Der Hund der Baskervilles. Übersetzt von Henning Ahrens, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2017.
Das Moor und die Kunst
Das Papenburger Moor: Landschaft zwischen Wasser und Erde © picture alliance / dpa / Carmen Jaspersen
Es wankt und wuchert und schweigt
Moore, das sind karge Landschaften voller Mythen und Geheimnisse, zwischen Erde und Wasser, zwischen fest und flüssig. Im Moor treibt es schaurige Gestalten um. In der Literatur haben die Feuchtgebiete einen festen Platz, in der Kunst auch.
"Dieses Moor ist eine wunderbare Gegend", sagte er; er schaute über die Dünung der Hügel, lange grüne Wogen mit Kämmen von zerklüftetem Granit, die zu fantastischen Brandungen aufschäumten. "Man wird des Moors nie überdrüssig. Sie können sich nicht vorstellen, welche wunderbaren Geheimnisse es birgt. Es ist so weitläufig und so öde und so rätselhaft."
Es klingt nach einer freundlichen, recht belanglosen Naturschwärmerei, mit der ein gewisser Mr. Stapleton in Arthur Conan Doyles berühmtem Roman "Der Hund der Baskervilles" über das südenglische Dartmoor redet. Wer allerdings Arthur Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichte weiterliest, wird am Ende darauf stoßen, dass ausgerechnet der freundliche Mr. Stapleton über ein großes verbrecherisches Talent verfügt, die Schauerlichkeiten des Moores für seine dunklen Machenschaften zu nutzen!
Das öde Moor
In Deutschland galt das Moor im 19. Jahrhundert als Ort der Rückständigkeit und der Ödnis. Um 1860 hatte der Bremer Reiseschriftsteller Johann Georg Kohl Moore im benachbarten Königreich Hannover besucht und seinem Lesepublikum eindringlich beschrieben. Genauer gesagt: Er hatte kein gutes Haar an den Feuchtgebieten gelassen. In seiner nüchternen Beurteilung stehen die Moore für nichts anderes als Ödnis und Rückständigkeit. Das Wallhöfer Moor, ein "fast völlig uncultiviertes und wildes Hochmoor", nur wenige Kilometer von Bremen entfernt, beschreibt Kohl so:
"Obgleich wir uns mitten in der schönsten Jahreszeit befanden, in welchem Alles umher, was nicht Moor war, grünte und blühte, und in der alle Gebüsche der Haide vom Gesange der Vögel erklangen, so war doch auf diesem Moor-Plateau Alles todt und öde, wie im tiefsten Winter. Vögel gab es da nicht, weil kein Gebüsch und keine Gelegenheit zum Nesterbau vorhanden ist. Keine Lerche jubelte in den Lüften. Kein Fisch bewegte sich in den im Moraste gebannten Gewässern.
Selbst Fuchs und Hase können in diesem Sumpfe nicht wohnen und leben. Obgleich die Sonne lieblich strahlte, wanderten wir auf tiefen glitscherigen Morastwegen wie im trüben November. Die Oberfläche war überall mit verschiedenen Sorten schmieriger und schwammiger Moose bewachsen. Wir konnten uns einbilden, es wäre ein riesiger, verfaulter, auf der Erde hingestreckter Baumstamm, auf dessen abgestorbener Rinde wir wie kleine Käfer kröchen. (…) Solche Oede sah man nur an den Enden und Gipfeln der Erde, auf dem Rücken der Hochgebirge und dicht unter dem Wolkenschleier der Gletscher."
Noch einen Schritt weiter in Richtung Moor-Verachtung geht 1867 die wöchentlich erscheinende, viel gelesene Zeitschrift "Die Gartenlaube". Sie findet sogar einen Begriff für das angebliche Hinterwäldlertum und Elend der Moore: Die Moore bilden das Land Muffrika.
"Alle Leser kennen Afrika, wenn auch die meisten nur durch Lectüre, sehr wenige aber werden Muffrika kennen…ein Landstrich, der mehr oder weniger hinter der Entwicklung der übrigen Welt zurückgeblieben ist. Ein Land, wo der Heerrauch oder Höhenrauch herkommt."
Der beißende Rauch, der beim Abbrennen der Heiden über den Mooren entstand, um einen primitiven Dünger für die Buchweizen-Kultur zu erzeugen, war ein charakteristisches Merkmal der Moore und allemal wert, in Gedichten festgehalten zu werden. So dichtet zum Beispiel der Maler und Schriftsteller Fritz Stöber in den 1910 erschienenen "Stimmungsbildern aus dem Moor":
"Der Moorrauch steigt und geistert bleich
in qualmenden Wolken durchs Heidereich,
und über die Halme und Sträucher schwer
schleicht es mit weißer Bürde her.
