Eine Hausgemeinschaft und die Schleppermafia

"Wir haben Deine Schwester!"

In einem Haus wird eine Gruppe von Flüchtlingen von einem Schleuser versteckt.
Das schmutzige Geschäft mit der Flucht: Angehörige zahlen oft Hunderte oder Tausende Euro, um ihren in Libyen festgehaltenen Verwandten zu helfen. © imago/epd
Von Jenni Roth |
Khaled floh aus Eritrea und wohnt in einer niedersächsischen Hausgemeinschaft. Seine Schwester wollte ihm folgen. Doch sie wird in Libyen von Schleppern festgehalten, die Khaled erpressen und immer wieder Geld fordern.

Kapitel 1: Khaled

Ein großer Tisch im Esszimmer von Antje und Rolf. Ute und Bernd von oben sind zum Essen gekommen, die beiden Kinder sind da und Khaled (*) aus Eritrea. Er wohnt ganz oben im Haus, in einer Mansardenwohnung. Ein Wohngebiet in einer mittelgroßen Stadt in Niedersachsen. Kopfsteinpflasteridylle, Schlüsselblumen in den Vorgärten. Draußen weht im Wind die Wäsche an der Leine. Das Haus: himmelblau gestrichen.
Antje hat den Tisch gedeckt. Käse, Tomaten, Butter. Helles Brot, dunkles Brot. Khaled nimmt das helle. Schmeckt vertrauter, erinnert ein bisschen an das Fladenbrot in Afrika. Khaled ist 20 Jahre alt. Schmal, klein, ein kantiges flächiges Gesicht. Zierliche Hände, die lockigen Haare kurz geschoren. Er trägt gebleichte Jeans und Flip Flops. Vor vier Jahren ist er aus seiner Heimat Eritrea geflohen. Die Menschen am Tisch, sie sind seine neue Familie.
Khaled: "Ich bleibe hier, bis ich 60 bin."
Als er vor zwei Jahren hier einzog, hatten Antje und ihr Mann Rolf keine Ahnung, was das bedeuten kann: ein eritreischer Flüchtling im Haus.
Antje: "Du musst das nicht essen."
Khaled schiebt verlegen sein Besteck auf dem Teller zurecht. Dieser Käse – nein, lieber doch nicht.
Antje: "Aber wenn es akut ist, ist er ganz anders drauf. Als sehr belastet erleben wir ihn dann."
"Akut" ist es ziemlich oft. Vor einem Jahr kam der erste Anruf. An einem Novembertag. Khaled sitzt bei einem Freund auf der Couch. Vertieft in Facebook. Sie klicken sich durch Videos, die Freunde auf der Flucht aufnehmen. Immer wieder ist jemand dabei, den sie kennen. An diesem Tag wieder die Nachricht von einem Bekannten, der auf dem Mittelmeer ertrunken ist. Die Videos treiben sie zur Verzweiflung. Aber es ist wie ein Sog, sie schauen immer weiter, wollen genau wissen, was passiert ist.
Dann klingelt Khaleds Telefon. Eine +218-Vorwahl. Khaled weiß sofort, zu welchem Land die Nummer gehört.
Khaled: "Ich weiß, Libyen-Nummer. Ich habe gedacht: Wer ist das? Ich habe gedacht, mein Freund oder so. Vielleicht. Er braucht ein bisschen Geld für Essen."
Aber dann ist seine Schwester am Telefon.
Khaled: "Sie hat gesagt, ich bin jetzt in Libyen, aber nicht Vater und Mama sagen! Aber du musst wissen, wo ich bin."
Khaleds Schwester, nennen wir sie Delina, hatte ihm erzählt, dass sie aus Eritrea fliehen würde. Khaled hatte sie gewarnt, geh nicht nach Libyen. Sonst wirst du festgehalten. Tu dir diesen Alptraum nicht an. Tu ihn uns nicht an.
Und jetzt ist sie am Telefon. Sie weint. Sie braucht Geld. Eine Männerstimme mischt sich in das Schluchzen: 1000 Euro will er. Um sie aus einem Lager libyscher Milizen rauszukaufen.
Khaled: "Dann ich habe mit diesem Schlepper gesprochen, und der Schlepper hat gesagt, du musst diese Nummer anrufen und dieses Geld an diesen Mann, meinen Kollegen, geben."
Khaled ist entsetzt. Aber auch nicht wirklich überrascht: Er weiß, was Libyen bedeutet, abseits von menschenunwürdigen Flüchtlingstransporten: Entführungen, Festnahmen, Erpressungen. Die Grundlage dafür ist eine Telefonnummer in Europa. Eigentlich ist das Smartphone für die Flüchtlinge ein Segen und der zentrale Draht zur Welt. Aber: Ohne Nummer keine Anrufe, über die Geld gefordert werden kann.
Khaled: "Wenn du kein Telefon hast, hast du keine Chance."
Antje: "Die Lebensversicherung ist eine Telefonnummer. Das ist so, du kommst an, kriegst zu essen und musst eine Telefonnummer abgeben. Und die, die keine haben, haben halt Pech gehabt."
Heißt: Erpressbarkeit kann perfiderweise auch ein Schutz ein – nicht getötet zu werden. Vorerst zumindest.

