Eine Lange Nacht über das Sonett

"du hast als denkmal dann mein zart gedicht"

Ein aufgeschlagener Band mit einem Gedicht auf einem Tisch. Dazu eine Tasse Kaffee mit schöner Crema.
Kaffee zur Lyrik, das ist nicht schwierig: Einen Reim verlangt das Sonett gleich mehrfach. © Thought Catalog/Unsplash
Von Martin Erdmann |
Schon Shakespeare arbeitete sich am Sonnett ab, jener Gedichtgattung, die im 13. Jahrhundert entstand. Doch dank Dichter wie Baudelaire, Rimbaud, Rilke oder Heiner Müller reicht seine Geschichte bis in unsere Gegenwart. Eine Spurensuche
Es wanderte in alle Literatursprachen Europas bis nach Georgien und China. Manchmal geriet es in Mode und erregte den Unmut zum Beispiel Goethes, dessen berühmte Zeile "In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister" allerdings nicht nur selbst aus einem Sonett stammt, sondern auch einen wesentlichen Zug dieser Gattung zusammenfasst: die Beschränkung auf 14 Zeilen in einer vorgegebenen Anordnung.
Dabei hat das Sonett inhaltlich eine große Vielfalt erreicht: War es bei Francesco Petrarca noch vorwiegend Liebeslyrik, so kommt bei William Shakespeare die Reflexion über das eigene Schreiben hinzu. Charles Baudelaire erkundet im Sonett die Blumen des Bösen und des Häßlichen. Rainer Maria Rilke benutzt das Sonett für Beobachtungen an Alltagsgegenständen.
Dies sind nur ein paar Stationen auf einer kleinen Reise durch die Geschichte des Sonetts, von seinem ersten bedeutenden Repräsentanten Petrarca bis in die unmittelbare Gegenwart über zwei Kontinente hinweg in sieben verschiedenen Sprachen. Das Wort Sonett kommt vom italienischen ,sonare' (klingen), und es bot in allen Sprachen seinen Dichtern immer wieder eine Möglichkeit auszuprobieren, wie die eigene Sprache klingt.

Was ist ein Sonett?

Diese Frage kann man entweder in ein paar Sätzen zusammenfassen oder man kann lange Abhandlungen darüber schreiben. Denn im Laufe der Jahrhunderte haben sich zahllose Typen von Sonetten ergeben, die teils auf den Besonderheiten der einzelnen Sprachen basieren, teils Erfindungen einzelner Dichter waren, die zusätzliche Regeln anwandten. Kurz gesagt, gibt es für das Sonett drei Grundregeln:
Erstens hat ein Sonett vierzehn Zeilen. Diese vierzehn Zeilen werden auf eine bestimmte Art eingeteilt, nämlich in vier Strophen, von denen die ersten beiden je vier Zeilen haben — deshalb nennt man sie auch Quartette —, während die letzten beiden Strophen je drei Zeilen umfassen — das sind die Terzette.
Die zweite Regel betrifft die Reime. Im ersten Quartett müssen sich je zwei Zeilen reimen, und im zweiten Quartett müssen dieselben Reime aus dem ersten an derselben Stelle wiederkehren. Wenn das Reimschema in der ersten Strophe zum Beispiel a-b-b-a lautet, muß die zweite Strophe auch a-b-b-a reimen. In den sechs verbleibenden Zeilen verwendet man drei andere Reime, für die aber keine bestimmte Anordnung vorgeschrieben ist.
Drittens sollen alle Zeilen gleich lang sein beziehungsweise dasselbe Versmaß haben. Diese Regel wird in den verschiedenen Sprachen unterschiedlich gehandhabt, denn in manchen Sprachen ist traditionellerweise die genaue Anzahl der Silben in einer Zeile wichtiger als ein genau eingehaltenes Versmaß, in anderen Sprachen ist es umgekehrt.
Die Tatsache, daß die ersten beiden Strophen eines Sonetts vier Zeilen haben, die letzten beiden Strophen aber drei, bewirkt eine gewisse Dynamik im Formverlauf, die bereits sehr früh in der Geschichte des Sonetts dazu geführt hat, daß zwischen der zweiten und der dritten Strophe eine inhaltliche Zäsur gesetzt wird.

