Eine Kindheit in Afrika
Als Jean-Marie Gustave Le Clezio im vergangenen Jahr den Literaturnobelpreis erhielt, war er in Deutschland weitgehend unbekannt. In Frankreich dagegen war der Bestsellerautor schon zuvor berühmt. Von seinen mehr als 40 Werken wurde nun ein einziges als deutschsprachiges Hörbuch herausgegeben: Die autobiografische Erzählung "Der Afrikaner", in der er seine Kindheit in Afrika schildert.
"Heute lebe ich, reise, habe meinerseits eine Familie gegründet, an anderen Orten Wurzeln gefasst. Und dennoch durchdringt mich in jedem Augenblick die Zeit von Ogoya wie eine ätherische Substanz, die zwischen den Wänden der Wirklichkeit zirkuliert."
Jean-Marie Gustave Le Clézio ist ein Reisender. Die Identität der Menschen in einer postkolonialen Welt ist das große Thema in den Erzählungen, Romanen und Essays des literarischen Ethnologen. Le Clézio erzählt Geschichten von allen Kontinenten dieser Welt, doch seine wichtigste Reise, die ihn für das Leben prägen sollte, war die erste. Sie führte ihn 1948 im Alter von acht Jahren von Nizza nach Afrika, nach Ogoya.
"Wir hatten dort im sechsten Stock eines Bürgerhauses gewohnt, das von einem kleinen Garten umgeben war, in dem die Kinder nicht spielen durften. Und plötzlich lebten wir in Äquatorialafrika am Ufer eines von Wäldern umgebenen schlammigen Flusses. Wir wussten nicht, das wir eines Tages wieder fort gehen würden."
2007 veröffentlichte der Münchner Hanser Verlag die autobiografische Erzählung "Der Afrikaner". Le Clézio beschreibt darin die Liebesgeschichte seiner Eltern, die von einem Afrika träumten, das von Krankheiten und Kolonialherrschaft befreit ist.
Als sein Autor 2008 den Literaturnobelpreis bekommt, eilt der Verlagsleiter Michael Krüger höchst selbst ins Studio, den schmalen Band als Hörbuch einzusprechen. Krüger, der auch Gedichte schreibt, ist ein erfahrener Sprecher: Er liest klar akzentuiert, anschaulich, aber nicht aufdringlich.
Seine eigene Freude an diesem Text überträgt sich auf den Hörer, der sich über einen sehr persönlichen Zugang zu diesem Schlüsselwerk des Nobelpreisträgers freuen kann. Die gleichzeitig kraftvolle und zurück genommen Darstellung bereitet Le Clézios sinnlicher Schilderung seines geliebten Afrikas die Bühne:
"Die schimmernde, rote Erde, Wettlauf barfuss über die Savanne zu den Festungen der Termitenhügel, unsere Katze, die sich auf dem Wellblechdach mit Wildkatzen paarte, die Benommenheit, die der Fieberglut in den frühen Morgenstunden folgte, wenn durch das Moskitonetz kühle Luft hereindrang, diese schwüle Hitze, dieses Brennen!"
Le Clézio beschreibt die gewaltige Natur, die Menschen, Farben und Gerüche ohne jeden Kolonialkitsch. Sein Stil ist nüchtern, Emotionen breitet er nicht aus, sie werden zwischen den Zeilen deutlich: Der Reichtum an Details macht klar, dass dies die Reise seines Lebens war. Dass Afrika ihm unter die Haut gekrochen ist.
"Die Hochebene, auf der zwischen Lasim und Ngongzin langsam eine Rinderherde mit halbmondförmigen Hörnern herzog, an denen die Wolken scheinbar hängen blieben."
Als Zuhörer wird man in diese fremde Welt versetzt; fast meint man den Staub zu riechen, den das Vieh auf dem Weg zum Fluss aufwirbelt. "Der Afrikaner" erscheint 2005, da ist Le Clézio 65 Jahre alt. Aber er erinnert sich an alles mit schier unglaublicher Genauigkeit. Zehn Jahre lang lebte Le Clézio als Kind in Ogoya, im heutigen Nigeria. Sein Vater war dort Arzt. Und "Der Afrikaner" ist auch die Beschreibung seiner Begegnung mit diesem fremden Vater, den er erst im Alter von acht Jahren in Afrika kennenlernt. Während des Zweiten Weltkrieges war Le Clézio mit Mutter und Bruder in Südfrankreich aufgewachsen. Der Vater hatte jahrelang als einziger Europäer weit und breit, vom Rest der Welt abgeschnitten, Tausende von Patienten versorgt, war hart geworden und bitter.
"Ich habe ihn nicht wieder erkannt, ihn nicht verstanden. Er unterschied sich zu sehr von all denen, die ich kannte. War ein Fremder, ja mehr noch: Fast ein Feind."
Jean-Marie Gustave lernt diesen Vater zu fürchten: So freundlich der Arzt zu seinen afrikanischen Patienten und Angestellten ist, so autoritär, reizbar und ohne Verständnis begegnet er seinen Söhnen.
"Eines habe ich in meiner Kindheit nicht kennengelernt: Einen Vater zu haben, unter dessen Obhut man in der Wärme eines häuslichen Herds aufwächst."
Dafür gab ihm Afrika etwas anderes, einen Schatz, den ihm niemand je wieder nehmen konnte, wie Le Clézio es formuliert: ein Lebensgefühl berauschender Freiheit.