Kapitel 2: Wer ist wer?

Wer aus Eritrea fliehen will, "bucht" erst einmal eine Reise via Sahara zum Mittelmeer. Anbieter dieser "Pauschalreisen" sind die Schlepper oder Schmuggler. Die letzte Station vor der Überfahrt ist Libyen. Das Land ist politisch instabil, unterteilt in Gebiete, die entweder von der Regierung, verschiedenen Klans oder dem IS kontrolliert werden.
Angefangen hat alles mit dem Bürgerkrieg und dem Tod des Machthabers Muammar al-Gaddafis 2011. Seither blühen kriminelle Netzwerke, die von dem andauernden machtpolitischen Vakuum profitieren. Warlords, die ihre Reviere kontrollieren.
Delius: "Die Zersplitterung des Landes – wie Fürstentümer im Mittelalter: Da konnte ein Graf sagen, ich bin hier der Chef in den 10 km², du musst zahlen, wenn du hier durch willst."
Ulrich Delius, Gesellschaft für bedrohte Völker.
Delius: "Und wenn Du's nicht tust, dann kommst du nicht durch oder wir legen dich um. Das ist genau das Wesen, was wir erleben mit den Warlords."
Es gibt Milizen, die der Regierung nahestehen und solche, die der Opposition nahestehen. Die Allianzen ändern sich dauernd. Kämpft die eine Miliz heute mit der Regierung, kann sie morgen schon wieder auf der anderen Seite stehen. Keiner hat den Durchblick, keiner weiß, welcher Warlord kann gerade mit wem.
Klar ist nur: Die Milizen – also quasi die Polizei – nehmen immer wieder Flüchtlinge fest, bringen sie in ihre "Flüchtlingslager" oder besser Gefängnisse. Dort können sie von den Schleppern gegen Lösegeld wieder herausgekauft werden.
Delius: "Erstmal sollen die Leute dafür zahlen, dass sie überhaupt überleben. Dass ihnen nicht die Fingernägel ausgerissen werden oder Organe entnommen werden oder sonst was Schreckliches. Und dann müssen sie trotzdem ja nochmal zahlen, dass sie aufs Boot können."
Die Gesellschaft für bedrohte Völker residiert in einem gemütlichen windschiefen Fachwerkhaus, der Boden knarzt bei jedem Tritt. Ulrich Delius arbeitet in einem Büro unter dem Dach. Er ist Afrikareferent der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen.
Delius: "Man will moralischen Druck ausüben. Und den größtmöglichen moralischen Druck, den man ausüben kann, ist, dass die Person in Libyen anfängt zu schreien vor Qual, während telefoniert wird. Das ist das, was sie erreichen wollen. Dass man ihnen körperlich Qualen zufügt, ob das das Ausreißen von Fingernägeln ist, Schläge, was auch immer. Da bringt es ja nichts, wenn da wer freundlich anruft und sagt, schick mir mal 10.000 Euro."