Was eben noch lebte im lichten Schein,
erblindend hüllt es der Moorrauch ein:
die Heide, wie eine Schale voll Schaum,
kocht über in den Weltenraum.
Inmitten ein Hügel, noch mondesklar,
umflattert von dunkler Rabenschar;
da stehen zwei Birken, vom Sturme entlaubt
und schütteln ängstlich ihr müdes Haupt.
Der Moorrauch steigt, die Insel erlischt,
weiß überspült von züngelndem Gischt.
Nun klettert der Nebel, und schwingt sich hinan
und zieht den Birken Hemdlein an.
Die stehen wie Geister, entstiegen dem Grab,
und blicken weit übers Land hinab.
Dem Wandrer, der zage vorübergeht,
graust es, wenn er den Spuk erspäht."
Das ist Muffrika, das Land, wo die Birken Hemdlein aus Nebel tragen. Johann Georg Kohl, der Reiseschriftsteller aus der Stadt, kann sich an den primitiven Hütten der Moorbewohner zu seiner Zeit gar nicht satt sehen. Er spricht von der kümmerlichen Ernährung der Moorleute mit Buttermilch und Schwarzbrot. Er schildert das enge Zusammenleben der Menschen mit Ziegen, Schafen, Kühen und Schweinen in den elenden, immer verrauchten Hütten. Er habe, schreibt Kohl, bisher nicht gewusst, dass es "in unserem Deutschland noch solche Zustände gäbe".
Doch diese "Zustände" spiegeln nur eine Momentaufnahme. Der Abbau des Moores, - damals auch oft nach dem oberflächlichen Bewuchs als "Heide" bezeichnet, sein Verschwinden, - vollzog sich radikal und innerhalb weniger Jahrzehnte. Der Mensch und seine Bedürfnisse verdrängte es. Heute sind die Moore in Deutschland zwar nicht komplett verschwunden. Aber sie sind auf 15.000 Quadratkilometer geschrumpft, drei Viertel davon liegen in Niedersachsen.
Das Moor und die Nationalsozialisten
Der schlimmste Missbrauch fand unter der Herrschaft des Nationalsozialismus statt: Das Moor im Emsland, im äußersten Nordwesten Deutschlands, wird zum Schauplatz des Programms "Vernichtung durch Arbeit". Fünfzehn Konzentrations- und Arbeitslager wurden planvoll abgeschieden in kaum besiedeltem Land angelegt. Sie standen für Ödnis und Fluch der Moore. Das war ein tiefgreifender Perspektivwechsel. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert hatten die Fremden, die Landvermesser, Reiseschriftsteller das Bild vom Moor bestimmt. Es waren von romantischen Ideen durchdrungene Männer. Im zwanzigsten Jahrhundert sind die Moore im Nordwesten hingegen Teil einer gigantischen Unterdrückungs- und Vernichtungsmaschine. Man nennt sie "die Hölle im Moor". Wie alles begann? Im März 1933 suchte Innenminister Hermann Göring nach geeigneten Standorten für die neu zu errichtenden Konzentrationslager. Zitat aus einem Verwaltungsschreiben:
"An das Lager sind folgende Anforderungen zu stellen: Es muß sich um einen gut zu überwachenden Platz handeln, der nach Möglichkeit von Industriezentren abgelegen ist und auch eine Gelegenheit für eine Beschäftigung der Häftlinge bei gemeinnützigen Arbeiten bietet. Es ist hier an Arbeiten in Moorgegenden, an Rodungen von Waldgebieten zu denken. Die Unterbringung muss sich unter verhältnismäßig geringen Unkosten bewerkstelligen lassen."
Schon vor 1933 hatte es immer wieder Pläne gegeben, die großen Moore diesseits der Grenze zu den Niederlanden trockenzulegen und Raum für Kolonisten zu schaffen. Aber die Planungen gingen nur halbherzig voran, es mangelte an Geld und geeigneten Arbeitskräften. Der Nationalsozialismus versprach Abhilfe - auf seine Weise. Man kann darüber streiten, wie ernst es den neuen Machthabern mit Torfgewinnung und Urbarmachung der Moore tatsächlich war. Rund 80.000 KZ-Häftlinge und bis zu 180.000 Kriegsgefangene wurden zur Zwangsarbeit ins Emsland abkommandiert, 30.000 verloren dabei ihr Leben.
