"Eine große Entscheidung für die Literatur"
Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk erhält in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Das teilte der Börsenverein in Frankfurt am Main mit. Die Literaturkritikerin Maike Albath bezeichnete dies als "eine große Entscheidung für die Literatur".
Maja Ellmenreich: Frau Albath, Orhan Pamuk sagt selbst, meine Literatur ist unpolitisch, ich möchte als Schriftsteller im Elfenbeinturm leben. Bei dem, was wir gerade über ihn und von ihm gehört haben, sind solche Aussagen reine Koketterie?
Maike Albath: Koketterie ist das ganz sicherlich nicht. Gerade in dem letzten Roman "Schnee" geht es dauernd um politische Fragen. Es wird immer wieder erwähnt, welches Haus vor dem Völkermord von Armenien bewohnt war, und er hat aus seinen Überzeugungen auch nie einen Hehl gemacht. Man hat ihn ja immer sehr gerne in Anspruch genommen als jemand, der Auskunft geben kann über die Türkei. Er hat dann sehr offen schon seit vielen Jahren über die Probleme gesprochen. Er hat auch immer Salman Rushdie verteidigt. Also er ist durchaus jemand, der Stellung genommen hat, aber er ist ein Verfechter der Vieldeutigkeit. Er ist ein Literat, jemand, der auf politische Fragen immer mit Literatur geantwortet hat und der nie festzulegen ist auf Schuldzuschreibungen oder auf ganz einfache Antworten. Er ist eben jemand, der Ambivalenzen erzeugt und Fragen in ihrer Komplexität auch bestehen lässt und keine Antworten in dem Sinne auch gibt.
Ellmenreich: Könnte man dann sagen, dass es ein Friedenspreisträger par excellence ist? Denn in dem Statut heißt es, es sollen Persönlichkeiten ausgezeichnet werden, die zur Verweltlichung des Friedensgedankes beitragen.
Albath: Es ist eine sehr kluge Entscheidung, und es ist eine naheliegende Entscheidung. Ich finde es schön, dass Orhan Pamuk diesen Preis bekommt. Das ist eine große Entscheidung für die Literatur, denn natürlich wird er einerseits als Person gewürdigt, als jemand, der sein Land erklären kann, der es nach außen vertritt, aber andrerseits seine großartigen Romane. Gerade "Schnee", der Roman, der zuletzt in Deutschland erschienen ist, ist eben ein Werk, das die Türkei in ihrer Zerrissenheit in den Blick nimmt. Auch da ist es wiederum so, dass mitnichten die säkularen Kräfte als die guten dargestellt werden oder die Islamisten als die bösen. Es gibt immer wieder überraschende Umkehrungen, dass man zum Beispiel einen Islamisten auf einmal sympathisch findet. Es gibt eine Hauptfigur, einen Dichter, der im Exil in Frankfurt lebt. Aus politischen Gründen ging er 1980 dorthin, und er kehrt 1992 zurück in die Türkei, fährt mit einem Bus durch dieses schneebedeckte Land nach Ostanatolien und soll dort im Auftrag einer Zeitung einer Selbstmordserie nachgehen. Die jungen Mädchen begehen offensichtlich Selbstmord, weil sie ihre Kopftücher nicht tragen dürfen, also das führt schon direkt ins Zentrum der großen politischen Fragen. Dieser Dichter kommt in Kontakt mit dem, was die Türkei ausmacht, und er merkt auch, dass er selber abgeschnitten ist von seinen Wurzeln, dass ihm die Inspiration fehlt, und es gibt eine große Sehnsucht nach metaphysischer Verankerung, auch das wird thematisiert.
Ellmenreich: Ist das jetzt eine Art Missverständnis, die Türkei möchte auf der einen Seite in die EU, könnte also in Pamuk einen Repräsentanten, einen Fürsprecher, einen Vertreter finden, aber er distanziert sich ganz klar von ihm?