Möglichkeiten für Entführungen oder Festnahmen gibt es auf der Flucht genug. Meistens gehen die eritreischen Flüchtlinge als erstes ins Nachbarland Sudan. Von dort nehmen sie meistens die Route über Äthiopien durch die Sahara über Libyen nach Europa: Schlepperbanden können entlang der Strecke fast ungestört arbeiten. Am Anfang der Reise wird um "Vorkasse" gebeten: Die Kosten für die Reise an die Küste und die Überfahrt über das Mittelmeer.
Delius: "Das klingt zynisch wie ein Reisepaket in einer Pauschalreise: Was ist inkludiert? Ist davon umfasst der Grenzübertritt nach Äthiopien? Ok, ich bin ich erstmal aus dem Land raus. Aber wie komm ich von Äthiopien nach Libyen?"
Eine Garantie für einen reibungslosen Ablauf beinhaltet die Pauschale aber nicht. Den gibt es aber selten. Weshalb manche Schlepper auch eine Versicherung gegen Kidnapping anbieten. Heißt: Wird man entführt oder festgenommen, muss der Schlepper einen freikaufen.
Auch Khaleds Schwester Delina passiert das, was oft passiert: Ihr Konvoi wird von der libyschen Polizei aufgegriffen und in eines der "Flüchtlingslager" gesteckt. Aber Delina hat keine Versicherung. Die 1000 Euro will der Schlepper haben, um sie aus dem Lager freizukaufen.
"Detention Center" nennen die Vereinten Nationen diese Lager offiziell: Gefangenen-Zentren. Die Zustände sind grauenhaft. UN-Mitarbeiter berichten von "ausgemergelten und traumatisierten Männern und Frauen", "übereinandergestapelt" und eingesperrt. Trotz zugesagter EU-Hilfen verschlimmere sich die Situation und sei "katastrophal".
Ein Grund: Alle wollen, alle brauchen neue Verdienstmöglichkeiten. Die Flüchtlinge sind das vielleicht einzige funktionierende Geschäft im Land – nicht nur die Ölindustrie ist am Boden.
Delius: "Den Salzhandel gibt‘s nicht mehr, Tourismus gibt‘s auch nicht mehr, wovon sollen wir also leben. Dann leben wir von denen, die hier durchkommen. Das sind oft einfach Leute, die mangels anderer Alternativen ihr Geld verdienen."
Die Menschenhändler wissen, dass bei den Westafrikanern nicht viel zu holen ist. Anders als bei Flüchtlingen aus Eritrea. Einem Land, in dem willkürlich Verhaftungen, Folter und Zwangsarbeit Alltag sind. Deshalb fliehen so viele Menschen aus diesem Land. 3000 Eritreer – jeden Monat. Deshalb ist ihre Community, vor allem in Europa, mittlerweile sehr groß.
Delius: "Wir haben viele Fälle von Eritreern, die erpresst werden in Europa. Das hängt mit ihrer Diaspora zusammen. Es sind diese Menschen, die für Menschenhändler interessant sind, weil die sich sagen, da gibt es Leute in Europa, denen das Leben dieser Person, die jetzt in meinen Händen ist, was bedeutet. Das kann ich in bare Münze umsetzen, indem ich diese Leute erpresse, die – auch wenn sie keine reichen Menschen sind – da Geld geben, um in Not geratene Angehörige freizukaufen. Das ist die Enkeltrick-Masche: Da ist jemand in Not, du musst dem helfen. Diese Menschen in Europa, da spielt man geschickt einen psychologischen Effekt aus des schlechten Gewissens derjenigen, die hier in Sicherheit leben, denen es vergleichsweise gut geht."
Aus dem Mittelmeer gerettete Flüchtlinge in Libyen.
Scheitert die Flucht übers Mittelmeer, landen die Flüchtlinge wieder in Libyen.© dpa / Hamza Turkia

