Die "Essais" leben von einer erstaunlichen Welthaltigkeit eines Denkens, das sich die Freiheit zu einer rückhaltlosen und bis dahin ungekannten Selbst- und Welterforschung nimmt. Eine wichtige Rolle spielt dabei de Montaignes ausgedehnte Reisetätigkeit, ebenso die Erfahrung der französischen Religionskriege, in die er als katholischer Adliger und parteiloser Vermittler immer wieder involviert wird.
Skeptisch gegenüber jedem absoluten Wahrheitsanspruch - sei es von Religion, sei es von Wissen - findet er in seinen "Essais" zu einer Toleranz gegenüber der unerschöpflichen Vielfalt menschlicher Lebensformen.
"Die anderen bilden den Menschen, ich bilde ihn ab; und stelle hier einen einzelnen vor, der recht mangelhaft gebildet ist und den ich, wenn ich ihn neu zu formen hätte, gewiss weitgehend anders machen würde. Doch nun ist er halt so." (Michel de Montaigne)
Zwar besitzen wir kein lebensechtes, mit Pinsel und Farbe gemaltes Bild von Montaigne, dafür aber sein höchstpersönlich mit Feder und Tinte geschriebenes Porträt seiner selbst.
"Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft. Wäre es mein Anliegen gewesen, um die Gunst der Welt zu buhlen, hätte ich mich besser herausgeputzt und käme mit einstudierten Schritten daherstolziert. Ich will jedoch, dass man mich hier in meiner einfachen, natürlichen und alltäglichen Daseinsweise sehe, ohne Beschönigung und Künstelei, denn ich stelle mich als den dar, der ich bin."
Mit dieser Vorrede übergibt Montaigne seiner Leserschaft die erste Ausgabe der "Essais". Weitere Ausgaben mit immer neuen Zusätzen werden folgen. Er ist 47 Jahre alt. Rund acht Jahre hat er an seinem Selbstporträt geschrieben. Jahre, in denen nicht nur die Züge seines Porträts wechseln und sich vielfach wandeln und in denen nicht bloß sein Ich wankt und schwankt: Es sind Jahre, in denen auch die Welt um ihn herum – Frankreich und Europa – wankt und schwankt.
"Es gibt verschiedene Spannungsfelder, eines ist die Konfession. Einerseits die Katholiken, auf der anderen Seite die verschiedenen Formen von Protestantismen: die Lutheraner im deutschen Kontext, Zwinglianer im reformierten schweizer Kontext, die Calvinisten vor allem für Frankreich natürlich wichtig, die Reformierten auch im niederländischen Bereich, die Anglikaner in England. Der zweite prägende Konflikt ist der Gegensatz zwischen den katholischen Mächten und den protestantischen Mächten jetzt nicht auf der innerstaatlichen Ebene, sondern zwischen den Staaten. Vor allem zwischen den Engländern, Elisabeth I., und Spanien, also der katholischen Vormacht Philipps II., Frankreich ist da immer ein bisschen dazwischen." (Thomas Maissen)
Über Thomas Maissen
Thomas Maissen ist Historiker mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit. Seit 2013 ist er Direktor am Deutschen Historischen Institut Paris.
Die Kindheit und Jugend de Montaignes
Michel de Montaigne wird im Südwesten Frankreichs, im Périgord, geboren:
"Ich wurde zwischen elf und zwölf mittags am letzten Tag des Februars 1533 nach unserer Zeitrechnung geboren. Montaigne ist meine Geburtsstätte und die der meisten meiner Vorfahren. Ihre ganze Liebe haben sie ihr gegeben und ihren Namen angenommen."
Hier retuschiert Montaigne sein Selbstporträt ein wenig. Ein gewisser Stolz auf Adel und Titel scheint ihm an dieser Stelle die Feder geführt zu haben. Stolz ebenso auf das prachtvolle Wappen, welches das große Portal an der Tordurchfahrt zum Schloss ziert: Es zeigt – verteilt auf azurblauem Grund – goldene Kleeblätter und in der Mitte eine gelbe Löwenpranke mit ausgefahrenen roten Krallen.