Zeitungsartikel bezeichneten das Emsland als Deutschlands wichtigsten neuen Siedlungsraum. 50.000 Hektar sollten trockengelegt und darauf neue Höfe gegründet werden, heißt es in der zeitgenössischen Propaganda. Allerdings gehen Historiker heute davon aus, dass es den Nationalsozialisten einzig darum gegangen sei, Menschen im Moor auszuschalten. An ferne unzugängliche Orte im Moor zu verbannen. Sie fertigzumachen. Die Moorkultivierung sei nur ein vorgeschobenes Motiv gewesen. Die Emslandlager wurden in nur wenigen Wochen aus dem Boden gestampft. Baracken für jeweils tausend oder zweitausend Häftlinge, rund um die Uhr bewacht, mit elektrisch geladenem Stacheldraht umzäunt. Der Schauspieler, Regisseur, spätere Leiter des Deutschen Theaters in Berlin, Wolfgang Langhoff, hat die Verhältnisse in seinem Buch "Die Moorsoldaten" beschrieben. Es erschien 1935 im Schweizer Exil.
"Ich liege am hintersten Ende der Baracke in einem oberen Bett. Neben mir der kaufmännische Angestellte. Wir haben es verstanden, zusammenzubleiben. Jetzt sitzen wir mit zwölf Mann am Tisch und unterhalten uns nur im Flüsterton."
"Hier kommt keiner lebendig heraus, das sag ich Euch. Hier im Moor können sie dich über den Haufen schießen und kein Hahn kräht nach dir!"
"Ob man von hier aus abhauen kann? Muss doch gar nicht weit zur holländischen Grenze sein. Höchstens zehn Kilometer."
"Mitten durchs Moor, was? Wenn du da nicht Bescheid weißt, sackst du ab! Unweigerlich. Immer tiefer. Dann lieber schon hier verrecken und ein paar von denen noch mitnehmen!"
"Ja, die haben gewusst, warum sie das Lager gerade in der Gegend errichtet haben!"
Wolfgang Langhoff: Die Moorsoldaten — 13 Monate Konzentrationslagerhaft. Ein unpolitischer Tatsachenbericht. Schweizer Spiegel Verlag, Zürich 1935
Berühmt geworden ist vor allem das Lied, das den gleichen Titel trägt. Langhoff hat am Text mitgewirkt.
Museum gegen das Vergessen
Baracken – Stacheldraht – Wachttürme – heute ist nichts von alledem in Esterwegen und den übrigen Emslandlagern wieder zu finden. Die "Hölle im Moor" ist wie vom Erdboden verwunden. Die Bundeswehr, die ab 1963 auf dem Lagergelände ein Sanitäts- und Bekleidungsdepot unterbrachte, machte reinen Tisch mit der Nazi-Architektur und errichtete ihre eigenen Hallen und Büros. Nüchtern und praktisch. 2001 wurde der Standort aufgegeben. Nun konnte das Land Niedersachsen hier eine Gedenkstätte planen. Die Historikerin Andrea Kaltofen hat das Konzept mitentwickelt und erklärt, wie die bedrückende Aura von damals auch heute noch spürbar wird.
"Die Dimensionen des Geländes, die Punkte, die ganz besonders für Unterdrückung, Eingesperrtsein, ständig bewacht sein, nicht weg können, also für diese ganzen furchtbaren Haftbedingungen, die dafür stehen, die Tore, die Außenmauer, die Wachttürme, sind übersetzt worden in Cortenstahl-Zitate. Stahl als ganz hartes, scharfkantiges Material gibt dann natürlich auch die Härte als solche wieder, nimmt Bezug auf das Material Stahl der früheren Torfspaten, die die Häftlinge hatten, die Moortransportbahnen, die Schienen und Torfloren aus diesem Metall, und dann ist es eben so, dass gestalterisch dieser Rost absichtlich eingesetzt worden ist, so eine dunkelbraun-rote Rostpatina auf diesen Elementen, die sich jetzt in die Landschaft entsprechend einfügen."
Das Moor als Klimaretter?
Haben womöglich doch diejenigen recht, die das Moor für einen unrettbar lebensfeindlichen Unort halten? Wer selber aus dem Moor stammt, wer zwischen Torfmoosen und Biotopen aufgewachsen ist, sieht das anders. Vor allem: Moor und Moor sind nicht dasselbe. Ein artenarmes Hochmoor wie Esterwegen sollte nicht mit einem vielgestaltigen Niedermoor verwechselt werden. Der Biologe Michael Succow ist in einem brandenburgischen Niedermoor aufgewachsen.