Albath: Die Türkei müsste den Spieß umdrehen, denn Pamuk ist natürlich eigentlich derjenige, der als Botschafter der Kultur und Literatur die Türkei als das vertreten könnte, was sie sein kann. Das ist ja gerade die großartige Chance. Es bleibt zu hoffen, dass dies erkannt wird und man ihn nicht mehr beschimpft, so wie es in den letzten Wochen passiert ist. Man hat ihn ja dann als elenden Nestbeschmutzer tituliert und ihm wirklich sehr viel Böses gewollt, und das hat ihn, glaube ich, auch sehr erschüttert, dass sein Buch und seine Stellungnahmen diese Wirkung haben konnten. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hat ja sehr schöne Motti in dem letzten Roman vorangestellt, eines ist von Dostojewski, so wie er übrigens insgesamt die Kultur, die Literatur des Westens auf sehr kluge und überraschende Weise immer wieder mit einbezieht in sein literarisches Kosmos. Also die Russen sind es ebenso wie Borges. Dieses Motto von Dostojewski lautet, europäische Aufklärung ist wichtiger als das Volk. Aber er ist eben jemand auch da, der nicht einfach als Aufklärer agiert, sondern er versucht es zu verdichten in eine sehr magische und allegorische Literatur, ohne dass die Füllung in der Realität verlöre. Er hat einen sehr schönen Artikel im "New Yorker" vor wenigen Wochen geschrieben über das türkische Wohnzimmer. Der hat mir ganz großartig gefallen, denn da beschreibt er, wie in der Türkei immer wieder Wohnzimmer eingerichtet werden nach westlichem Vorbild mit Klavier und Glasvitrine und einer Bücherreihe und dann auf der anderen Seite dieses Wohnzimmer nie betreten wird, als gäbe es keine Verknüpfung zwischen diesem Wohnzimmer als Raum, als könne das nicht mit Bedeutung gefüllt werden und mit der türkischen Identität. Dieser neue Roman zielt eben auf das türkische Selbstverständnis, auf das, was die Türkei sein könnte. Es ist der Versuch, sich zu verbinden mit den Urkräften des Türkischen, mit dem, was diese Nation auch ausmachen könnte, und der Frage, wie geht man jetzt um mit extremistischer Gewalt, und wie kann sich das alles lösen?
Ellmenreich: Ist der Roman "Schnee" Ihrer Meinung nach ein guter Einstieg in das Werk von Orhan Pamuk?
Albath: Für mich war dieses Buch eines der großartigsten in diesem Frühjahr. Es ist ein sehr eingängiges Buch. Er kann wunderbar mit Dialogen arbeiten und hat diesen Dichter als eine Gestalt, die doppelgesichtig ist, präsentiert, ein Motiv, mit dem er immer wieder spielt, jemand, der einerseits seine Wurzeln verloren oder vergessen hat und andrerseits an den Westen angebunden ist und wieder zurückkehrt. Das Reisemotiv, jemand unternimmt eine Winterreise und insgesamt eine Tour d'Horizont durch die europäische Literatur.
Maike Albath: Koketterie ist das ganz sicherlich nicht. Gerade in dem letzten Roman "Schnee" geht es dauernd um politische Fragen. Es wird immer wieder erwähnt, welches Haus vor dem Völkermord von Armenien bewohnt war, und er hat aus seinen Überzeugungen auch nie einen Hehl gemacht. Man hat ihn ja immer sehr gerne in Anspruch genommen als jemand, der Auskunft geben kann über die Türkei. Er hat dann sehr offen schon seit vielen Jahren über die Probleme gesprochen. Er hat auch immer Salman Rushdie verteidigt. Also er ist durchaus jemand, der Stellung genommen hat, aber er ist ein Verfechter der Vieldeutigkeit. Er ist ein Literat, jemand, der auf politische Fragen immer mit Literatur geantwortet hat und der nie festzulegen ist auf Schuldzuschreibungen oder auf ganz einfache Antworten. Er ist eben jemand, der Ambivalenzen erzeugt und Fragen in ihrer Komplexität auch bestehen lässt und keine Antworten in dem Sinne auch gibt.
Ellmenreich: Könnte man dann sagen, dass es ein Friedenspreisträger par excellence ist? Denn in dem Statut heißt es, es sollen Persönlichkeiten ausgezeichnet werden, die zur Verweltlichung des Friedensgedankes beitragen.