Francesco Petrarca (1304 – 1374)

Auf der Zeichnung ist Francesco Petrarca zu sehen, der eine Krone aus Blättern um die Stirn gebunden trägt
Der Humanist, Philologe und Dichter Francesco Petrarca© Belga
Petrarca wurde 1304 im mittelitalienischen Arezzo geboren und war mithin gleich alt wie Giovanni Boccaccio und etwa fünfzig Jahre jünger als Dante. Alle drei sind gewissermaßen die Säulenheiligen, die "tre corone", die "drei Kronen" der italienischen Literatur. Denn alle drei standen ziemlich am Anfang der Literatur in italienischer Sprache und schufen, jeder auf seinem Gebiet, eine Sprache, die so reichhaltig und nuanciert war, daß das Italienische fortan als 'richtige‘ Literatursprache galt, die neben dem Latein bestehen konnte: Neben Dantes Verserzählung Comedia, der von Boccaccio der Beiname Divina gegeben wurde, also neben der "Göttlichen Komödie" stehen der Novellenzyklus ´Decamerone`- "Das Dekameron" von Boccaccio und eben die 366 Gedichte von Petrarcas Canzoniere, der "Liedersammlung" oder "Gedichtsammlung".
Petrarca schrieb daran fast sein ganzes Leben lang und überarbeitete den Canzoniere mehrere Male; gedruckt wurde dieser übrigens erst ein knappes Jahrhundert nach seinem Tode, nämlich 1470. Der überwiegende Teil von Petrarcas literarischer Produktion ist in lateinischer Sprache verfaßt, und er selbst gab dem erst im 19. Jahrhundert so genannten Canzoniere auch einen lateinischen Titel: Rerum vulgarium fragmenta, "Bruchstücke von gewöhnlichen Dingen", wobei "gewöhnliche Dinge‘ hier als 'gemeinsprachliche Dinge‘ zu verstehen sind, als Dinge, die in der Volkssprache aufgezeichnet sind, also in der italienischen Sprache, die man damals ’volgare‘ nannte.
Das große (wenn auch nicht das einzige) Thema des Canzoniere ist die Liebe, genauer gesagt, jene unerfüllte Liebe eines Mannes zu einer Frau, die wir aus der provenzalischen Lyrik der spätmittelalterlichen Trobadors kennen, an die Petrarca ebenso anknüpft, wie es vor ihm schon die deutschen Minnesänger taten.
Mentre che ‘l cor dagli amorosi vermi
fu consumato, e ‘n fiamma amorosa arse,
di vaga fera le vestigia sparse
cercai per poggi solitarii et hermi;
et ebbi ardir cantando di dolermi
d’Amor, di lei che sí dura m’apparse:
ma l’ingegno et le rime erano scarse
in quella etate ai pensier’ novi e ‘nfermi.
Quel foco è morto, e ‘l copre un picciol marmo:
che se col tempo fossi ito avanzando
(come già in altri) infino a la vecchiezza,
di rime armato, ond’oggi mi disarmo,
con stil canuto avrei fatto parlando
romper le pietre, et pianger di dolcezza.
Geraldine Gabor und Ernst-Jürgen Dreyer haben in ihrer Gesamtübersetzung des Canzoniere, die 1989 erschien, versucht, Versmaß und Reimstruktur des Originals soweit wie möglich beizubehalten:
Solang die Flamme brannte und das Nagen
Der Liebeswürmer mir das Herz verzehrte
sucht ich ein holdes Wild auf karger Fährte
Auf einsam öden Höhen zu erjagen
Und war so kühn, mich singend zu beklagen
Amors und jener, die mich nicht erhörte;
Doch war Talent und Reim von mindem Werte
Und jung und krank der Sinn in jenen Tagen.
Der Brand ist tot; es deckt ihn Marmor-Schwere
Hätt, wie in andern, bis zum Abendscheine
Er wachsen dürfen und sich fort-entfachen –
Mit Reim bewaffnet, den ich heut entbehre
Ergrauten Stils dann redend hätt ich Steine
Zerspringen und vor Süße weinen machen.
Für das Verständnis der Sonette gilt noch mehr als für jede Lyrik: Man sollte sie laut lesen. Oft merkt die Leserin und der Leser dann, dass die Klänge und der Rhythmus tragen und zum Verständnis des Gedichtes führen. Da dies bei diesem Thema der Langen Nacht ein entscheidender Nachteil gegenüber der Hörversion ist, sind hier nur einzelne Sonette abgebildet.

