sollte."
Mit diesen Erziehungspraktiken wandelte die deutsche Gesellschaft im europäischen Vergleich nicht auf einem Sonderweg. Radikalisiert wurde die Prügelpädagogik allerdings in der Nazizeit, als Erziehung zu Härte durchgesetzt wurde.
"Das Prügeln ist in der Nazi-Zeit noch mal ganz massiv pervertiert worden, da aber das Personal in den Heimen nach '45 annähernd das gleiche war wie vor '45, ist die Prügelstrafe als grobes Erziehungsmittel einfach beibehalten worden. … Das ist die größte humanitäre Katastrophe in der Bundesrepublik, das waren 800.000 Kinder, die in den vierziger, fünfziger, sechziger Jahren in Deutschland in Heimen leben mussten. 800.000!", sagt Willi Achten.
Autoritäre Nachkriegsväter ohne Autorität
Im familiären Alltag gab es Züchtigungen vielfältiger Art, die schillernde Bezeichnungen trugen: Ohrfeigen, Maulschellen, Backpfeifen oder Schläge mit dem Teppichklopfer, dem die Eltern den klangvollen Namen "Liebmacher" gaben.
"Was im Rückblick erstaunt, ist, dass sowohl Väter wie Mütter nicht nur geschlagen haben, sondern ja auch zugesehen haben. Wie Kinder buchstäblich verprügelt wurden – und zwar so, dass sie nicht mehr sitzen konnten, dass sie eine geschwollene Backe hatten", sagt die Historikerin Barbara Stambolis rückblickend.
"Aber es gehörte offenbar derartig dazu, dass selbst die, die hätten eingreifen können, das nicht getan haben. Vielleicht ein stilles Einverständnis, wo ein Vater eben aus dem Kriege zurückgekommen ist, der autoritär ist, aber eigentlich keine Autorität mehr hat."
Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wuchs allerdings auch das Bewusstsein, dass Prügel kein Erziehungsinstrument sein dürften. Seit dem Jahr 2000 ist das Züchtigungsrecht auch in der Familie abgeschafft.
Und Ulrich Land hat sich als Erwachsener noch mal mit seiner Mutter über die Kindheitserfahrungen ausgesprochen.
"Mit meiner Mutter hab ich mich ausgesöhnt. Rechtzeitig noch. Ich hab ihr den, wie ich glaube, größten Irrtum ihres Lebens verziehen. Zumal ich weiß – noch mal bestärkt durch die Recherchen zu dieser Sendung –, dass sie beileibe nicht die einzige war, die diesen Irrtum bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts getragen hat."