Kapitel 3: Die Hausgemeinschaft und die Mafia

Khaled hat einiges hinter sich gebracht, um nach Europa zu kommen. Er hat Folter mit angesehen, war tagelang ohne Essen, hat Salzwasser geschluckt, weil es sonst nichts zu trinken gab. Eingesperrt in einem Container zusammen mit 200 anderen Flüchtlingen,
Khaled: "Einen Tag war ich in einem Container, ohne Luft und Essen und Toilette. Ich habe auch eine Woche ohne Pause, jeden Tag eine Woche Salz getrunken. Wenn du das nicht machst … du hast keine Chance. Genau wie diese Tasse, du trinkst …"
Danach: Wochenlang in einer Schlepperunterkunft, in der es eng war, es keine Toiletten gab und Fliegen, die über den Exkrementen in den Ecken kreisten.
Inzwischen hat er sich ein Stück heile Welt aufgebaut. Er hat die Wohnung in der Hausgemeinschaft. Seine "Familie" - sein Deutsch macht Fortschritte. Aber er hat keinen Job, lebt von Sozialgeld. Seinen eritreischen Freunden geht es ähnlich. Woher also sollte er 1000 Euro für die Erpresser in Libyen nehmen?
Khaled: "Ich habe mit meiner Familie gesprochen und gesagt: Was machen wir?"
Antje: "Er hat uns gar nicht gefragt. Er fragt nicht direkt nach Geld, er schämt sich, ist ihm peinlich. Er hat das erzählt einfach. Ein bisschen wussten wir es durch andere. Wir haben uns nur gewundert, dass er nie Geld hat. Das Wohngeld haben wir irgendwann umgestellt, dass das Amt uns das Geld direkt überweist, weil das war immer weg. Weil er unter Finanzdruck war, das wussten wir aber nicht."
Also legt die Hausgemeinschaft zusammen. Jede Partei ein paar hundert Euro.
Antje: "Es tut dann jeder was dabei, Weihnachten haben meine Eltern was gegeben und meine Schwester. Neulich hat jemand gesagt, das kannst du noch nicht mal von der Steuer absetzen. 2000 Euro Erpressung für Libyen, kann man ja mal versuchen beim Steuerbescheid."
Aber es ist nicht die letzte Forderung, nicht der letzte Anruf. Immer wieder klingelt Khaleds Telefon. Mal will der Schlepper 100 Euro, mal 200.
Antje: "Wir hatten auch das Gefühl, dass das immer mehr wird."
Khaled: "Das reicht mir. Ich brauche nicht ‚da ist so, da ist so‘. Ich habe viel Geld für meine Schwester geschickt. Ich habe meine SIM-Karte rausgemacht."
Antje: "Mit der letzten Erpressung, da meinte er, ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Ich schmeiß mein Telefon weg. Aber das kann er auch nicht. Einfach auch diese Verantwortung für seine Schwester in diesem Grauen. Das ist diese Angst als Mädchen immer. Und er macht sich so Sorgen um seine Mutter. Die durfte das nicht wissen, die wird verrückt vor Sorge. All das trägt er."
Für die Schlepper sind die Menschen Ware, die letztlich aufs Mittelmeer soll. Also sollen sie am Leben bleiben. Zynisch gesagt: Wenn sie sterben, bevor sie aufs Boot gehen, haben sie einmal zu wenig gezahlt.
Rolf: "Die Schlepper haben das Interesse, weil am Schluss am meisten bezahlt wird, die Ware bis zu einem bestimmten Punkt zu bringen. Zur Überfahrt. Der Cash-Moment."
Aber dieser Cash-Moment lässt auf sich warten. Denn um die Migration aus Afrika über das Mittelmeer zu stoppen, bilden europäische Staaten via EU die libysche Küstenwache aus – und die ist auch deshalb zurzeit sehr aktiv. Heißt: Die Schlepper können die Flüchtlingen nicht aufs Meer schicken, sie sitzen bei ihnen fest. Das kostet die Schlepper Geld. Und das holen sie sich von ihren "Kunden".
Es ist jedes Mal dasselbe Spiel: Khaleds Schwester weinend am Telefon.
Khaled: "Was ich erlebe: Da ist ein Druck in den Tagen, wenn das Geld da sein muss. Dieser Druck zu wissen, meine Schwester geht durch die Hölle und stirbt vielleicht. Was macht man denn dann? Ich weiß nicht, was wir Menschen machen, wenn wir so in Not sind."
Dabei ist die Geldübergabe selbst ein zusätzlicher Stressfaktor. Weil die Schlepper aber keine Spuren hinterlassen wollen, mit Online-Überweisungen, laufen die Zahlungen über Vertrauensleute.
Antje: "Das ist so eine Welt, die hat uns gegruselt. Wir haben das selbst auch gemerkt, wie das Böse, das sich um einen zieht, oh, es ist fürchterlich, grausam. Klar, wir unterstützen das, dass sie was zu essen hat. Aber dieses Erpressungssystem, wir geben ja Geld in einen Menschenschmuggel."
Um seinen Mittelsmann zu treffen, muss Khaled eine Stunde mit dem Zug fahren. Als afrikanischer Flüchtling hat er ein ungutes Gefühl, wenn er mit 1000 Euro in der Tasche in der Bahn sitzt.
Antje: "Und es ist so, man wird eher kontrolliert, wenn man eine dunkle Hautfarbe hat."
Rolf: "Wenn du mit dem Zug fährst, muss nur die Bahnpolizei kommen. Und da hatte er bei dieser größeren Summe echt Muffe. Weil wenn er da angehalten wird, hat er keine Erklärung, woher er das Geld hat und wo es hingeht."
Antje: "Immer, wenn das ansteht, es geht nur noch darum, dieses Geld zu kriegen, nur noch sein Thema, der ist richtig durch. Und wenn er gezahlt hat, atmet er auf. Er hat auch ein bisschen Solidarität. Der, wo er das Geld hinbringt, ist der Good Boy für ihn."
Khaled: "Er ist nett, sehr nett. Er hat viel geholfen. Ich habe 800 bezahlt, 200 hat er geholfen. 600 habe ich ihm das erste Mal gegeben. Ich war da und habe 50 Euro gegeben, aber 150 muss ich jetzt geben. Aber er hat gewartet. Das hat viel geholfen."