"Ich bin ja auf einem Bauernhof groß geworden und hatte Schafe zu hüten, und wir hatten auch ein kleines Moor, eine Moorwiese, wo ich dann drei Orchideen fand, und das war ein wunderschöner kleiner Biotop, und dann eben Insekten, Vögel, Orchideen, und das alles hat mich so fasziniert, dass ich dann, eigentlich wollte ich Ornithologe werden, zunehmend doch begriff, die Vegetation, die Moore, diese Faszination Moore, die mich packte, und hab dann ein Teil meines Lebens weltweit dem Schutz der Moore, der Erforschung der Moore gewidmet."
Michael Succow, Jahrgang 1941. Den Artenreichtum der heimatlichen Niedermoore hat er in den fünfziger und sechziger Jahren noch selber erlebt. Denn anders als in den artenarmen Regenmooren Nordwestdeutschlands, den Hochmooren, sorgte in den brandenburgischen Niedermooren das Grundwasser für genügend Nährstoffe.
"Wenn ich jetzt die Niedermoore sehe, die offen, licht waren, basenreich, durch Grundwasser gespeist, da ist eine ungeheure Lebensfülle, 20, 30 Moosarten, ich habe Vegetationsaufnahmen damals gemacht, auf einer Fläche von vielleicht vier Quadratmetern rund 50, 55 Pflanzenarten festgestellt. Dazu eine große Fülle an Insekten, dazu all die kleinen Wiesenvögel, die Braunkehlchen, die Neuntöter, die alle in diesem Ökosystem verwoben waren. Das war ein Lebensraum höchster Biodiversität und auch seltene Arten, die heute in Teilen schon ausgestorben, gibt es gar nicht mehr, so, das war, was ich damals erlebte."
Mit der Wende sah Michael Succow eine Überlebenschance für "seine" Moore gekommen. Er engagierte sich politisch und wurde stellvertretender Minister für Umwelt, Naturschutz, Energie und Reaktorsicherheit in der kurzlebigen Noch-DDR-Regierung unter Lothar de Maizière. 1990, noch in den letzten Wochen, gelang ihm ein genialer Coup: Succow stellte große Flächen des untergehenden Landes unter Naturschutz. Und heute, in der Klima-Krise, kommt den Mooren eine herausragende Rolle zu: Als Kohlendioxid-Speicher können sie mit dazu beitragen, die Erde vor dem Treibhaus-Kollaps zu retten.
"Moore haben die große Aufgabe, im Naturhaushalt Torf zu speichern, Kohlendioxid aus der Luft über die Pflanze aufzunehmen und dann nicht vollständig zu mineralisieren, sondern einen Teil dann als Torf zu akkumulieren, aus dem Kreislauf zu bringen. Das ist das Herausragende der Moore, und diese Nutzungsformen zu finden, die das Moor weiter wachsen lassen bei Abschöpfung der Biomasse, das ist so ein Schwerpunkt der Forschungen in Greifswald dann geworden."
Intakte Moore holen schädliches Kohlendioxid aus der Atmosphäre und speichern es im Torf. Können Moore die Erde retten? Oder wenigstens einen Beitrag dazu leisten? Michael Succow ist da vorsichtig optimistisch.
"Also für mich höchste Priorität: Wenn ich ein Moor nutze, muss es ein System sein, was wächst, was akkumuliert. Unterirdisch Torf, oberirdisch kann ich es jährlich abschöpfen, das geht alles, aber es muss wachsen. Das ist die Aufgabe der Moore. Und deshalb mein Grundsatz: von der Natur lernen, wie sie es macht. Dann werden wir vielleicht doch Teil dieser Welt noch ein Weilchen bleiben."
Das schaurige Moor in der Literatur
Um das Moor als Ort des Schaurigen und des Gefährlichen, als Todeszone und als Reich des Übersinnlichen geht es bis heute in der Literatur: Annette von Droste-Hülshoff traf mit ihrem Gedicht "Knaben im Moor" 1842 genau die Erwartungen an die Moor-Literatur ihrer Zeit, ein Auszug:
"O schaurig ist´s, übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Haiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt -
O, schaurig ist´s, übers Moor zu gehn,
Wenn der Röhricht knistert im Hauche!
Tief athmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war´s fürchterlich,
O schaurig war´s in der Haide!"