"Michel de Montaigne ist mit einem ursprünglich bürgerlichen Namen zur Welt gekommen – Michel Eyquem. Er hat dann selbst diesen Namen nach dem Landsitz dort variiert, Montaigne kommt direkt aus Montagne, aber das wurde dann veredelt durch ein i." (Uwe Schulz)
Über Uwe Schultz
Uwe Schultz ist Publizist und Hörfunkjournalist. Unter anderem beschäftigte er sich auch mit Michael de Montaigne und veröffentlichte über ihn eine Monografie - Uwe Schultz: "Montaigne", 160 Seiten, 4. Auflage, 1989
Als erstes aber wird der kleine Michel – von seinem Vater zärtlich "Micheau" genannt – direkt nach der Geburt einer Amme übergeben, wie es in adligen Kreisen damals üblich war. Unüblich war es hingegen, dass es sich dabei um die Familie eines armen Köhlers handelt, die in einem Dorf lebt, das zu den väterlichen Besitzungen gehört.
"Der gute Vater beließ mich dort, solange ich gestillt wurde, um mich an die einfachste und niedrigste Lebensweise zu gewöhnen. Er wollte mich mit dem Volk in nahe Berührung bringen und mit dem menschlichen Stande, der unserer Hilfe bedarf. Das war auch der Grund, warum er mich von Personen niedrigsten Standes aus der Taufe heben ließ, um mich solchen zugetan und geneigt zu machen. Seine Absicht ist ihm auch nicht missglückt: Ich gebe mich gern mit kleinen Leuten ab."
Michel ist der älteste Sohn von Pierre Eyquem. Nach ihm kommen noch sechs weitere Kinder zur Welt. Was seine Mutter von all dem gehalten hat, teilt uns Montaigne nicht mit. Um so häufiger spricht er von seinem Vater, der dem kleinen Michel die besten Voraussetzungen für ein Leben schaffen will, wie es dem Renaissance-Ideal einer humanistischen, durch die klassische Antike geformten Bildung und nicht zuletzt einem Mann von Adel gebührt.
Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592)© Prisma Archivo / dpa
"Unser Haus steht schon lange den Männern der Wissenschaft offen. Mein Vater scheute weder Mühe noch Aufwand, mit gelehrten Männern Umgang zu pflegen. Er empfing sie in seinem Haus wie von göttlicher Weisheit Erleuchtete und nahm ihre Darlegungen auf, als wären sie Orakelsprüche. Ich liebe sie auch, aber ohne sie zu vergöttern."
Doch zum Leidwesen seines Vaters erbringt das Bildungsprogramm für seinen Sprößling erst einmal nicht die erhofften Früchte. Tatsächlich liegt dem jungen Michel nichts weniger, als stillzusitzen und harte Schulbänke zu drücken. Er braucht Bewegung. Am liebsten sitzt er im Sattel und galoppiert über die baumbestandene Schlossallee hinaus in die Landschaft der Dordogne mit ihren sanft geschwungenen Hügeln und den vielen Weinbergen, in die auch das väterliche Anwesen eingebettet ist.
Auch "auf dem Pflaster bin ich von meiner Jugend an lieber geritten als zu Fuß gegangen; zu Fuß werde ich schmutzig bis zu den Gesäßbacken." Denn – so erfahren wir bei dieser Gelegenheit – Montaigne ist von kleiner Statur. Er ist zu klein geraten, wie er in späteren Jahren frank und frei gesteht.
"Das ist nicht nur ein Schönheitsfehler, sondern bringt auch Unannehmlichkeiten mit sich, vor allem für den, der zu befehlen hat und Ämter bekleidet; denn die Autorität geht ihm ab. Es ist doch recht ärgerlich, wenn ich unter meinen Bedienten dastehe und man sich mit der Frage an mich wendet: "Wo ist der Herr?" Oder wenn ich sehen muss, wie bei meinem Erscheinen gerade die Hüte wieder aufgesetzt werden, die man vor meinem Sekretär oder Barbier gezogen hat."