"In dieser Umgebung habe ich eine Zeit lang ein ungebändigtes, freies, fast gefahrvolles Leben geführt. Eine Bewegungsfreiheit, eine Gedankenfreiheit und eine emotionale Freiheit, wie ich sie später nie wieder erlebt habe."
Rezensiert von Vanja Budde
Jean-Marie Gustave Le Clézio: Der Afrikaner
Lesung, Laufzeit circa 200 Minuten, 3 CDs, Der Hörverlag, 2008
Jean-Marie Gustave Le Clézio ist ein Reisender. Die Identität der Menschen in einer postkolonialen Welt ist das große Thema in den Erzählungen, Romanen und Essays des literarischen Ethnologen. Le Clézio erzählt Geschichten von allen Kontinenten dieser Welt, doch seine wichtigste Reise, die ihn für das Leben prägen sollte, war die erste. Sie führte ihn 1948 im Alter von acht Jahren von Nizza nach Afrika, nach Ogoya.
"Wir hatten dort im sechsten Stock eines Bürgerhauses gewohnt, das von einem kleinen Garten umgeben war, in dem die Kinder nicht spielen durften. Und plötzlich lebten wir in Äquatorialafrika am Ufer eines von Wäldern umgebenen schlammigen Flusses. Wir wussten nicht, das wir eines Tages wieder fort gehen würden."
2007 veröffentlichte der Münchner Hanser Verlag die autobiografische Erzählung "Der Afrikaner". Le Clézio beschreibt darin die Liebesgeschichte seiner Eltern, die von einem Afrika träumten, das von Krankheiten und Kolonialherrschaft befreit ist.
Als sein Autor 2008 den Literaturnobelpreis bekommt, eilt der Verlagsleiter Michael Krüger höchst selbst ins Studio, den schmalen Band als Hörbuch einzusprechen. Krüger, der auch Gedichte schreibt, ist ein erfahrener Sprecher: Er liest klar akzentuiert, anschaulich, aber nicht aufdringlich.
Seine eigene Freude an diesem Text überträgt sich auf den Hörer, der sich über einen sehr persönlichen Zugang zu diesem Schlüsselwerk des Nobelpreisträgers freuen kann. Die gleichzeitig kraftvolle und zurück genommen Darstellung bereitet Le Clézios sinnlicher Schilderung seines geliebten Afrikas die Bühne:
"Die schimmernde, rote Erde, Wettlauf barfuss über die Savanne zu den Festungen der Termitenhügel, unsere Katze, die sich auf dem Wellblechdach mit Wildkatzen paarte, die Benommenheit, die der Fieberglut in den frühen Morgenstunden folgte, wenn durch das Moskitonetz kühle Luft hereindrang, diese schwüle Hitze, dieses Brennen!"
Le Clézio beschreibt die gewaltige Natur, die Menschen, Farben und Gerüche ohne jeden Kolonialkitsch. Sein Stil ist nüchtern, Emotionen breitet er nicht aus, sie werden zwischen den Zeilen deutlich: Der Reichtum an Details macht klar, dass dies die Reise seines Lebens war. Dass Afrika ihm unter die Haut gekrochen ist.
"Die Hochebene, auf der zwischen Lasim und Ngongzin langsam eine Rinderherde mit halbmondförmigen Hörnern herzog, an denen die Wolken scheinbar hängen blieben."
Als Zuhörer wird man in diese fremde Welt versetzt; fast meint man den Staub zu riechen, den das Vieh auf dem Weg zum Fluss aufwirbelt. "Der Afrikaner" erscheint 2005, da ist Le Clézio 65 Jahre alt. Aber er erinnert sich an alles mit schier unglaublicher Genauigkeit. Zehn Jahre lang lebte Le Clézio als Kind in Ogoya, im heutigen Nigeria. Sein Vater war dort Arzt. Und "Der Afrikaner" ist auch die Beschreibung seiner Begegnung mit diesem fremden Vater, den er erst im Alter von acht Jahren in Afrika kennenlernt. Während des Zweiten Weltkrieges war Le Clézio mit Mutter und Bruder in Südfrankreich aufgewachsen. Der Vater hatte jahrelang als einziger Europäer weit und breit, vom Rest der Welt abgeschnitten, Tausende von Patienten versorgt, war hart geworden und bitter.
"Ich habe ihn nicht wieder erkannt, ihn nicht verstanden. Er unterschied sich zu sehr von all denen, die ich kannte. War ein Fremder, ja mehr noch: Fast ein Feind."
Jean-Marie Gustave lernt diesen Vater zu fürchten: So freundlich der Arzt zu seinen afrikanischen Patienten und Angestellten ist, so autoritär, reizbar und ohne Verständnis begegnet er seinen Söhnen.
"Eines habe ich in meiner Kindheit nicht kennengelernt: Einen Vater zu haben, unter dessen Obhut man in der Wärme eines häuslichen Herds aufwächst."
Dafür gab ihm Afrika etwas anderes, einen Schatz, den ihm niemand je wieder nehmen konnte, wie Le Clézio es formuliert: ein Lebensgefühl berauschender Freiheit.
"In dieser Umgebung habe ich eine Zeit lang ein ungebändigtes, freies, fast gefahrvolles Leben geführt. Eine Bewegungsfreiheit, eine Gedankenfreiheit und eine emotionale Freiheit, wie ich sie später nie wieder erlebt habe."
Rezensiert von Vanja Budde
Jean-Marie Gustave Le Clézio: Der Afrikaner
Lesung, Laufzeit circa 200 Minuten, 3 CDs, Der Hörverlag, 2008