Albath: Es ist eine sehr kluge Entscheidung, und es ist eine naheliegende Entscheidung. Ich finde es schön, dass Orhan Pamuk diesen Preis bekommt. Das ist eine große Entscheidung für die Literatur, denn natürlich wird er einerseits als Person gewürdigt, als jemand, der sein Land erklären kann, der es nach außen vertritt, aber andrerseits seine großartigen Romane. Gerade "Schnee", der Roman, der zuletzt in Deutschland erschienen ist, ist eben ein Werk, das die Türkei in ihrer Zerrissenheit in den Blick nimmt. Auch da ist es wiederum so, dass mitnichten die säkularen Kräfte als die guten dargestellt werden oder die Islamisten als die bösen. Es gibt immer wieder überraschende Umkehrungen, dass man zum Beispiel einen Islamisten auf einmal sympathisch findet. Es gibt eine Hauptfigur, einen Dichter, der im Exil in Frankfurt lebt. Aus politischen Gründen ging er 1980 dorthin, und er kehrt 1992 zurück in die Türkei, fährt mit einem Bus durch dieses schneebedeckte Land nach Ostanatolien und soll dort im Auftrag einer Zeitung einer Selbstmordserie nachgehen. Die jungen Mädchen begehen offensichtlich Selbstmord, weil sie ihre Kopftücher nicht tragen dürfen, also das führt schon direkt ins Zentrum der großen politischen Fragen. Dieser Dichter kommt in Kontakt mit dem, was die Türkei ausmacht, und er merkt auch, dass er selber abgeschnitten ist von seinen Wurzeln, dass ihm die Inspiration fehlt, und es gibt eine große Sehnsucht nach metaphysischer Verankerung, auch das wird thematisiert.
Ellmenreich: Ist das jetzt eine Art Missverständnis, die Türkei möchte auf der einen Seite in die EU, könnte also in Pamuk einen Repräsentanten, einen Fürsprecher, einen Vertreter finden, aber er distanziert sich ganz klar von ihm?
Albath: Die Türkei müsste den Spieß umdrehen, denn Pamuk ist natürlich eigentlich derjenige, der als Botschafter der Kultur und Literatur die Türkei als das vertreten könnte, was sie sein kann. Das ist ja gerade die großartige Chance. Es bleibt zu hoffen, dass dies erkannt wird und man ihn nicht mehr beschimpft, so wie es in den letzten Wochen passiert ist. Man hat ihn ja dann als elenden Nestbeschmutzer tituliert und ihm wirklich sehr viel Böses gewollt, und das hat ihn, glaube ich, auch sehr erschüttert, dass sein Buch und seine Stellungnahmen diese Wirkung haben konnten. Damit hatte er nicht gerechnet. Er hat ja sehr schöne Motti in dem letzten Roman vorangestellt, eines ist von Dostojewski, so wie er übrigens insgesamt die Kultur, die Literatur des Westens auf sehr kluge und überraschende Weise immer wieder mit einbezieht in sein literarisches Kosmos. Also die Russen sind es ebenso wie Borges. Dieses Motto von Dostojewski lautet, europäische Aufklärung ist wichtiger als das Volk. Aber er ist eben jemand auch da, der nicht einfach als Aufklärer agiert, sondern er versucht es zu verdichten in eine sehr magische und allegorische Literatur, ohne dass die Füllung in der Realität verlöre. Er hat einen sehr schönen Artikel im "New Yorker" vor wenigen Wochen geschrieben über das türkische Wohnzimmer. Der hat mir ganz großartig gefallen, denn da beschreibt er, wie in der Türkei immer wieder Wohnzimmer eingerichtet werden nach westlichem Vorbild mit Klavier und Glasvitrine und einer Bücherreihe und dann auf der anderen Seite dieses Wohnzimmer nie betreten wird, als gäbe es keine Verknüpfung zwischen diesem Wohnzimmer als Raum, als könne das nicht mit Bedeutung gefüllt werden und mit der türkischen Identität. Dieser neue Roman zielt eben auf das türkische Selbstverständnis, auf das, was die Türkei sein könnte. Es ist der Versuch, sich zu verbinden mit den Urkräften des Türkischen, mit dem, was diese Nation auch ausmachen könnte, und der Frage, wie geht man jetzt um mit extremistischer Gewalt, und wie kann sich das alles lösen?
Ellmenreich: Ist der Roman "Schnee" Ihrer Meinung nach ein guter Einstieg in das Werk von Orhan Pamuk?
Albath: Für mich war dieses Buch eines der großartigsten in diesem Frühjahr. Es ist ein sehr eingängiges Buch. Er kann wunderbar mit Dialogen arbeiten und hat diesen Dichter als eine Gestalt, die doppelgesichtig ist, präsentiert, ein Motiv, mit dem er immer wieder spielt, jemand, der einerseits seine Wurzeln verloren oder vergessen hat und andrerseits an den Westen angebunden ist und wieder zurückkehrt. Das Reisemotiv, jemand unternimmt eine Winterreise und insgesamt eine Tour d'Horizont durch die europäische Literatur.