An der fehlenden Körpergröße freilich lässt sich nichts ändern, außer sich möglichst oft aufs Pferd zu setzen. Seine kleine Statur aber hindert ihn keineswegs daran – hübsche Mädchen gibt es auf den väterlichen Besitzungen genug – erotisch höchst aktiv zu sein.
Literaturtipp:
Michel de Montaigne: "Essais", erste deutsche Gesamtübersetzung von Hans Stilett, 1998
Nach dem Willen seines Vaters beginnt Montaigne, als er seine Schulzeit im Collège de Guyenne beendet hat, in Bordeaux mit dem Jurastudium. Er setzt es in Toulouse fort. Sein Vater ist zu dieser Zeit Bürgermeister von Bordeaux. Seinem Sohn kauft er das Amt eines Ratsherrn am Steuergerichtshof in Périgueux. Drei Jahre später wird Montaigne Parlamentsrat in Bordeaux.
1560 kommt es in Bordeaux zu einer Ketzerverbrennung. Daraufhin brechen Unruhen aus. Etwa 7000 Hugenotten leben in der Stadt. Weitere Aufstände und weitere Hinrichtungen folgen. Als Parlamentsrat gerät Montaigne – "bis über beide Ohren in Amt und Aufgaben hineingetaucht" – in allernächste Tuchfühlung mit den sich verschärfenden Spannungen. Er äußert sich nicht direkt dazu. Womöglich aber haben ihn diese Ketzerhinrichtungen später zu der Notiz veranlasst:
"Um Leute töten zu dürfen, bedarf es schon einer hellen und untadeligen Klarheit. Es heißt, seine eigenen Mutmaßungen sehr hoch einschätzen, wenn man ihretwegen einen Menschen bei lebendigem Leib verbrennen lässt."
Beginn der Eigenständigkeit
"Im Jahre des Heils 1571, im 38. Lebensjahr, am 28. Februar, seinem Geburtstag, hat sich Michael Montanus, seit langem der Bürden des Parlaments und der öffentlichen Pflichten müde, in voller Lebenskraft in den Schoß der gelehrten Musen zurückgezogen, wo er in Ruhe und Sicherheit, wenn es das Schicksal ihm vergönnt, die Tage verbringen wird, die ihm zu leben bleiben."
Diese ein wenig gestelzte Inschrift lässt Montaigne in lateinischer Sprache an die Wand seiner Bibliothek anbringen. In der Tat hat er ein Jahr zuvor sein Amt als Parlamentsrat verkauft. Seit dem Tod seines Vaters – er stirbt 1568 – ist er als der älteste Sohn Eigentümer und Herr zu Montaigne.
Südlich des Hauptgebäudes, in der südwestlichen Ecke der quadratisch gebauten Schlossanlage, liegt sein Bibliotheksturm.
Video des Bayrischen Rundfunks über Michel de Montaigne:
"Von meiner Bibliothek aus überschaue ich mein ganzes Hauswesen mit einem Blick. Sie liegt über dem Eingangstor, und ich sehe unter mir meinen Garten, meine Stallungen, meinen Innenhof und die meisten Teile meines Anwesens. Hier verbringe ich die meisten Tage meines Lebens und die meisten Stunden der Tage. Daneben liegt ein recht wohnliches kleines Arbeitszimmer, das wohltuend licht ist, und in dem winters Feuer gemacht werden kann."