Wo es Moore gibt, gibt es eine Moor-Literatur. Meisterhaft gelingt das Spiel mit dem Gruseligen 1902 dem britischen Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle mit der viktorianischen Kriminalgeschichte "Der Hund der Baskervilles". Mr. Stapleton, der Schuft aus dem Roman von Doyle, ist ein furchtbares Ende beschieden: Er versinkt ausgerechnet an der unheimlichsten Stelle im Moor. Unrettbar und unauffindbar. Mit dem Motiv des "Versinkens im Moor" ist ein Topos gesetzt, auf den auch jüngere Autoren zurückgreifen. Eine Variante des Verirrens und spurlosen Verschwindens, die bei keiner Geschichte im Moor fehlen darf. Auch nicht bei Karen Duve aus Hamburg. In ihrem düsteren "Regenroman" aus dem Jahre 1999 stimmt sie ihr Publikum mit drastischen Naturschilderungen Kommendes ein:
"Da war das Moor. Leon ging am Zaun entlang um das Haus herum. Gleich dahinter begann ein verfilzter Teppich aus hellgrünen Pflanzenpolstern mit kreisrunden, dunkelbraunen Wasserlöchern. Eine Wiese aus hohem Sumpfgras schloss sich an. Weit, weit erstreckte sie sich bis zu einer Reihe Moorkiefern. Der verhangene Himmel hatte eine blaue Pastellfarbe angenommen. Violetter Dunst lag über dem Moor und ließ die meisten Konturen in psychedelischen Lichteffekten verschwimmen. Auch das Gras, das aus einem Baumstumpf wuchs und die dicken Zigarren der Rohrkolben - alles so deutlich wie Scherenschnitte."
Regenroman. Eichborn, Frankfurt am Main 1999.
Moorleichen
In der Literatur regen Moore die düster-rätselhafte Seite der Fantasie an. Aber auch im richtigen Leben geben Moore zuweilen Rätsel auf: Im Internet ist eine umfängliche "Liste von Moorleichen" einzusehen. Sie heißen "Roter Franz", "Himbeermädchen" oder schlicht "Moora", das Mädchen aus dem Moor. Im "Großen Moor" bei Uchte im niedersächsischen Landkreis Nienburg regiert der industrielle Torfabbau! Lange Kanäle furchen das platte Land, dazwischen sind maschinell gestochene Torfsoden, die in schier endlosen Reihen in Sonne und Wind trocknen.
Es ist ungewöhnlich hier eine von Hand gestochene Kuhle zu finden. Aber hier gibt es sie: groß wie ein Swimmingpool, ihre braunen, saftig-nass glänzenden Wände fallen senkrecht ab. Genau hier haben Moorarbeiter 2011?? einen sensationellen Fund gemacht. Ein Skelett mit einem Schädel, in dem das Gehirn noch unversehrt war. Nach erfolglosen Erklärungsversuchen, stellte sich heraus, dass das Skelett zu einer weiblichen Person aus der vorrömischen Eisenzeit gehört. Sie muss etwa 2660 Jahre alt sein, sah aber genauso aus wie andere Leichen, die nur 60 Jahre im Moor gewesen sind. Die Abbau- und Umwandlungsprozesse, die an dem Körper im Moor stattfinden, gehen relativ schnell vonstatten, um dann bestimmte Dinge über ganz lange Zeiträume zu erhalten.
Das Moor in der Kunst
Das Moor hat Landschaftsbummler und Schriftstellerinnen, Fotografen und Journalisten sowie andere Neugierige oft abgestoßen, weil es öde, rau und unheimlich war. Und es hat sie zugleich angezogen, weil man sich an ihm reiben konnte. Weil es das "Andere" war. Das Wilde. Das Uneindeutige. Das Unvorhersehbare. Denn das Moor ist ein Zwitter zwischen Erde und Wasser, zwischen fest und flüssig, geschlagen mit rauer Schönheit für den, der sie zu erkennen vermag. Berühmt geworden sind die Beschreibungen von Rainer Maria Rilke:
"Woran unsere Väter in geschlossenem Reisewagen, ungeduldig und von Langeweile geprägt, vorüberfuhren, das brauchen wir. Wo sie den Mund auftaten, um zu gähnen, da tun wir die Augen auf, um zu schauen, denn wir leben im Zeichen der Ebene und des Himmels. Das sind zwei Worte, aber sie umfassen eigentlich ein einzige Erlebnis: die Ebene. Die Ebene ist das Gefühl, in dem wir wachsen."