Kapitel 4: Verhaftungen und Entführungen

Tatsächlich hat Khaleds Schwester Glück. Sie ist "nur" von der libyschen Polizei aufgegriffen worden und muss damit "nur" 1000 Euro zahlen, um aus dem Gefängnis freizukommen. Eine "legale Erpressung", bei der man noch relativ günstig davon kommen kann. So bizarr es klingt: Es gibt legale und illegale Festnahmen, sagt Meron Estefanos: Die "legale Festnahme" durch die libysche Polizei und die "illegalen" Entführungen durch zum Beispiel IS oder kriminelle Gruppen im Tschad. Um einen gekidnappten Flüchtling freizukaufen, werden 10.000 Dollar fällig, 12.000 oder 20.000. Die Festnahme durch libysche Milizen ist da um einiges günstiger. Hier tritt der Schlepper quasi als Makler oder Unterhändler auf.
Estefanos: "Der Schlepper sagt, ok, ich habe 500 Leute erwartet, die jetzt festgenommen wurden von der Polizei. Die sagt jetzt, 2000 Dollar pro Person Lösegeld. Leute, die kein Geld haben, müssen bleiben."
Da liegt es am Verhandlungsgeschick des Schleppers, wie teuer es wird. Er kann zum Beispiel einen Mengenrabatt aushandeln: Bei 500 Leuten nur 1000 pro Person. Es ist ein Geschäft wie jedes andere auch. Jeder Schmuggler hat ein Image und ein Portfolio.
Estefanos: "Du nimmst nicht irgendeinen Schmuggler. Wenn er zum Beispiel aus derselben Gegend kommt wie du, vertraust du ihm mehr. Wenn er dich erpressen würde, würde sich das rumsprechen und keiner würde nochmal bei ihm buchen. Die wollen sich ihr Geschäft nicht mit Gerüchten und schlechtem Image ruinieren. Was nicht heißt, dass nichts schiefgehen kann. Aber der Schmuggler versucht, Zwischenfälle zu vermeiden, er will, dass die Flüchtlinge ihn weiterempfehlen."