Doch zunächst muss der freiwillige Ruheständler in seinem Turm eine befremdliche Erfahrung machen:
"Als ich mich kürzlich nach Hause zurückzog, entschlossen, was mir noch an Leben bleibt, in Ruhe und für mich zu verbringen, schien mir, ich könnte meinem Geist keinen größeren Gefallen tun, als ihn in voller Muße bei sich Einkehr halten und gleichmütig mit sich selbst beschäftigt sein lassen. Nun aber sehe ich, das umgekehrt der Geist, vom Müßiggang verwirrt; zum ruhelosen Irrlicht wird."
Mit 32 heiratet de Montaigne die 21-jährige
Françoise de La Chaissagne. Eine standesgemäße Heirat für den damaligen Ratsherrn. Françoise ist die Tochter eines namhaften und einflussreichen Kollegen in Bordeaux. Ihre Mitgift beträgt ansehnliche 7000 livre tournois. Es ist eine arrangierte und hauptsächlich auf Wunsch der Eltern geschlossene Ehe.
"Von mir aus würde ich sogar der Weisheit, falls sie mich gewollt hätte, die Ehe ausgeschlagen haben. Doch was wir immer auch daherreden – Sitte und Brauch führen uns am Gängelband. Als ich zur Ehe bestimmt wurde, war ich gewiss schlechter für sie gerüstet und von größerem Widerwillen erfüllt als heute, da ich die Probe aufs Exempel gemacht habe. Und wie zügellos man mich auch halten mag, befolgte ich in Wahrheit die Gesetze des Ehestandes strenger, als ich es versprochen und selbst erwartet hatte."
Wider Erwarten gelingt ihm also die "Probe aufs Exempel", glückt ihm sein "Essai" in Sachen Ehestand. Eines aber möchte der Essayist aus der Ehe und vor allem aus dem Ehebett herausgehalten wissen – die ihm von Jugend an so geläufigen Spiele von Venus und Amor.
"Ich bin noch nicht so lange von der Hofliste der Gefolgsleute Amors gestrichen, dass meinem Gedächtnis seine bezwingende Macht entschwunden wäre. Aber im vernunftgelenkten Geschäft der Ehe sind die Begierden nicht derart wild, sie sind abgestumpfter und eher trübselig. Familienbande und Vermögen haben darin zu Recht ebenso viel Gewicht wie Anmut und Schönheit, oder noch mehr. Der Mann, sagt Aristoteles, dürfe seine Frau nur zurückhaltend und zuchtvoll berühren, damit sie, falls er sie allzu ungestüm reize, vor Wollust nicht außer Rand und Band gerate."
Montaigne spricht hier ganz als das Kind seiner Zeit. Es galt als anstößig, sich als Ehemann seiner Frau gegenüber wie ein leidenschaftlicher Liebhaber zu verhalten. Das schade nicht bloß ihrer Seele, sondern ebenso der Fortpflanzung.
Im Laufe ihrer Ehe bringt Françoise sechs Kinder zur Welt – allesamt Töchter. Fünf Kinder sterben bereits kurz nach der Geburt. Die Säuglingssterblichkeit in diesen Zeiten ist hoch. Als einziges Kind bleibt seine Tochter Léonor am Leben und erreicht das Erwachsenenalter. Einen männlichen Stammhalter hat Montaigne nicht gezeugt:
"Wir hängen unser Herz etwas zu sehr an die Bestimmung unserer männlichen Erben und Nacherben – in der lächerlichen Hoffnung, so unsere Namen verewigen zu können."
Seit zwei Jahren ist König Karl IX. tot. Neuer König ist nun sein Bruder
Heinrich III. Der Machtkampf zwischen den verfeindeten Parteien aber geht unvermindert weiter. Der Glaubenskampf zwischen Katholiken und Hugenotten im Namen Gottes und ihrer jeweils unverrückbaren Wahrheitsansprüche wird weiterhin ohne Pardon ausgefochten.
Dann – inmitten dieses heillosen Hin und Her – findet Montaigne unverhofft sein Gleichgewicht. 1576 lässt er eine Schaumünze prägen. Die Münze zeigt eine ausbalancierte Waage, und über der Waage steht sein berühmter Wahlspruch: "Que sais-je?" – "Was weiß ich?"