Im Jahre 1903 hebt der Dichter Rainer Maria Rilke, der nach 1898 mehrfach das Künstlerdorf Worpswede besucht hat, die Moore in das Bewusstsein der Zeitgenossen. Der hohe, "festlich" gestimmte Ton der Rilkeschen Darlegungen verkündet einen Paradigmenwechsel: Schaut her, das Moor ist für uns Heutige nicht mehr farblos und öde. Es ist nicht mehr schauerlich, sondern großartig. Und es ist der ideale Gegenstand für die Malerei. Rilke "entdeckt" und erobert für seine Leser das platte Land. Er feiert die "Ebene" als das jüngste Motiv der Landschaftsmalerei. Realistische Maler des neunzehnten Jahrhunderts hatten dramatische Landschaften, sprudelnde Quellen, schroffe Felsschluchten, tödliche Seestücke gemalt. Die impressionistische Malerei stößt geradezu zwingend auf die Moore. Sagt Rilke. Und wieso schauen wir ausgerechnet auf ihn? Der Bremer Kunsthistoriker und Kurator Andreas Kreul erklärt.
"Er hat dazu beigetragen, dass es einen gewissen Mythos um Worpswede gibt. Er hat zu einer gewissen Verklärung beigetragen. Er hat sicherlich dazu beigetragen, dass man ernsthaft sich ernsthaft mit diesen Worpsweder Malern auseinandersetzt. Auf Haaresbreite ist mal etwas gesetzt worden, da er ein großartiger Dichter war, auch sprachlich so ansprechend, dass sich ein intellektuelles Publikum, breites Publikum dafür interessieren konnte, aber ich wage zu bezweifeln, dass dies von inhaltlichen Sachen kommt. Aber Rilke hat das so griffig formuliert, dass wir das alles heute noch benutzen. Und dafür gilt ihm Dank!"
Zum hundertsten Jahrestag des Erscheinens von Rilkes Worpswede-Buch hat Andreas Kreul eine große Ausstellung in der Bremer Kunsthalle kuratiert. Tatsächlich sei Worpswede für Rilke zunächst ein regelrechter Schock gewesen.
"Mit der industriellen Revolution gibt es eigentlich kaum noch etwas, wo ich das als "unverdorbene Landschaft" wahrnehmen kann. Diese Form von neuer Landschaftsmalerei hat eigentlich mit der klassischen Vorstellung von Landschaftsmalerei nichts zu tun und genau daran, denke ich, ist Rilke gescheitert.
Denn er hatte als klassisches Erbe diese ganzen alten Vorstellungen von Landschaftsmalerei mit aufgenommen und dachte da jetzt eine neue Erfahrung zu machen. Und was er eigentlich gemacht hat, ist die Desillusionierung, dass es eine solche Landschaftsmalerei nicht mehr gibt. Aber er hat sie versucht zu retten. Er hat versucht zu retten, was gibt´s da noch, wie kann ich das Phänomen beschreiben?"
Denn die Moore eigneten sich durchaus als Inspirationsquelle bisher ungesehener Farben. Die Maler ziehen aus ihnen eine ungeheure, vielfältige, freilich verhaltene Farbigkeit, gerade auch bei den dunklen erdigen "torfigen" Tönen. Einer der ersten, der die Moore um Worpswede für sich entdeckte, war Fritz Overbeck aus Bremen. 1895 schrieb er:
"Bis an den Horizont, wo die blauen Hügel der Geest ansteigen, dehnt sich weithin das Moor, schnurgerade durchschnitten von Kanälen und Fahrdämmen, die wiederum rechtwinklig von anderen gekreuzt werden. In gleichen Abständen am Wege stehen bleiche Birken, deren Stämme, den herrschenden Nordostwinden nachgebend, schräg ansteigen.
Darüber spannt sich der Himmel aus, der Worpsweder Himmel, den zu schildern die Feder verzweifeln muss, denn ein allzu armseliger Behelf würden meine Worte sein, um höchste Schönheit würdig auszudrücken. Was hülfen uns unsere Strohhütten, Birkenwege und Moorkanäle, wenn wir diesen Himmel nicht hätten, welcher alles, selbst das Unbedeutendste adelt, ihm seinen unsagbar koloristischen Reiz verleiht, der Worpswede schließlich erst zu dem macht, was es ist."
Auch die Malerin Paula Modersohn-Becker schwärmt:
"Birken, Birken, Kiefern und alte Weiden. Schönes braunes Moor, köstliches Braun! Die Kanäle mit den schwarzen Spiegelungen, asphaltschwarz. Die Hamme mit ihren dunklen Segeln, es ist ein Wunderland, ein Götterland. Ich habe Mitleid mit diesem schönen Stück Erde, seine Bewohner wissen nicht, wie schön es ist. (...) Ja, wenn das Malen nicht wäre?!"
