"Eine gewaltige Herausforderung"

Zafer Senocak im Gespräch mit Katrin Heise |
Der Schriftsteller Zafer Senocak sieht bei der Einwanderungsdebatte in Deutschland die soziale Frage völlig vernachlässigt. Die Angst der Deutschen vor Veränderungen durch Migration sei erst am Ende des Prozesses entstanden. Senocak ist Autor des 2011 erschienenen Buches "Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift".
Katrin Heise: Im Oktober 1961, da wurde zwischen der Bundesrepublik und der Türkei ein Anwerbeabkommen unterzeichnet. Damit jährt sich jetzt also der Beginn der türkischen Einwanderung nach Deutschland zum 50. Mal. Aber das Abkommen war überhaupt gar nicht als Startschuss für Einwanderung gedacht, es war vielmehr von wirtschaftlichen Interessen geprägt. Die Türkei einerseits wollte westliche Devisen und die deutschen Unternehmer andererseits, die wollten billige Arbeitskräfte. Die Angeworbenen hießen Gastarbeiter, sie sollten also nicht bleiben und sie wollten das auch gar nicht. Doch es kam anders.
Wie sich das Einwanderungsland Deutschland in diesen Jahren verändert hat, das beobachtet der Schriftsteller Zafer Senocak, der 1970 als Neunjähriger nach Deutschland gekommen ist. Er schreibt Gedichte und Erzählungen, beteiligt sich aber auch immer wieder an der Migranten-Leitkultur-Was-ist-deutsch-Debatte. Sein letztes Werk stammt aus diesem Sommer und befasst sich unter dem Titel "Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift" genau mit diesem Thema. Schön, dass Sie Zeit haben, Herr Senocak, schönen guten Tag!

Zafer Senocak: Hallo, guten Tag!

Heise: Die Einwanderung der Türken hat das deutsche Selbstverständnis ja immer wieder herausgefordert. Warum hatten und warum haben die Deutschen es eigentlich so schwer mit diesem Thema?

Senocak: Also, ich würde erst mal sagen, das Thema ist ja sehr spät entdeckt worden als Herausforderung. Die Einwanderungsdebatte als solche ist ja eigentlich nicht sehr alt, also, die ist ja eigentlich tatsächlich, wie Sie schon gesagt haben, so Anfang der 2000er-Jahre losgegangen und führte im Grunde genommen bisher vor allem zu gewissen Ängsten, die sehr viel zu tun haben mit einer starken Veränderung des Landes durch die Einwanderung. Und interessanterweise ist es eben nicht ein Angstkomplex, der am Beginn der Einwanderung steht, sondern mehr oder weniger am Ende. Also, es ist ja eigentlich ein Prozess, der über 40, 45 Jahre schon gelaufen war. Und danach wurden sozusagen die Ergebnisse inspiziert und ...

Heise: ... und als schlecht befunden? Ist das eine Veränderung, die Angst macht?

Senocak: Ich würde es nicht so pauschal sagen, weil man auch immer wieder ja auch davon profitiert und das ja auch spürt. Ich meine, viele deutsche Großstädte ohne Einwanderung sehen heute einfach ein bisschen traurig aus, glaube ich, wenn man sich das überhaupt vorstellen kann ...

Heise: ... nein, kann man sich, glaube ich, nicht mehr vorstellen ...

Senocak: ... ja, und das heißt, es ist eben nicht nur schlecht. Aber es ist einfach so, es ist natürlich eine gewaltige Herausforderung, weil man ja in Deutschland vor allem eine ganz gezielte Anwerbepolitik gehabt hat in den 60er-Jahren, Menschen mit sehr geringen Qualifikationen, eigentlich mit gar keinen Qualifikationen anzuwerben, sehr viele Menschen konnten kaum lesen und schreiben in der ersten Generation. Und natürlich sind auch gerade Menschen gekommen, die natürlich in ihrem Heimatland nicht mehr sozusagen besonders gut leben konnten. Das heißt, wir haben eine ganz bestimmte Gruppe angeworben von Menschen, das hat mit Nationalität gar nichts zu tun ...

Heise: ... sondern es ist eine soziale Frage.

Senocak: Absolut. Unser Fehler in den letzten Jahren war, dass wir tatsächlich also in einer sehr forschen Art und Weise eine Nationalitätendebatte daraus gemacht haben, eine religiöse Debatte daraus gemacht haben, statt auf die sozialen Umstände zu schauen, auf die Hintergründe der Menschen.

