Aufzeichnung vom 11.10.2019, Comedia Theater, Köln
Helga Flatland, Erik Fosnes Hansen, Mona Høvring, Roy Jacobsen, Kjersti Annesdatter Skomsvold und Carl Frode Tiller sind die sechs Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die mit ihren Büchern in der Sendung vorgestellt werden.
Die norwegische Musik zur norwegischen Literatur wurde gespielt vom Jazz-DuoTrygve Seim und Frode Haltli.
Nicht nur Fjord und Fjell
Kjersti A. Skomsvold
Kjersti A. Skomsvold: "Meine Gedanken stehen unter einem Baum und sehen in die Krone"
Übersetzung: Ursel Allenstein
Hoffmann und Campe 2019
128 Seiten, 20 Euro
Damals zermürbten mich die Nächte, ich glaube, es war nicht das Kind, das mich weckte, ich glaube, ich war unabhängig vom Kind wach, und das Kind wurde wach, um mir Gesellschaft zu leisten.
Ich schob den Wagen im Zickzack über den Friedhof und suchte nach Kindernamen, auf einem Grabstein sind die Namen lebendiger als auf einem Buchdeckel, es fällt leichter, die Menschen dahinter vor sich zu sehen, die Leben, die sie gelebt haben.
Ich hatte mir geschworen, dass es nie passieren dürfte, und nun war es doch passiert, und ich dachte, Bo und ich würden das Kind zerstören, als wir uns vor ihm stritten.
Ich überlegte, wie viele Umarmungen, wie viele Küsse es erfordern würde, ihn wieder zu reparieren, ob wir lange genug leben würden, um ihm und uns genug Liebe zu geben, um es wieder gutzumachen.
Vielleicht versuche ich mehr oder weniger unbewusst, in dieser neuen Familie die Wunden aus meiner ersten Familie zu flicken, der Kindheitsfamilie?
Carl Frode Tiller
Carl Frode Tiller: "Der Beginn"
Übersetzung: Ina Kronenberger und Nora Pröfrock
btb Verlag 2019
352 Seiten, 22 Euro
"Back du nur deine Waffeln, Mama" sagte ich.
"Ich verstehe nicht, was du hast" sagte sie. "Wir sind einfach nur gute Freunde."
Ich verstand nicht sofort, was sie meinte, aber dann begriff ich. Ich fing an zu lachen, es klang aber nicht so echt, wie ich gewollt hatte.
"Sorry, aber ich bin nicht eifersüchtig, Mama", sagte ich.
Das war ihr wohl etwas zu direkt, jedenfalls starrte sie mich zornig an.
"Er ist verheiratet, Mama", sagte ich. "Er wird seine Frau nicht verlassen. Da kannst du warten, bist du schwarz wirst."
"Wir sind einfach nur gute Freunde!" schrie sie. Wir sind einfach nur gute Freunde! Darf ich denn nicht mal mehr Freunde haben?"
Roy Jacobsen
Roy Jacobsen: "Die Unsichtbaren"
Übersetzung: Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann
C.H. Beck 2019
613 Seiten, 28 Euro
Er lud die Waren aus, zog das Boot ein, setzte sich auf die Türschwelle und nahm die Pfeife hervor und stellte fest, dass er die Finger der rechten Hand nicht ausstrecken konnte, als ob er noch immer das Ruder festhielte. Dort blieb er sitzen und rauchte und schaute nach Norden in das rosa Licht, das langsam blau wurde. Und dort wurde er von den anderen tot aufgefunden.
Er war so steif, dass er noch immer zu sitzen schien, als sie ihn hingelegt hatten. Sie konnten ihn nicht gerade biegen, und das konnten sie nicht ansehen, deshalb legten sie eine Decke über ihn, und wer es schaffte, das Boot wieder zu Wasser zu bringen und zurück zur Handelsstation zu fahren, um Bescheid zu sagen, das war Lars.
Helga Flatland
Helga Flatland: "Eine moderne Familie"
Übersetzung: Elke Ranzinger
Weidle Verlag 2019
308 Seiten, 25 Euro
"Als ich vor ein paar Wochen Hedda erzählte, dass wir deinen Geburtstag feiern würden, fragte sie mich, wie alt du wirst. Ich sagte, du würdest siebzig. 'Ist das weniger als hundert?' fragte sie. 'Ja', sagte ich. Sie dachte ein Weilchen nach und sagte dann ein bisschen enttäuscht: 'Dann ist er ja gar nicht alt.'" Papa lacht vergnügt.
Alle warten darauf, dass Mama an ihr Glas klopft, und keiner wagt es, das vor ihr zu tun.
Mama setzt mehrmals an. Schließlich dreht sie sich zu Papa um.
"Wir haben beschlossen, uns scheiden zu lassen", sagt er. "Ich habe ja ab und zu versucht, mit euch darüber zu sprechen".
"Nicht mit mir", widerspricht Håkon.
Soweit ich mich erinnern kann, auch nicht mit mir. Automatisch nehme ich Papas Hand und drücke sie, aber lasse sie jäh los, als ich Mamas Blick spüre und sehe, wie ihre Hand nervös und verlassen die Tischdecke glattstreicht.
Ellen lacht plötzlich los. Ihr Lachen hört sich aufrichtig an. "Auseinandergelebt? Zukunft? Mal im Ernst, ihr seid siebzig!"
Mona Høvring
Mona Høvring: "Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte"
Übersetzung: Ebba D. Drolshagen
Edition fünf 2019
136 Seiten, 19 Euro
Erik Fosnes Hansen
Erik Fosnes Hansen: "Ein Hummerleben"
Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel
Kiepenheuer & Witsch 2019
384 Seiten, 24 Euro
Er sank im Sitzen langsam nach vorn, war aber zu dick, um mit dem Gesicht auf dem Tischtuch zu landen.
Einige sich unwirklich dehnende Sekunden lang saßen die übrigen Erwachsenen erstarrt um den Tisch herum, Frau Berge selbst schien einen Augenblick ganz still in der Luft zu stehen.
Jim und ich hatten neben der Küchentür an der Wand gestanden, bereit, den Tisch abzuräumen. Großvater wollte als erster aufspringen, schließlich war er der Gastgeber, doch er hatte kaum seinen Stuhl zurückgeschoben, da hatten wir uns schon auf Direktor Berg gestürzt.
"Komm, Sedd!", rief Jim, "ihm geht‘s nicht gut!"
Aus produktionstechnischen Gründen gibt es für diese Sendung kein Manuskript.