William Shakespeare (1564 – 1616)

Das Denkmal von William Shakespeare, aufgenommen im Park an der Ilm in Weimar (Thüringen). 
Auch 450 Jahre nach Shakespeares Geburt sind seine Sonette zu hören.© picture alliance / dpa
Neben Petrarca´s Sonetten gehören sicher die Sonette von Shakespeare noch zu den bekanntesten und in ihrer Wirkungsgeschichte zu den einflußreichsten. Es sind 154 Sonette, die 1609 im Druck erschienen, zu einem Zeitpunkt, da Shakespeare nach über 25 Jahren als Schauspieler, Stückeschreiber und Intendant in London bereits ein kleines Vermögen gemacht hatte und sich allmählich in seinem Geburtsort Stratford-upon-Avon in der Nähe von Birmingham zur Ruhe setzte. Das Sonett war um die Mitte des 16. Jahrhunderts in England bekannt geworden und führte in kürzester Zeit zu einer wahren Flut von Sonettsammlungen, von denen diejenige Shakespeares die umfangreichste darstellt. Sie ist bis heute die bekannteste des Elisabethanischen Zeitalters geblieben, und so wird auch häufig die eigentümliche englische Variante des Sonetts mit Shakespeare assoziiert, obgleich er sie nicht erfunden hat. Das englische Sonett, das auch nach Nordamerika auswanderte und noch bei Edgar Allan Poe und sogar einem so experimentierfreudigen Dichter des 20. Jahrhunderts wie Edward Estlin Cummings zu finden ist, hat zwar auch 14 Zeilen, aber es ist anders gegliedert als das italienische. Es hat drei Quartette und einen Zweizeiler am Schluß. Die Quartette haben jeweils zwei Reimpaare wie im italienischen Sonett, aber anders als dort sind die Reimpaare in jedem Quartett verschieden. Es wird also vom Dichter nicht erwartet, daß er drei vierzeilige Strophen lang seine einmal gewählten Reime durchhält, dafür aber müssen sich die beiden Schlußverse reimen, und diese Regel hat nun dazu geführt, daß diese Schlußverse wie ein Epigramm eine besondere Konzentration der Aussage erfordern, gleichsam eine Schlußpointe, die bei Shakespeare oft mit machtvoller Eleganz daherkommt.
That time of year thou mayst in me behold
When yellow leaves, or none, or few, do hang
Upon those boughs which shake against the cold,
Bare ruin’d choirs where late ihe sweet birds sang.
In me thou see’st the twilight of such day
As after sunset fadeth in ihe west,
Which by and by black night doth take away,
Death’s second self, that seals up all in rest.
In me thou see'st the glowing of such fire
That on the ashes of his youth doth lie,
As the death-bed whereon it must expire,
Consum’d with that which it was nourish’d by:
This thou perceiv’st which makes thy love more strong,
To love that well which thou must leave ere long.
Das Sonett Nummer 73 in der deutschen Fassung von Stefan George:
Die zeit des jahres magst du in mir sehn
Wo gelbe blätter - keine - wenige hangen
Auf diesen ästen die im wind sich drehn -
Chor-trümmer kahl wo einst die vögel sangen.
In mir siehst du zwielicht von solchem tag
Der nach der sonne weggang bleicht im west -
Das schwarze nacht gar bald entführen mag.
Zwilling des tods umhüllt sie alles fest.
In mir siehst du das brennen solcher glut
Die auf den aschen ihrer jugend schwebt
Wie auf dem totenbett wo sie bald ruht —
Durch das verzehrt wovon sie einst gelebt.
Dein lieben wächst - wirst du dir dess bewusst -
Und du liebst wohl das du bald lassen musst.

Andreas Gryphius (1616 – 1664), Paul Fleming (1609 – 1640)