"Die Pest des Menschen ist, dass er zu wissen wähnt. Man stelle sich ein fortwährendes Bekennen von Unwissenheit vor, ein völlig unparteiisches, unter keinen Umständen irgendeiner Seite zuneigendes Denken. Wie viele Wissenschaften haben wir doch, die offen einräumen, dass sie mehr auf Spekulation als auf Erkenntnis beruhen. Wir wären daher viel besser beraten, wenn wir uns vom gewohnten Gang der Welt leiten ließen, ohne unsere Nase in alles zu stecken. Eine gegen jedes vorgefasste Urteil gefeite Seele ist auf dem Weg zur inneren Ruhe ungemein weit voraus."
Montaigne ist ein guter Katholik in dem Sinne, dass er den religiösen Gepflogenheiten nachkommt und am Herkömmlichen festhält. "Weil ich nicht imstande bin zu wählen, folge ich der Wahl anderer und bleibe in dem Geleise, in das Gott mich gesetzt hat." Zugleich aber ist er als echter Skeptiker tolerant und offen, jeglichen Glauben gelten zu lassen.
"Wir nehmen unsere Religion nur auf unsere Weise und aus unsren eigenen Händen an und nicht anders, als die anderen Religionen angenommen werden: entweder weil wir sie im Lande unserer Geburt als üblich vorfanden oder weil wir ihre Altehrwürdigkeit achten oder weil wir die Strafen fürchten, die sie den Ungläubigen androht, oder ihren Versprechen trauen."
Im Frühjahr 1580 beendet Montaigne das erste und zweite Buch seiner "Essais". Die Ausgabe wird in Bordeaux veröffentlicht.
Mit 47, im Jahr 1580, geht Montaigne auf Reise. "Aber in eurem Alter werdet ihr nie von einer so langen Wegstrecke zurückkehren!" Na und? Ich unternehme meine Reise weder, um zurückzukehren, noch um ans Ziel zu kommen. Ich unternehme sie allein um der Bewegung willen, solang mir die Bewegung gefällt. Ich bin unterwegs, um unterwegs zu sein."
"Montaigne war in seinen vorgerückten Jahren sehr bestimmt durch Schmerzen der Nierensteine. Diese Schmerzen zählen ja bis heute zu dem höchsten Grad an Schmerzen, was dem Menschen zuzumuten ist, bevor er sich der Ohnmacht überlassen muss. Also, das war etwas, was ihn sehr beschäftigt hat, nicht nur physisch." (Uwe Schultz)
Er will auf seiner Grand Tour auch die verschiedenen Bäder aufsuchen, die auf der Route liegen, die ihn und seine Reisegruppe über die Schweiz und Deutschland nach Italien, nach Rom führen soll – das Ziel aller guten Katholiken.
Michel Eyquem de Montaigne (1533-1592) (nach Henriquel-Dupont)© akg / dpa
Einer der Höhepunkte: Am 29. Dezember findet eine Audienz beim Papst statt. Bei demselben Papst, Gregor XIII., der acht Jahre zuvor anlässlich des Massakers in der Bartholomäusnacht ein "Te Deum laudamus" zum Dank hatten singen lassen. Doch es sei, wie es sei – für einen katholischen Adligen gehört eine Papstaudienz bei seinem Rom-Aufenthalt unbedingt dazu.
"Der Papst sitzt in einer Ecke des Raums. Wer immer die Eintretenden sein mögen – nach ein, zwei Schritten müssen sie ein Knie zur Erde beugen und warten, bis der Papst ihnen den Segen gibt. Dann setzen sie ihren Weg bis an einen vor den Füßen des Papstes liegenden Samtteppich fort, an dessen Rand sie sich auf beide Knie niederlassen. Als die Herren an diesem Punkt der Zeremonie angekommen waren, setzte der Botschafter, der sie vorstellte, ein Knie auf den Boden und schlug das Gewand des Papstes an dessen rechten Fuß so zurück, dass ein roter Pantoffel mit einem weißen Kreuz zum Vorschein kam. Die Knienden rutschten jetzt bis zum Fuß des Papstes vor und beugten sich zur Erde, um ihn zu küssen. Der Herr de Montaigne sagte später, der Papst habe hierbei die Fußspitze etwas angehoben."
