"Der Balaton ist meine Riviera"
In den 60er-Jahren nahm der Vater des Journalisten Stephan Ozsváth ihn mit nach Ungarn: die Heimat, aus der er 1956 geflohen ist. Konzerte, Dorfdisco, Sexabenteuer – eine paradoxe Welt für ihn. Als Junge aus dem Westen entdeckte Ozsváth ausgerechnet im Osten die Freiheit.
Der Ost-Bahnhof in Budapest. Ganz in der Nähe, im achten Bezirk, steht ein Denkmal für Sándor Bauer. Ein Europaparlamentarier der Regierungspartei Fidesz hat es vor einigen Jahren eingeweiht.
Im Winter 1969 macht sich Sándor Bauer, der widerwillig eine Lehre zum KfZ-Schlosser macht, auf den Weg zum Nationalmuseum in Budapest. Aus seiner Tasche nimmt er Benzinflaschen, übergießt sich damit, zündet sich an. Er will ein Zeichen setzen gegen die Panzer in Prag. Viele Jahre später macht die Zeitung "Magyar Nemzet" aus Sándor Bauer "den ungarischen Jan Palach".
Als Sándor Bauer in Flammen steht, bin ich kaum vier Jahre alt. Im Sommer jenes Jahres nimmt mich mein Vater das erste Mal mit nach Ungarn: als menschlichen Schutzschild. Sein Kalkül: Wenn er das erste Mal nach seiner Flucht 1956 nach Ungarn zurückkehrt, werde ich kleiner Junge mit bundesdeutschem Pass verhindern, dass sie ihn verhaften. Die Rechnung meines Vaters geht auf. Die Grenzer in Hegyeshalom lassen uns durch – hin und zurück.
Zwei Geheimdienst-Offiziere berichten über Sándor Bauer, der sich selbst angezündet hat. Aus "Heimatliebe", sagt einer der Spitzel.
Eine Szene aus dem Theater-Stück "Brenne!" von Koma-Bázis aus dem Jahr 2013, das die Geheimpolizei als so brutal darstellt, wie sie war. Während er im Krankenhaus stirbt, werden Angehörige und Freunde verhört.
Als die Ungarn zu Waffenbrüdern Moskaus wurden
Sándor Bauer wächst auf in der Üllöi útca – in der Straße hat mein Vater 1956 russischen Panzern gegenübergestanden. Sándor Bauer stirbt am 20. Januar 1969, nur wenige Jahre später. Er kann nicht aushalten, dass die einst freiheitsliebenden Ungarn jetzt zu Waffenbrüdern Moskaus geworden sind – und mit den Russen die Freiheitsbewegung in Prag mit Panzern zermalmen.
Der Ungar Lajos Kirschner nimmt 1968 an der "Operation Donau" teil – mit einer halben Million Soldaten aus anderen Ostblock-Staaten. In der ungarischen Dokumentation "Prager Frühling – der Sommer unserer Hoffnungen" erinnert sich der Ex-Soldat an seinen Einsatz jenseits der Grenze.
"Ich musste die Lastwagen anhalten. Auf ihnen waren zwei Namen aufgemalt: Dubcek und Svoboda – Freiheit. Wir mussten dafür sorgen, dass die Aufschriften entfernt wurden. Vorher konnten die Wagen nicht weiterfahren."
Der ungarische KP-Chef János Kádár ist 1968 in einer Zwickmühle: Seine Sympathien für den Reformkurs von Dubcek können zu einem Eigentor führen, schätzt er realistisch ein. Lieber opfert er Dubcek. Vor Brigadeführern bekennt der ungarische KP-Chef 1968 freimütig.
"Natürlich geht es vor allem um sie. Aber nicht nur: Auch wir haben Interessen. Natürlich. Hat man uns nun gerufen oder nicht? Die offizielle tschechische Parteiführung und Regierung hat uns natürlich nicht gerufen. Aber wir wurden sehr wohl gerufen – von tschechoslowakischen Kommunisten, Revolutionären, die besorgt waren."