Aber wenn es um "illegalen Erpressungen"; also um das Freikaufen aus Entführungen, geht, tut sich jeder "Reiseveranstalter", also Schmuggler, schwer. Meron Estefanos hat ihre Lektion gelernt. Seit 14 Jahren dokumentiert die Aktivistin diese Fälle und setzt sich für die Rechte der eritreischen Flüchtlinge ein.
Meron Estefanos ist in Stockholm aufgewachsen. Abends sitzt sie oft in ihrem Stammrestaurant im Stadtteil Södermalm. Die Platte mit Injera, gesäuertem, luftigem Fladenbrot, hat sie kaum angerührt. Sie ist ganz darauf konzentriert, zu erklären, wie das System Flucht-Entführung-Erpressung funktioniert. Auf einer Papierserviette zeichnet sie die verschiedenen Fluchtrouten und "Überfall-Brennpunkte" auf. Einer davon ist im Tschad.
Estefanos: "Wenn sie hier vorbeikommen, wird die ganze Gruppe gekidnappt. Nachdem man gezahlt hat, fährt der Konvoi weiter. In Ejdabyia in Libyen kannst du vom IS entführt oder libyschen Soldaten verhaftet werden. Dann landest du im Gefängnis und musst dich rauskaufen. Manche Schmuggler haben ein gutes Netzwerk und können dich davor schützen. Manche sind neu im Geschäft, ihre 'Kunden' werden eher entführt. Wenn du vom IS gekidnappt wirst, müssen die Männer zum Islam konvertieren und für den IS kämpfen, die Frauen werden zu Sexsklavinnen. Sie müssen mit ansehen, wie ihre Männer geköpft werden, wenn sie nicht konvertieren wollen."
Estefanos lebt in einem Zweizimmer-Apartment in einem schmucklosen Backsteinbau am Rand der Stadt, mit ihren zwei Söhnen, die kein Tigrinya sprechen, dafür Schwedisch. In ihrem Schlafzimmer nimmt Estefanos die Telefongespräche auf, die sie mit Schleppern und Opfern führt. Sie dokumentiert die Fälle für die Polizei und für ihre wöchentliche Radiosendung.
Estefanos: "Schlagen sie dich? Ich glaube, es ist was passiert. Ich habe ihn kommen hören … Hallo? Hallo? Ich muss zurückrufen, eine komische Nummer ..."
Anonymer Mann: "Hallo, hallo? Meron? Zwei Männer sind gerade gestorben. Sie kamen und fingen an uns zu schlagen, bis zwei starben. Meine Füße sind zerschmettert. Tu was, um uns das Leben zu retten! Ich verliere Blut. Ich weiß nicht, ob ich heute Abend noch lebe."
Nebenan läuft der Fernseher. Estefanos Kinder sind aus der Schule nach Hause gekommen. Es sind zwei Welten, die hier aufeinanderprallen.
Estefanos: "Was tun? Man muss zahlen, auch wenn man das System unterstützt. Ich kann kein zwei Jahre altes Kind sterben lassen, ich bin eine Mutter."
Mann 1: "Das Geld wurde geschickt. Hast du die 7000 gekriegt?"
Mann 2: "7000 ist nicht mal genug für einen!"
Mann1: "Wenn sie könnten, hätten sie dir mehr gegeben!"
Mann2: "Ich will 40.000 für die vier! Weil sie minderjährig sind, nur 40.000."
Afrikanische Geflüchtete knien am 5.04.2017 in einem Flüchtlingslager in Tripolis (Libyen) um eine Schale mit Essen.
Die Situation in den libyschen Flüchtlingslagern ist katastrophal.© picture alliance / dpa / Simon Kremer