Wahl zum Bürgermeister von Bordeaux
"Ich hielt mich morgens eine Stunde im großen Bad auf. Am selben Morgen wurde mir ein von Rom nachgeschickter Brief des Herrn du Tausin übergeben, der am zweiten August zu Bordeaux geschrieben war und in dem er mir mitteilte, dass ich am Tag zuvor einstimmig zum Bürgermeister gewählt worden sei."
Montaigne muss deshalb seine Reise abbrechen. Auf Schloss Montaigne angekommen findet er einen Brief des Königs vor, der ihn schon unterwegs hatte erreichen sollen.
"Herr von Montaigne! Da ich Sie für Ihre höchste Treue und Ergebenheit in meinem Dienste hoch schätze, habe ich mit großer Freude vernommen, dass man Sie zum mayor meiner Stadt Bordeaux gewählt hat, und ich habe dieser Wahl mit um so größerer Freude zugestimmt, als sie ohne Ränkespiel und trotz Ihrer langen Abwesenheit getroffen wurde. Aus diesem Grund befehlige ich Ihnen und fordere Sie hiermit ausdrücklich auf, nach Erhalt des Briefes sofort und unverzüglich zurückzukehren, Ihrer Pflicht nachzukommen und Ihr Amt anzutreten. Das Gegenteil würde ich mit großem Missfallen zur Kenntnis nehmen. Gebe Gott, dass Sie verehrter Herr von Montaigne, bei guter Gesundheit sind. HEINRICH."
Er tritt sein Bürgermeisteramt an und wird gegen den Widerstand des ultrakatholischen Lagers nach zwei Jahren, 1583, sogar für eine weitere zweijährige Amtszeit wiedergewählt. Erneut sieht es so aus, als sei er "bis über beide Ohren in Amt und Aufgaben hineingetaucht" – doch es scheint nur so. Jetzt im Alter und als Ertrag seiner Jahre im Turm weiß er Abstand von Amt und Würden zu halten. Denn eins verliert er nie aus dem Blick: "Der Bürgermeister von Bordeaux und Montaigne, das waren immer zwei – klar und säuberlich voneinander geschieden."
Seine zweite Amtszeit fällt in eine Zeit, die auf die längste und blutigste Phase des Bürgerkriegs zutreibt, der mit kurzen Atempausen nun schon über 20 Jahre andauert.
Es ist die Frucht seiner Skepsis, deren "unparteiisches, unter keinen Umständen irgendeiner Seite zuneigendes Denken" ihm die Freiheit verschafft hat, am Treiben der Welt teilzuhaben, ohne selbst davon getrieben zu werden.
"In den wenigen Verhandlungen, die wegen der uns heute zerfleischenden Parteiungen und Unterparteiungen mir zwischen unseren Fürsten zu führen aufgetragen war, habe ich peinlich vermieden, eine Maske aufzusetzen, die sie verleiten könnte, mich misszuverstehen. Berufsdiplomaten suchen nach besten Kräften gegenüber jedem ihre Gedanken zu verbergen und allen nach dem Mund zu reden. Ich hingegen bekenne mich aufs lebhafteste zu meinen Meinungen und zeige mich ganz so wie ich bin – ein Neuling und Grünschnabel von Unterhändler, der lieber seinen Auftrag verfehlt als sich selbst."