Wohl niemand hat die Verwandlung der Moore in ein subjektives, nährendes "Götterland" für die Künstler gefühlvoller gefeiert als Paula Modersohn-Becker, die junge Malerin aus Worpswede. Als sie 1897 dort eintrifft, sind die Gründer der Malerkolonie schon eine Zeitlang da: Fritz Mackensen, Fritz Overbeck, Otto Modersohn, Hans am Ende und Heinrich Vogeler. Unter Paula Modersohn-Beckers schwärmerischem Blick wird die moortypische Flora, werden die Bäume vermenschlicht und zu Mitgliedern ihrer Familie:
"Worpswede, Worpswede, du liegst mir immer im Sinn. Das war Stimmung bis in die kleinste Fingerspitze. Deine mächtigen großen Kiefern! Meine Männer nenne ich sie, breit, knorrig und wuchtig und groß, und doch mit den feinen Fühlfäden und Nerven drin. So denke ich mir eine Idealkünstlergestalt. Und Deine Birken, die zarten schlanken Jungfrauen, die das Auge erfreuen. Mit jener schlappen träumerischen Grazie, als ob ihnen das Leben noch nicht aufgegangen sei. Sie sind so einschmeichelnd, man muß sich ihnen hingeben, man kann nicht widerstehen.
Einige sind auch schon ganz männlich kühn, mit starkem, geradem Stamm - das sind meine 'modernen Frauen'. Und ihr Weiden, ihr alten knorrigen Stämme, mit den silbrigen Blättern. Ihr rauscht so geheimnisvoll und erzählt von vergangener Zeit. Ihr seid meine alten Männer mit den silbrigen Bärten; ja, ich habe Gesellschaft genug, meine ganz eigene Gesellschaft, wir verstehen uns gegenseitig sehr gut und nicken uns oft liebe Antwort zu. Leben! Leben! Leben!"
Künstler aus Worpswede und das NS-Regime
Die Worpsweder Klassiker malen, was sie sehen. Aber schaffen sie nicht Ikonen von ursprünglichem Landleben? Bauerntum? Eine dem Untergang geweihte ländliche Idylle? Ein Beispiel: Fritz Mackensen, ein Gründervater der Malerkolonie. Schwarzgekleidete Gestalten bestimmen die Szene. Der Pastor, gewandet in einen schwarzem Talar mit weißen Bäffchen, versammelt seine Gemeinde unter einer Moorbirke um sich. Eltern beklagen den Tod ihres Kindes. Die junge Bäuerin in weitem dunklen Rock und roter Bluse.
Sie hat ihre schwere Arbeit in der Torfkuhle nur kurz unterbrochen, sitzt auf der Schiebkarre und stillt ihren Säugling. Moorleben? Pure Wirklichkeit? Für dieses Gemälde von Fritz Mackensen sind verschiedene Titel überliefert. "Der Säugling" . Oder: "Madonna im Moor". Mackensens Bild gilt als Moor-Ikone. Der Doyen der Moormaler stellt die junge Mutter 1892 ins große Format: 180 mal 240 Zentimeter. Mehr als 40 Jahre später wird das Gemälde von NS-Kuratoren für die "Große Deutsche Kunstschau" in München ausgesucht. Solche Kunst gefiel der Partei.
Das Ende des Moors und die Fotografie
In schätzungsweise zehn Jahren wird es in Deutschland mit dem Torfbau vorbei sein. Die noch abbaubaren Flächen sind dann erschöpft und schon seit einiger Zeit gilt: Wer Torf abbaut, muss die rasierten Flächen wieder renaturieren - das heißt: mit Erde auffüllen und wiedervernässen. Wer die oft versteckt liegenden Rest-Abbauflächen besuchen oder gar mit Pinsel oder Kamera festhalten will, muss sich sputen. Wie der Fotograf Jost Wischnewski aus Worpswede. Zunächst war er ohne professionelle Hintergedanken einfach nur immer wieder durch die Moore spaziert.
"Im Laufe der Zeit hat sich dann das so entwickelt, dass ich immer auch wieder fotografiert habe. Erstmal nur für das private Familienalbum sozusagen. Später dann aber auch hab ich so´n bisschen Blut geleckt und hab mal überlegt, was man da machen kann. Das Interessante ist für mich, dass es sich hierbei um eine Riesen-Baustelle handelt, die ja im Grunde genommen gar nicht so wahrgenommen wird.
Aber wenn man so in die tieferen Schichten geht, man merkt: Da ist ein alter Betriebshof, der funktioniert noch. Man hat das Gefühl, das ist noch aus den 50er-Jahren oder 40er-Jahren. Es sind da alte Dieselloks unterwegs, immer noch, nach wie vor, die alten Loren. Und das war für mich interessant, nochmal dem Ganzen sozusagen fotografisch auf den Grund zu gehen."