Kapitel 5: Ein altbekanntes Geschäftsmodell

History repeating – in Libyen passiert jetzt genau das, was früher in Ägypten passiert ist: Damals wurden viele Eritreer, die nach Israel wollten, auf dem Sinai von Beduinen entführt. Dass sich das Geschäft nach Libyen verlagert hat, hat auch mit der europäischen Flüchtlingspolitik zu tun, glaubt Meron Estefanos. Die Europäer wollen die Mittelmeerroute schließen und Flüchtlinge fernhalten. Deshalb haben sie die libysche Küstenwache – also im Prinzip die Warlords, die gerade das Sagen haben – finanziell und mit Trainings unterstützt.
Estefanos: "Deshalb versuchen die Schmuggler, ihre finanziellen Einbußen wieder wett zu machen, mit Entführungen und Erpressungen. Wegen des EU-Deals können die Boote gerade nicht losfahren. Deshalb sitzen die Schlepper mit den Flüchtlingen fest. Sie können sie nirgends hinschicken, nicht vor, nicht zurück. Also gibt es die Kidnappings, von libyschen Soldaten oder der Küstenwache. Die Lösegeldforderungen werden immer größer. Oft sind es 20.000 Dollar. Und manche haben vorher schon zwei, drei Mal Lösegeld gezahlt."
Wobei sie aus Erfahrung auch weiß: Manchmal lügen die Flüchtlinge am Telefon auch.
Estefanos: "Ich glaube nicht jedem Wort, ich mache das seit 14 Jahren. Wenn mich jemand anruft und sagt, es gibt eine Lösegeldforderung von 2500 Dollar, sage ich: Nein, dein Bruder lügt, das ist zu wenig. Aber klar, was soll er tun? Vielleicht hat sein Bruder ihm ins Gewissen geredet, bleib daheim. Dann traut er sich nicht, nach Geld zu fragen für Essen oder Zigaretten. Aber wenn er sagt, ich wurde gekidnappt, dann wird der Bruder natürlich versuchen, ihn zu retten und ihm keine Vorwürfe machen."
Estefanos selbst wurde auch schon erpresst. Die Kidnapper wollten 33.000 Dollar für einen Jungen, der erzählt hatte, er sei ihr Cousin. Sie sollte das Geld einem Mittelsmann in Stockholm übergeben.
Estefanos: "Ich rief den Mann und sagte: Willst du da wirklich mitspielen, das ist kriminell. Aber es war ihm egal. Ich ging also zur Polizei, aber ich war gut vorbereitet. Ich hatte alles auf Tonband aufgenommen und nahm Journalisten mit. Also mussten sie mich anhören. Und fingen an, die Telefonate der Erpresser abzuhören. Sachen wie: Stell sicher, dass du ihn ordentlich folterst, mach ihr Angst! Es kam raus, dass sie mehrere Leute töten wollten, sie hatten auch vor, mein Geld zu nehmen und mich dann umzubringen. Ich war ja Zeugin. Aber die Polizei nahm sie rechtzeitig fest. Aber der Junge, für den ich zahlen sollte, wurde umgebracht, die Polizei hatte vor Ort ja keine Handhabe."
Der Fall kam vor Gericht. Die Mittelsmänner wurden verurteilt, den Angehörigen des Opfers Entschädigungszahlungen zugesprochen. Es war der erste und einzige Fall, der in Europa vor Gericht kam. In Deutschland weiß man oder will man von keinen Erpressungsfällen wissen: nicht beim Bundeskriminalamt, nicht bei der Bundespolizei, nicht beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BamF.
Vielleicht könnte das auch in Deutschland funktionieren. Aber die Lösung liegt für Meron Estefanos eigentlich darin, dass es gar nicht erst zu den Erpressungen kommt. Am besten gar nicht erst zur Flucht.
Estefanos: "Bleibt zu Hause! Versucht etwas zu bewegen! Kämpft! Wenn du bereit bist, auf dem Mittelmeer zu sterben oder in der Sahara, dann stirb lieber für eine gute Sache, für dein Land! Ich bringe auch in meiner Radiosendung die schlimmsten Geschichten, versuche klarzumachen: Wenn du fliehst, wirst du entführt, gefoltert, getötet."