Zu Shakespeares Lebzeiten war das Sonett bereits ins Französische und Spanische gekommen, und Namen wie Pierre de Ronsard oder Lope de Vega seien hier als gewichtige Vertreter der Gattung in ihren Sprachen wenigstens erwähnt. Und noch ein kurzer Blick auf die deutsche Barockliteratur mit zweien der bis heute bekanntesten Sonette aus jener Zeit; von zwei Dichtern, die beide umfangreiche Sonettsammlungen veröffentlicht haben: Andreas Gryphius und Paul Fleming.
Andreas Gryphius' Gedicht "Es ist alles eitell":
DU sihst / wohin du sihst nur eitelkeit auff erden.
Wasdieser heute bawt/ reist jener morgen ein:
Wo itzund städte stehn / wird eine wiesen sein
Auff der ein schäffers kind wird spilen mitt den heerden.
Was itzund prächtig blüht sol bald zertretten werden.
Was itzt so pocht vndt trotzt ist morgen asch vnd bein.
Nichts ist das ewig sey / kein ertz kein marmorstein.
Itz lacht das gluck vns an / bald donnern die beschwerden.
Der hohen thaten ruhm mus wie ein traum vergehn.
Soll den das spiell der zeitt / der leichte mensch bestehn.
Ach! Was ist alles dis was wir für köstlich achten/
Als schlechte nichtikeitt / als schaten staub vnd windt.
Als eine wiesen bium / die man nicht wiederfindt.
Noch wil was ewig ist kein einig mensch betrachten.
Paul Flemings Sonnett "An Sich":
Sey dennoch unverzagt. Gieb dennoch unverlohren.
Weich keinem Glücke nicht. Steh’ höher als der Neid.
Vergnüge dich an dir / und acht es für kein Leid /
hat sich gleich wieder dich Glück’ / Ort / und Zeit verschworen.
Was dich betrübt und labt / halt alles für erkohren.
Nim dein Verhängnüß an. Laß’ alles unbereut.
Thu / was gethan muß seyn / und eh man dirs gebeut.
Was du noch hoffen kannst/ das wird noch stets gebohren.
Was klagt / was lobt man doch? Sein Unglück und sein Glücke
ist ihm ein ieder selbst. Schau alle Sachen an.
Diß alles ist in dir / laß deinen eitlen Wahn /
und eh du förder gehst / so geh’ in dich zu rücke.
Wer sein selbst Meister ist / und sich beherrschen kann/
dem ist die weite Welt und alles unterthan.

Charles Baudelaire (1821 – 1867)

In der Zeichnung stützt Charles Baudelaire seinen Kopf auf die linke Hand und schaut den Betrachter an
Bereitete den Weg für die literarische Moderne in Europa: Charles Baudelaire© Bifab
Mit Charles Baudelaire kamen ein neuer Tonfall und neue Themen ins Sonett. Fast alle Gedichte, die er geschrieben hat, sind in der Sammlung "Les fleurs du mal" enthalten: Der Titel wird meist mit "Die Blumen des Bösen" übersetzt, man könnte auch "Die Blumen des Schlechten" oder "Die Blumen des Übels" sagen. Mit diesem Buch wurde er berühmt, für die einen als Erneuerer der französischen Dichtung, später als (Mit)begründer der literarischen Moderne, für die anderen war Baudelaire – in seiner Zeit – ein Provokateur, der die Grenzen des guten Geschmacks verletzte. Nur drei Wochen nach Erscheinen der Fleurs du mal 1857 wurde das Buch verboten. Baudelaire hatte als erster gezeigt, dass es möglich war, in der Lyrik nicht nur das Schöne, Wahre, Gute, sondern auch das Hässliche und das Böse dazustellen – und zwar nicht etwa als etwas Verabscheuungswürdiges oder etwas, das Leiden oder Trauer auslöst. Es gibt in den "Blumen des Bösen" mehrmals Anrufungen und Lobpreisungen des Teufels, Baudelaire preist den Rausch im Alkohol und im Opium, und auch die Darstellungen einiger Liebesnächte waren für die damalige Zeit entschieden zu freizügig.
Baudelaires Sonnett "La mort des amants":
Nous aurons des lits pleins d'odeurs légères,
Des divans profonds comme des tombeaux,
Et d'étranges fleurs sur des étagères,
Ecloses pour nous sous des cieux plus beaux.
Usant à l'envi leurs chaleurs dernières,
Nos deux coeurs seront deux vastes flambeaux,
Qui réfléchiront leurs doubles lumières
Dans nos deux esprits, ces miroirs jumeaux.
Un soir fait de rose et de bleu mystique,
Nous échangerons un éclair unique,
Comme un long sanglot, tout chargé d'adieux;
Et plus tard un Ange, entr'ouvrant les portes,
Viendra ranimer, fidèle et joyeux,
Les miroirs ternis et les flammes mortes.
In der deutschen Fassung trägt das Stück den Titel "Der Tod der Liebenden":
Wir haben betten voller leichter düfte ·
Wir haben polster wie die gräber tief
Und seltne blumen ragen in die lüfte
Die schönres land für uns ins dasein rief.
Die lezte glut verbrennt auf gutes glück
In unsrer herzen beiden flammentiegeln
Ihr zwiefach leuchten aber strahlt zurück
In unsren geistern · diesen zwillingsspiegeln.
Ein abend kommt mit blau und rosa blinken ·
Da flackert es noch einmal lichterloh:
Ein langer seufzer und ein scheidewinken.
Hernach erscheint ein engel auf der schwelle
Um wieder zu beleben treu und froh
Die trüben spiegel und die tote helle.

Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)

Rainer Maria Rilke schaut nachdenklich zu Boden
Lies selbst auf seinen Grabstein ein Gedicht meißeln: Rainer Maria Rilke© United Archives/imago
Wiederum neue Themen fügte Rainer Maria Rilke den Sonetten hinzu, Alltagssprache und alltägliche Dinge werden fast wie in einem Stilleben verwendet – unter anderem in seinem Gedicht "Blaue Hortensie":
So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.
Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;
Verwaschenes wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragenes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.
Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
in einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.

Heiner Müller (1929 – 1995)

Heiner Müller trägt eine Brille mit rot-getönten Gläsern, er schaut missmutig in die Kamera
Viele seiner Werke wurden in DDR verboten, wo er lebte: Heiner Müller© Zentralbild
Wie viele Gedichtgattungen ist auch das Sonett im 20. Jahrhundert von der Vorherrschaft der freien Verse extrem zurückgedrängt worden. Viele Dichter, die sich als modern oder avantgardistisch empfanden, verschmähten den Reim als ein veraltetes Mittel der Formbildung oder konnten sich bestensfalls noch zu einem ironischen Umgang mit ihm verstehen (wobei man nicht vergessen darf, dass solche Grabenkämpfe, wie sie auch in anderen Künsten üblich waren, also Reim gegen Nicht-Reim, figürliche Malerei gegen abstrakte, tonale Musik gegen atonale, auch ideologisch motiviert waren: Ungereimte Gedichte in freien Versen, abstrakte Malerei, atonale Musik galten im nationalsozialistischen Deutschland und ideologisch verwandten Diktaturen als "entartet". Wie jeder weiß, hatte dies leider nicht zur Folge, dass solche Kunst im Sozialismus grundsätzlich besser aufgehoben gewesen wäre.) Der DDR-eigene Konservativismus und Klassizismus, der die rege Sonettproduktion etwa von Johannes R. Becher und Stephan Hermlin umhüllte, prägte auch Heiner Müller. In seinen Gedichten finden wir ebenso wie in seinen Theaterstücken die formzertrümmernde Sprache neben der virtuosen Beherrschung des fünfhebigen Jambus, sei es als (ungereimter) Blankvers, sei es gereimt wie im folgenden Sonett, das am 9. Januar 1995 der der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien, "Traumwald":
Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum
Er war voll Grauen Nach dem Alphabet
Mit leeren Augen die kein Blick versteht
Standen die Tiere zwischen Baum und Baum
Vom Frost in Stein gehaun Aus dem Spalier
Der Fichten mir entgegen durch den Schnee
Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh
Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier
Im Arm die Lanze Deren Spitze blinkt
Im Fichtendunkel das die Sonne trinkt
Die letzte Tagesspur ein goldener Strich
Hinter dem Traumwald der zum Sterben winkt
Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich
Sah mein Gesicht mich an: das Kind war ich.
Und zum Schluss ein Sonett mit dem Titel "Das Sonett" von Johannes R. Becher aus dem Jahr 1947:
Wenn einer Dichtung droht Zusammenbruch
und sich die Bilder nicht mehr ordnen lassen,
wenn immer wieder fehlschlägt der Versuch,
sich selbst in eine feste Form zu fassen,
Wenn vor dem Übermaße des Geschauten
der Blick sich ins Unendliche verliert,
und wenn in Schreien und in Sterbenslauten
die Welt sich wandelt und sich umgebiert –
wenn Form nur ist: damit sie sich zersprenge
und Ungestalt wird, wenn die Totenwacht
die Dichtung hält am eigenen Totenbett –
alsdann erscheint, in seiner schweren Strenge
und wie das Sinnbild einer Ordnungsmacht,
als Rettung vor dem Chaos – das Sonett.

Die "Lange Nacht über das Sonnett" ist eine Wiederholung. Sie wurde erstmals in der Nacht vom 3. auf den 4. Juni 2006 ausgestrahlt.

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