Eine knallharte Überlebensgeschichte

Von Gertrud Lehnert |
Zu Beginn fährt die Ich-Erzählerin, schön und teuer gekleidet, im Taxi durch Manhattan zu einer Party. Dabei erblickt sie ihre Mutter, eine Obdachlose, die in Abfalleimern wühlt. Wie kann sie, wohl situiert, ihre Mutter auf der Straße leben lassen? Die Reflexion darüber ist der Motor des Debüts der US-amerikanischen Journalistin Jeannette Walls.
"Schloss aus Glas" ist der erste Roman der US-amerikanischen Journalistin Jeannette Walls - ein autobiographischer Roman. Im Gegensatz zu manchem anderen autobiographischen (Erstlings-)Roman indessen handelt es sich nicht (nur) um die drängende Aufarbeitung einer privaten Leidensgeschichte, in der die persönliche Betroffenheit aus jeder Zeile spricht. "Schloss aus Glas" zeichnet sich durch eine glasklare Formulierungskunst aus, durch eine ästhetische Distanz, die die emotionale Wucht dieser Geschichte umso spürbarer macht.

Hinter dem poetischen Titel verbirgt sich eine knallharte Überlebensgeschichte – mit hochpoetischen Zügen. Leseerwartungen werden gleichzeitig durchkreuzt und erfüllt. Zu Beginn fährt die Ich-Erzählerin, schön und teuer gekleidet, im Taxi durch Manhattan zu einer Party – und erblickt ihre Mutter, eine Obdachlose, die in Abfalleimern wühlt.

Ein Schockeffekt, der die Leserinnen und Leser paradoxerweise sofort wieder auffängt und beruhigt: Wir wissen, dass die Geschichte in gewissem Sinne gut ausgeht – zumindest für die Erzählerin. Bleibt die Frage, was "gut ausgehen" jenseits des einfachen sozialen Aufstiegs bedeuten mag. Bleibt die moralische Beunruhigung: Wie kann sie, wohl situiert, wie sie ist, ihre Mutter auf der Straße leben lassen? Die Reflexion darüber ist der Ausgangspunkt und in gewissem Sinne der Motor des Romans, der die Vorgeschichte zu dieser Szene sowie das Ende erzählt.

Die bitter arme Familie – Vater, Mutter, vier Kinder – zieht nomadenhaft durch die USA, sie leben einmal in einer Wohnwagensiedlung, einmal in baufälligen Bruchbuden. Immer wieder brechen sie bei Nacht und Nebel auf und ziehen anderswo hin, weil der Vater mal wieder seinen Job verloren oder sich quer zum Gesetz gestellt hat – was er als gelebte Gesellschaftskritik ausgibt. Oder weil es ihn und seine Frau einfach nie lange an einem Ort hält. Der Vater hat hochfliegende Pläne, wie er reich werden, die korrupte Gesellschaft revolutionieren wird. Er verspricht der Familie das Schloss aus Glas und versäuft das gesamte Geld, das er zuweilen mit Gelegenheitsjobs verdient.

Die Mutter ist Künstlerin und von erschreckender Gelassenheit (man könnte auch sagen: Gleichgültigkeit) den Kindern gegenüber. Andererseits: Noch bevor die Kinder schulpflichtig sind, können sie lesen und schreiben, mathematische Berechnungen anstellen, wissen über physikalische Fragen Bescheid und kennen die Natur besser als alle anderen. Lesen gehört ganz selbstverständlich zum Leben. Eine asoziale Familie, die Bildung, Kunst und Poesie über alles stellt – welch ein Bruch mit den Lesererwartungen!
Die Kinder fühlen sich geliebt und anerkannt, aber zunehmend verschiebt sich die Perspektive des Romans. Jeannette und ihren Geschwistern wird von den Eltern die Möglichkeit zu Autonomie, Freiheit und Selbstbewusstsein aufgezwungen. Sie sind stolz auf ihre Fähigkeiten. Aber sie sind auch überforderte und vernachlässigte Kinder, die auf sich gestellt ihr eigenes Leben und das ihrer Eltern gleich mit meistern müssen. Die Kinder kämpfen ums nackte Überleben und suchen im Abfall nach Essbarem. Es dauert lange, bis die Kinder, gefangen im Double Bind von Liebe und Vernachlässigung, von Stolz und Not, es schaffen, sich aus diesen Fesseln zu befreien. Und doch bleiben Liebe und Loyalität gegenüber den Eltern erhalten.

Am Ende wählt jedes Familienmitglied sein eigenes Leben, auch die Eltern, die eine Existenz als Obdachlose oder Hausbesetzer dem Leben in bürgerlichem Rahmen vorziehen. Der Roman kann gelesen werden als Plädoyer für Akzeptanz und Respekt und den Willen, das Leben zu meistern. Er kann auch gelesen werden als Hohelied auf die Familie jenseits allen Missbrauchs. Das ist nicht unproblematisch. Ich lese ihn als (wunderbar erzählten) Roman über die Gratwanderung zwischen eigener und fremder Freiheit, zwischen Liebe und Egoismus, Verantwortung und Gleichgültigkeit – und über die Befreiung des Menschen aus (nicht immer selbstverschuldeter) Abhängigkeit.

Jeannette Walls: Schloss aus Glas, aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Hamburg (Hoffmann und Campe) 2005,384 S., € 19,95