Jost Wischnewski wollte wissen, wie sich das Moor im Tages- und Jahresverlauf ändert. Und was die Eingriffe des Menschen mit dieser Landschaft gemacht haben. Wie aus dem Moor eine "Riesen-Baustelle" wurde.
"Ich bin halt über zehn Jahre in diesen Gebieten unterwegs gewesen. Ich bin zu allen Jahreszeiten dort gewesen. Ich bin zu allen Tageszeiten dort gewesen. Und auch in allen Wetterlagen. Das heißt also, ich hab diese Landschaft rundum kennen gelernt und hab viele Motive mehrmals fotografiert, in verschiedenen Stimmungen. Und dann eben auch geguckt: Was gibt diese Stimmung wieder? Oder wo nähert man sich am meisten an? Ich hab dann natürlich immer auch den Menschen im Hintergrund im Kopf, der auch dort gelebt hat vor hundert Jahren, der in diesen Gebieten gelebt hat in diesen Landschaften gearbeitet hat und wollte sozusagen dieses nachempfinden, ja."
Die Leiterin des Bremer Overbeck Museums ließ sich von Jost Wischnewskis Arbeiten anregen und stellte jeweils eines seiner Fotos einem Gemälde des Worpsweder "Klassikers" Fritz Overbeck - Jahrgang 1869 - gegenüber. So fanden zwei ganz verschiedene Moorenthusiasten im Dialog zueinander.
Das Moor zu durchstreifen heißt: Langsamkeit ertragen. Unwegsamkeit hinnehmen. Unwirtlichkeit billigen. Geduldig warten, bis der Nebel sich lichtet. Manche können das, andere nicht. Bloß einen Millimeter wachsen die Torfmoose im Jahr in die Höhe. Das Zeitlupentempo, mit dem es sich verändert - wenn man es in Ruhe lässt! - heißt nicht, dass es tot ist. Jost Wischnewski:
"Das Moor lebt ja auch. Also wenn im Frühling die Frösche und die Libellen in diesen kleinen Tümpelchen sich ansiedeln - ja, das ist natürlich ein fantastisches Ereignis! Und es ist auch sehr laut, weil, da ist dann endlich mal Leben, was spürbar ist. Dort gibt es diese zweitausend Jahre alten Wurzelstümpfe, die wirklich sehr eindrucksvoll in der Landschaft stehen. Wie kleine Dinosaurier. Das ist eine Landschaft, die sehr ursprünglich ist. Und das sind so unsere Lieblingsplätze. Da gehen wir oft hin oder ich gehe da auch oft alleine hin. Und da fühle ich mich geborgen und wohl und das ist ein spannender Augenblick, dort zu sein."
Umweltsünden im Moor
Jost Wischnewski kann grenzenlos und frei durch seine Moore wandern. Die meisten sind zugänglich für alle. Aber es gibt Einschränkungen: Die sogenannte "Tinner Dose" im Emsland ist Bundeswehrgelände. Dort befindet sich die "Wehrtechnische Dienststelle für Waffen und Munition", kurz: "WTD 91". Es ist der größte Schieß- und Erprobungsplatz Mitteleuropas. In dem entwässerten Moorgelände feuerte am 3. September 2018 ein Kampfhubschrauber Raketen ab.
Gleich an sechs Stellen fing es an zu brennen, über fünf Wochen. Zwölf Quadratkilometer Moor wurden vernichtet. Mit ihm starben bedrohte Vogelarten, seltene Schmetterlinge, Heuschrecken und Libellen. Der Landkreis erklärte den Katastrophenfall. Bis zu 1.600 Männer und Frauen von Bundes- und Feuerwehr sowie dem Technischen Hilfswerk waren im Einsatz. Das Moor ist empfindlich. Wenn es entwässert wurde, können Brände schnell entstehen und sich noch schneller ausbreiten. Das um so mehr, wenn es wochenlang nicht geregnet hat wie im Sommer 2018.
Der Brand frisst sich auch nach unten, in den schwach zersetzten Niedermoortorf, durch. In den Hohlräumen findet er genug Sauerstoff, um weiterzuschwelen. Flammen sind unsichtbar, nur dicke ätzende Rauchschwaden steigen in die Atmosphäre. 500.000 Tonnen Kohlendioxid wurden in der "Tinner Dose" in die Umwelt freigesetzt. Wenn das Feuer schließlich ausgeht, sind große Teile des Moors zerstört.
Der Beitrag ist eine Wiederholung vom 23. Februar 2019.
Lange Nacht über das Moor - Skript/PFD
Lange Nacht über das Moor das Skript zur Sendung - txt