Freundschaft mit Étienne de La Boëtie
Längst ist Montaigne wieder in seinem Turm. Ein Jahr zuvor hat er in Paris die vierte, um ein drittes Buch erweiterte Ausgabe seiner "Essais" veröffentlicht. Für wenige Jahre gewinnt er mit
Étienne de La Boëtie einen wichtigen Freund
"Bei der ersten Begegnung, die zufällig auf einer großen städtischen Feier und Geselligkeit erfolgte, fühlten wir uns so zueinander hingezogen, ja so miteinander bekannt und verbunden, dass wir von Stund an ein Herz und eine Seele waren. Unsere wechselseitige Zuneigung gedieh rasch zur Vollkommenheit."
Lediglich vier Jahre dürfen sie ihre Freundschaft genießen. Dann wird La Boëtie unerwartet ein Opfer der Ruhr oder der Pest. Montaigne ist an seiner Seite, als er 1563 stirbt. La Boëtie vermacht ihm seine Bibliothek, die im Turmzimmer von Schloss Montaigne eine würdige Heimstatt findet. Vielleicht verdanken wir seinem Schmerz um den früh Verstorbenen sogar ein Stück weit seine "Essais". Sein tägliches Gespräch "von sich zu sich selbst" ist auch Erinnerung und Ersatz für die schmerzlich vermisste Zwiesprache mit seinem Freund. Denn eigentlich "wäre mir ein Umgang vonnöten (wie ich ihn ja einmal hatte), der mich anreizte, unterstützte und weiterführte".
1589 steckt der 56-jährige Montaigne tief in den Vorbereitungen zu einer nochmals erweiterten Ausgabe der "Essais" mit über tausend neuen Zusätzen und Einschüben. Am 2. August 1589 wird Heinrich III. bei seiner Morgentoilette von einem fanatisierten Dominikanermönch – Jacques Clément – erstochen. Noch auf dem Sterbebett erkennt Heinrich III. Heinrich von Navarra als seinen legitimen Nachfolger, als Heinrich IV., an.
"Also, genau das, was die radikalen Katholiken nicht wollten. Auf einmal war ein Hugenotte an der Spitze des Königreichs, und damit ging dieser Bürgerkrieg eigentlich von drei Parteien in einen Bürgerkrieg von zwei Parteien über." (Thomas Maissen)
Die politische Lage wandelt sich: Am 25. Juli 1593 konvertiert Heinrich IV. in der Kathedrale von Saint-Denis nördlich von Paris feierlich zum katholischen Glauben. Am 27. Februar 1594 lässt er sich in der Kathedrale Notre-Dame de Chartres salben und zum König krönen. Am 22. März 1594 zieht er in Paris ein. Vier Jahre später erlässt er das entscheidende Edikt von Nantes, das dem Land 87 Jahre Religionsfrieden sichern wird.
Das erlebt Michel de Montaigne nicht mehr, am 13. September 1592 stirbt er:
"Es ist höchste, fast göttergleiche Vollendung, wenn man das eigene Sein auf rechte Weise zu genießen weiß. Wir suchen andere Lebensformen, weil wir die unsre nicht zu nutzen verstehen; wir wollen über uns hinaus, weil wir nicht erkennen, was in uns ist. Doch wir mögen auf noch so hohen Stelzen steigen – auch auf ihnen müssen wir mit unsren Beinen gehen; und selbst auf dem höchsten Thron der Welt sitzen wir nur auf unsrem Arsch."
Produktion dieser Langen Nacht:
Autorin: Astrid Nettling, Regie: Stefan Hilsbecher, Sprecher: Birgitta Assheuer, Volker Risch, Folkert Dücker, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Webproduktion: Jörg Stroisch
Über die Autorin:
Die Autorin Astrid Nettling studierte Literaturwissenschaft und Philosophie, promovierte in Philosophie. Sie ist als freiberufliche Rundfunk- und Buchautorin tätig. Sie schreibt regelmäßig für den Deutschlandfunk und andere ARD-Rundfunkanstalten u.a. Radioessays und Features zu Philosophie, Literatur, Religion, Kunst und Gesellschaft.