Heise: Auf die Frage, was heißt es eigentlich, dass Deutschland Einwanderungsland geworden ist, da steht in Ihrem Buch "Deutschsein", es bedeutet, dass auch die Deutschen in ihr eigenes Land einwandern müssen. Warum eigentlich, ich meine, haben beide denn die gleichen Ausgangspositionen?

Senocak: Das ist genau das, was ich meine. Deutschland hat sich so stark verändert, und wenn man lange Zeit diese Veränderungen ignoriert hat, dann ist man natürlich ganz erstaunt darüber, in welchem Land man dann lebt. Und das ist ein Komplex, der sehr schwierig anzusprechen ist, weil das natürlich auch sehr stark – und deswegen habe ich mein Buch auch so genannt – mit dem Deutschsein, mit dem Gefühl für das Deutschsein zu tun hat ...

Heise: ... mit der eigenen Identität, mit der die Deutschen selber Schwierigkeiten haben, ob mit oder ohne Ausländer.

Senocak: Ja, genau. Das hat natürlich historische Ursachen, wir haben natürlich auch viel Veränderung erlebt nach der Wiedervereinigung, das muss man auch mit berücksichtigen, Deutschland heute ist ja nicht Bundesrepublik 1988. Das ist ein anderes Land und deshalb glaube ich, dass sowohl die Deutschen als auch die Menschen, die hierhergekommen sind, tatsächlich noch mal einwandern müssen mehr oder weniger. Ich habe auch gesprochen, dass man eine Art zweite Anwerbung braucht. Weil die erste Anwerbung spricht ja viele Menschen gar nicht an: Jetzt nehmen Sie mal so als Bild jemand, der in Berlin geboren ist, der Enkel von Gastarbeitern ist, also in der dritten Generation, es gibt inzwischen die vierte. Wenn man diese Menschen jetzt als Migranten anspricht, dann hat man auch einen Sprachfehler eigentlich, weil Migranten sind ja Menschen, die sich bewegen von einem Land ins andere, die bewegen sich egal ...

Heise: ... die bewegen sich ja schon seit drei, vier Generationen, gar nicht mehr ...

Senocak: ... absolut, das sind ja Leute, die Frankfurter sind, Berliner sind, Stuttgarter sind. Das heißt, wir brauchen tatsächlich, wirklich eine differenzierte Ansprache. Heute geht es tatsächlich um so eine Art Heimfindung von Menschen, die ja schon hier sich niedergelassen haben.

Heise: Mit dem Schriftsteller Zafer Senocak unterhalte ich mich darüber, wie die türkischen Einwanderer Deutschland verändert haben. Herr Senocak, ich möchte eigentlich aber auch noch mal auf Ihre Ankunft 1970 als Neunjähriger in Bayern kommen. Wie war das damals? So in der Rückschau, haben Sie diesen Umzug nach Deutschland als Entwurzelung erlebt? Ich meine, als Kind wahrscheinlich eher als Abenteuer, aber im Rückblick eben?

Senocak: Ja, mehr Abenteuer, tatsächlich, da haben Sie völlig recht, und ich bin ja auch von Istanbul nach München gekommen ...

Heise: ... Großstadt zu Großstadt ...

Senocak: ... ja, mehr oder weniger. Und das heißt, ich hatte auch nicht diesen kulturellen Bruch so gespürt. Ich meine, als Kind nimmt man die Dinge sowieso etwas anders wahr natürlich. Ich finde übrigens Kindheiten sehr wichtig. Also, ich glaube, die Kindheiten schreiben eigentlich die Einwanderungsgeschichten und auch die Gefühle. Und ich hatte zum Beispiel eine sehr geborgene, sehr glückliche Kindheit in Deutschland. Das hat mich sehr geprägt, das hat mich auch an dieses Land gebunden bis heute.

Heise: Das heißt, Sie haben sich auch nicht fremd, nicht diskriminiert, nicht unerwünscht gefühlt?