Was die Strategen des Einmarsches nicht bedacht hatten: Tausende Tschechen und Ungarn machen Urlaub, während die Soldaten der sozialistischen Bruderländer in der Tschechoslowakei einmarschieren. Eine groteske Situation, die der ungarische KP-Chef János Kádár launig seinen Brigadeführern erzählt.
"Wir waren in Ungarn voll mit tschechoslowakischen Touristen. Aus Süden kam die Flut nach oben, von der Adria, vom Schwarzen Meer. Aber wir durften sie nicht weiterlassen. So blieben sie hier hängen. Wir brachten sie unter, gaben ihnen zu essen. Aber sie beschimpften uns als Besatzer. Gleichzeitig waren auf der anderen Seite sehr viele ungarische Touristen. Nach dem 21. August haben die Tschechen sie in Hotels gebracht und gesagt: Hier können Sie wohnen, aber zu essen bekommen Sie nicht. Sie sind Besatzer."
Aufbruchsjahre mit Fernseh-Bär und "PVC-Jaguar"
Im ungarischen Fernsehen singt die ungarische Sängerin Zsuzsa Koncz vom alten Haus, in dem sich nichts ändert, wo die Zeit stehenbleibt. Meine Tante Julia muss sich in Budapest damals eine Altbau-Wohnung mit einer anderen Familie teilen. Meine Tante Erzsi lebt mit ihrem Mann Jóska und meiner Kusine Zsuzsa in einer winzigen Zweizimmer-Wohnung. Aber: Kühlschränke und vorsintflutliche Waschmaschinen der Firma Lehel erobern meine Kinderwelt. Der Fernseh-Bär läutet immer zu Ostern und im Sommer das Abend-Märchen ein.
Das Budapester Corvin-Kaufhaus verkauft chinesische Fahrräder und tschechische Mopeds. Immer mehr Ungarn können sich ein Auto leisten: Wartburg, Trabant, den die Ungarn liebevoll "PVC-Jaguar" taufen. Mein Onkel fährt sogar einen Fiat aus Russen-Produktion, den Zsiguli.
Ungarische Rockbands wie Edda, Skorpió oder Piramis huldigen dem Ich, singen davon, die Stadt zu verlassen, ein eigenes Leben in Würde zu führen.
Die Musik kündet schon in den Siebziger Jahren vom Aufbruch. Auf dem Dorf bauen sich die Nachbarn gegenseitig Häuser, nach der Arbeit. "Maszek" wird zum geflügelten Wort – eine Verballhornung von Magánszektor – Privatsektor. Kádár hatte sein System gerettet:
"Eine gewisse Situation hat sich jetzt beruhigt. Nicht, weil jetzt jede Frage gelöst wäre, aber weil es gelang, eine Situation zu beherrschen, die unberechenbar hätte werden können."
Mini-Röcke, Herzklopfen und Dorf-Kino
Mini-Röcke erobern auch Ungarn, die Nutten im Budapester Luxus-Hotel Astoria schielen nach Westkundschaft. "Der Balaton ist meine Riviera" heißt der trotzige Schlager. Am Plattensee treffen sich Ost und West. Im Dorf-Kino "Roter Stern" laufen russische Flieger-Filme, "Osceola", verkörpert vom Ost-Winnetou Gojko Mitic, Bernard Wickis Anti-Kriegsfilm "Die Brücke", im dunklen Kino-Saal greife ich herzklopfend nach Magdis Hand.
Die älteren Jungs erzählen vom Tanz in der "Cukrászda", der Konditorei, die zur Dorfdisco wird, und von Sexabenteuern. Wir sitzen in den Straßengräben und quatschen. Hier rauche ich meine erste Zigarette, hier besuche ich mein erstes Rockkonzert.
Paradoxe Welt – der Junge aus dem Westen – entdeckt die Freiheit ausgerechnet im Osten. Bis mir der Polizist auf einem Skorpió-Konzert am Balaton einen Knüppel ins Kreuz haut. Um den Eintritt zu sparen, war ich mit einem Freund über den Zaun geklettert. Ihn hatte die Band gerettet, einer von uns, sagten sie. Beim Baden im See war mein Knüppel-Abdruck auf dem Rücken noch Tage lang zu sehen.