Kapitel 6: Schweigen und Hoffen

3500 Dollar kostet es derzeit als Flüchtling in Libyen ins Gefängnis zu kommen. Dort gibt es Vergewaltigungen, Krankheiten, Hunger. Aber: Die UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, registriert die Flüchtlinge dort. Und Eritreer haben gute Chancen auf ein Resettlement, also auf legale Ausreise nach Europa, auch wenn das dauern kann.
Khaleds Schwester Delina aber will derzeit nicht weg von den Schleppern, oder nur in eine Richtung: aufs Mittelmeer!
Antje: "Für uns ist die Frage, wenn jetzt der Anruf kommt, darauf warten wir ja, 3000 fürs Mittelmeer, was machen wir dann."
Es wäre die letzte Zahlung für die Hausgemeinschaft in Niedersachsen – wenn Delina ankommt oder wenn sie ertrinkt.
Antje: "Wenn die libysche Küstenwache sie aufgreift, und sie kommt wieder zurück, kommt ins Flüchtlingslager, dann zahlt man 1000 um sie da rauszukaufen und dann geht das Spiel von vorn los. Und eigentlich ist die Möglichkeit, dass die libysche Küstenwache sie aufgreift und in die Höllenlager schickt, die wahrscheinlichste. Die Boote kommen ja gar nicht durch. Wir würden alles Geld der Welt zahlen, wenn sie sich ins Flugzeug setzen würde. Aber zahlt man Geld für 90 Prozent, dass sie ertrinkt? Was macht man denn da? Aber sie hat ja gar keine Perspektive. Es gibt überhaupt keinen Ausweg. Sie kann auch nicht ewig in diesem Schlepperlager bleiben. Dieses Kind hat überhaupt keine Perspektive."
Rolf: "Die einzige Möglichkeit ist das Mittelmeer."
Antje: "Da sind grade wieder 90 Leute ertrunken."
Khaled: "Wenn du auf dem Mittelmeer bist, das ist Glückssache."
Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker wünscht sich, dass mehr Eritreer zur Polizei gehen: "Eigentlich brauchen wir eine Anzeige von dem Betroffenen, weil man hat nur Chance, den Menschenhändlern das Handwerk zu legen, wenn man auch juristische Wege einschlägt, um den Menschen klarzumachen: Egal wo ihr seid, ihr werdet international gesucht und zur Rechenschaft gezogen."

Aber viele Eritreer glauben einfach nicht daran, dass es etwas bringt, sich Hilfe zu suchen, an Informationen zu kommen. Etwa über den genauen Ort oder die Entführer. Sie versuchen es gar nicht erst. Manche erklären das auch mit ihrer Schweigekultur: Man spreche nicht über "private" Angelegenheiten. Es komme vor, dass selbst freigekommene Kidnapping-Opfer nicht sprechen – obwohl ihr Wissen den verbliebenen Gefangenen unter Umständen das Leben retten könnte. Den einzigen Weg sehen die Erpressten darin, über Facebook und andere Netzwerke das nötige Lösegeld zu sammeln. Auch Khaled will nicht zur Polizei.
Khaled: "Neeeeein, möchte ich nicht. Warum? Weil Polizei wissen schon. Ich bin Flüchtling, ich komme aus Eritrea."
Delius: "Das ist ein Omerta Gefühl wie im besten Mafialand. Es ist ein Kartell des Schweigens dann letztlich auch, weil die Menschen Angst haben. Pure Angst um ihr Leben und um das Leben ihrer Angehörigen."
Rolf: "Die Polizei hat hier auch keine Handhabe, vor Ort was zu tun. Das einzige, was man tun könnte, wäre den Mann, der hier sitzt, der Geld in Empfang nimmt. Dann kommt der nächste. Wahrscheinlich ist er ein kleines Licht – der selbst noch erpresst wird. Genau!"
Antje: "Das ist ja nur die Vermittlungsquelle."
Bootsflüchtlinge aus Afrika und Asien winken auf einem Holzboot im Mittelmeer, 14 Meilen nördlich von Sabratha, Libyen, während sie auf ihre Rettung durch eine NGO warten
Die Verwandten in Europa tun alles dafür, damit ihren Angehörigen die Flucht nach Europa gelingt.© picture alliance/ dpa/ Santi Palacios
Rolf: "Und die Schwester kriegt nichts mehr zu essen. Das haben wir diskutiert. Das Problem ist: Was du erwischst, ist der Schlepper. Den könnten wir ausfindig machen, aber das nutzt ja gar nicht. Damit ist klar, dass die Telefonnummer verbrannt ist, dass der Kontakt abbricht und dann sitzt das Mädel auch nur da."
Antje: "Wir wissen dann nicht, was mit der Schwester passiert. Und wir wissen nicht, was hier passiert. Das ist Mafia hoch zehn, da leg ich mich nicht mit an."
(*) Der Name wurde von der Redaktion geändert.
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