Senocak: Nicht im Geringsten. Und ich habe eigentlich diese Debatte der Fremdheit und Andersartigkeit erst später, in den 80er-Jahren, für mich selbst entdeckt, weil sie von außen an mich herangetragen wurde. Ich war zum Beispiel der einzige Schüler aus der Türkei in der Schule, der einzige. Wir wurden aber – und das ist eine Erfahrung, die ich, glaube ich, mit anderen auch teilweise teile – gar nicht so sehr als andere, Ausländer, Fremde angesprochen. Ich kann das etwas konkretisieren: Ich habe zum Beispiel angefangen Ende der 70er-Jahre, Gedichte zu schreiben, ich habe am Anfang auch in zwei Sprachen geschrieben, aber vor allem auch in deutscher Sprache, und ich traf mich mit meinen Kollegen in München und wir lasen uns gegenseitig Gedichte vor. Und da standen Gedichte im Mittelpunkt, das, was man schrieb. Und es war überhaupt kein Thema, dass ich aus der Türkei kam oder so, das war überhaupt kein Anlass einer Diskussion. Und was dann kam, Ende der 80er-Jahre entdeckte plötzlich die deutsche Öffentlichkeit, vor allem auch die literarische Öffentlichkeit, ein Thema, und das hieß: Ausländer schreiben deutsch.

Heise: Ist das schlecht, also, dass dieses Thema entdeckt wurde?

Senocak: Ja, weil ich kein Ausländer war. Das war nicht mein Gefühl. Ich war vielleicht dem Pass nach Ausländer, aber nicht dem Gefühl nach. Ich war eingegangen eigentlich in diese literarische Szene und ich empfand mich nicht als Ausländer.

Heise: Wenn wir noch mal auf den Ausgangspunkt unseres Gesprächs zurückkommen: Sie haben gesagt, Deutschland hat eigentlich erst sehr spät das Einwanderungsland an sich entdeckt, und wenn ich das jetzt damit verbinde, was Sie gerade gesagt haben, dann ist dieses Entdecken dieses Einwanderungsphänomens ja eigentlich dann eher schlecht, weil man dann plötzlich die Einwanderer abstempelt. Hätte man es einfach weiter treiben lassen sollen?

Senocak: Das macht dieses Thema so komplex, weil das tatsächlich der innere Widerspruch dieses Themas ist. Man kann natürlich nicht immer alles laufen lassen in der Gesellschaft, wenn es Probleme gibt, muss man die ansprechen. Aber ich kann nur wiederholen: Wenn es Probleme gibt, muss man die Probleme ansprechen, und nicht die Volksgruppen und die Hintergründe der Menschen, und die Hintergründe immer zu Vordergründen machen. Es gibt doch dieses Modewort: Mensch mit Migrationshintergrund. Das ist so eine Beschreibung für Zuwandererkinder vor allem. Ich habe immer noch das Gefühl, wir haben viel mehr mit Vordergründen als mit Hintergründen zu tun hier, und das ist vielleicht auch ein Grund für unsere Langsamkeit in der Entwicklung.

Heise: Wie empfinden Sie vor diesem Hintergrund, über den wir gerade gesprochen haben, oder Vordergrund, die Feiern, die Feierlichkeiten zu den 50 Jahren? Ist das dann was Vorgeschobenes oder können Sie sich da auch drüber freuen?

Senocak: Also, ich bin kein Mensch, der so Jahrestage, Rituale, ein besonderes Verhältnis dazu hat, muss ich sagen, da bin ich sehr unmusikalisch. Aber es wäre natürlich gut, wenn es zum Anlass wird, auch über diesen Prozess nachzudenken, auch kritisch nachzudenken, auch über unsere Gespräche nachzudenken, über unsere Kommunikation nachzudenken.

Heise: Haben Sie da Hoffnung?

Senocak: Ich habe Hoffnung, ja, weil, es gibt ja gar keine Alternative. Und eins wird ja vergessen: Bei aller Schwarzmalerei: Viele, viele Menschen fühlen sich in diesem Land ja wohl. Und deshalb lebt man ja hier. Und das hat nichts mit Deutschsein und Türkischsein zu tun, sondern es hat damit zu tun, dass wir in einem freien, offenen Land leben. Und das ist, glaube ich, das Wichtigste von allem.

Heise: Das sagt der Schriftsteller Zafer Senocak. Ich bedanke mich sehr herzlich für dieses Gespräch, Herr Senocak.

Senocak: Gern geschehen!

Heise: Das 50-jährige Zusammenleben von türkischen Einwanderern und Deutschen ist für uns im "Radiofeuilleton" in dieser Woche Anlass, es aus unterschiedlichsten Blickwinkeln heraus zu betrachten. Heute Nachmittag hören wir zum Beispiel den Musikproduzenten Ünal Yüksel. Einen Überblick übers ganze Thema erhalten Sie auf unserer Internetseite www.dradio.de.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


Links bei dradio.de:

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