Eine Lange Nacht über das Verhältnis von Franzosen und Deutschen

Ziemlich beste Freunde

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) begrüßt im April 2019 Emmanuel Macron, Staatspräsident von Frankreich, zur Balkan-Konferenz in Berlin.
Ziemlich beste Freunde? Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident Macron. © picture alliance/dpa/Michael Kappeler
Von Sabine Oelze und Susanne Luerweg |
Bis vor Kurzem war Frankreich im Gelbwesten-Ausnahmezustand. Auf der Suche nach Antworten für die gesellschaftlichen Umbrüche blicken wir mit Neugier ins Nachbarland. Denn das Verhältnis hat Risse bekommen, doch bleibt noch immer produktiv.
Zur Zeit der Französischen Revolution und im 20. Jahrhunder haben Dichter und Denker, Theaterregisseure und Filmemacher auf das politisch-gesellschaftliche Geschehen ihres Landes Einfluss genommen. Heute, im 21. Jahrhundert, befindet sich Frankreich im Ausnahmezustand – die Gelbwesten demonstrieren auf den Straßen, Präsident Emmanuel Macron verliert an Vertrauen, die Rechten gewinnen bei der Europa-Wahl die meisten Stimmen, die Krise durchzieht viele Gesellschaftsschichten.
Der Blick auf die Literaturszene Frankreichs durchleuchtet die literarische Reaktion auf die aktuelle Destabilisierung. Der Romanist Markus Messling untersucht in seiner "Universalität nach dem Universalismus" das Werk von französischen Autoren der Gegenwart mit ihrem neuen Hang zum Realismus.

Markus Messling: "Universalität nach dem Universalismus. Über frankophone Literaturen der Gegenwart", Matthes&Seitz, Berlin 2019, 222 Seiten

In den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts hat die literarische Szene in Frankreich sich durch die Rückkehr des realistischen Gesellschaftsromans mit Themen wie Integration, Zuwanderung und sozialen Verwerfungen beschäftigt. Tatsache ist, dass sich die Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Frankreich traditionell stärker in den politischen Diskurs einmischen als ihre deutschen Kollegen.

Houellebecq – Kulturkritik oder rechte Gesinnung?

"Unterwerfung" (frz. Soumission) lautet der Titel des sechsten auf Deutsch erschienen Romans von Houellebecq. Am Tag der Veröffentlichung verübten Terroristen einen Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" in Paris.
Im Zentrum des Romans, den deutsche Medien als "radikal" bezeichneten, steht der Literaturdozent François, der isoliert scheint. Sein trauriges Leben nimmt eine plötzliche Wendung, als 2022 der muslimische Politiker Mohamed Ben Abbes in Frankreich das Patriarchat und die Polygamie einführt. François erhält das Angebot, zum Islam zu konvertieren.

Michel Houellebecq: "Unterwerfung", DuMont, 272 Seiten.

Messling betrachtet Houellebecq nicht als Provokateur oder Ikone eines neuen Schreibens, sondern als rückwärtsgewandten Zweifler an den Werten der weltoffenen Gesellschaft. Ja, sogar als Nationalisten.


Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die Ideale der französischen Revolution sind heute nur noch Worthülsen und deshalb, so Messling, wächst die Krise stetig an.
Der französische Autor Michel Houellebecq im September in Spanien. Ein Mann steigt aus einem Auto.
Der französische Autor Michel Houellebecq im September in Spanien. © imago images/Agencia EFE

Der französische Einfluss auf die deutsche Literaturwelt

Für den Literaturwissenschaftler Markus Messling ist der Roman der Ort, an dem zunehmend politische Umwälzungen verhandelt werden. Die Texte handeln verstärkt von Gewalt, von Unsicherheit und von Existenzängsten. Alte Gewissheiten geraten ins Wanken.
So ist die französische Literatur von einer Art europäischer Traurigkeit geprägt, beherrscht von dem Gefühl, dass die Weltordnung, so wie wir sie kannten, in sich zusammengebrochen ist. Die französischen Autorinnen und Autoren scheinen den Deutschen in der Weltdeutung einen Schritt voraus zu sein. Und so blickt man hierzulande nach Frankreich, um herauszufinden, warum die Gesellschaft nach rechts rückt und warum die Welt aus den Fugen gerät.

Klassenkampf bei Didier Eribon

Neben Michel Houellebecq zählen auch Mathias Énard, Alexis Jenni, Gilles Leroy zur literarischen Elite der heutigen Zeit. Didier Eribons autobiographisches Buch "Rückkehr nach Reims" ist eine Reise in die Vergangenheit, die mehrfach auf deutschen Bühnen zu sehen war.
Die Buchvorlage gilt in Deutschland als ein Schlüsselwerk zum Verständnis der gesellschaftlichen Gegenwart. Eribon erzählt darin, wie es sich anfühlt, als homosexuelles Arbeiterkind in einem Vorort von Reims aufzuwachsen. Trotz harter Startbedingungen erhält er die Chance, sein bildungsfernes Milieu hinter sich zu lassen. Nach dem Tod des Vaters kehrt er nach Reims zurück und versucht herauszufinden, warum die Arbeiterschaft nicht mehr links, sondern rechts wählt.
In Frankreich findet das Buch nach seinem Erscheinen 2008 wenig Anklang. In Deutschland hat das Buch dagegen für Furore gesorgt.

Eribon ist ein Schüler des Soziologen Pierre Bourdieu, der den Klassenkampf und auch die gesellschaftliche Gerechtigkeit im Zentrum seines Werkes hatte. In dieser Polarität äußert sich aktuell der Kulturkampf in Frankreich, in dem der Rechtsdruck schon seit den 1980er-Jahren zum Alltag gehörte. Die Ungleichheit zwischen der weißen wohlhabenden Schicht und den Banlieues drumherum, aber auch die soziale Krise äußert sich im Zorn einer Schicht, die das Gefühl hat, unterzugehen, zu verlieren, abgeben zu müssen.
Der französische Autor Didier Eribon im Oktober 2017 auf der Frankfurter Buchmesse.
Der französische Autor Didier Eribon im Oktober 2017 auf der Frankfurter Buchmesse. © imago/Sven Simon/Anke Waelischmiller

Didier Eribon: "Rückkehr nach Reims", Suhrkamp, 2009, 172 Seiten.

Politikkritik in Theater und Film

Thomas Ostermeier, deutscher Theaterregisseur und Leiter der Berliner Schaubühne, kennt die Theaterlandschaft in Frankreich und in Deutschland wie kaum ein anderer. Die sozialen Unterschiede in Frankreich nimmt er stärker wahr als in Deutschland. Die Existenz gesellschaftlicher Klassen ist virulenter.
So stellt es der Filmregisseur Dominik Moll in seinen Filmen dar. Erst kürzlich dokumentierte er das Flüchtlingselend in beiden Ländern in Eden, einer Serie, die er für Arte produzierte. Theater und Film sind in Frankreich stärker in der Mitte der Gesellschaft und im kulturellen Alltag verankert als in Deutschland.

Postkolonialismus und Klassenbewusstsein in Frankreich

Ostermeiers Inzenierungen in Deutschland und Frankreich unterscheiden sich szenisch. Doch die Themen bleiben gleich: Der Rechtsruck der Arbeiterschaft, die Frage der Klassenzugehörigkeit und nach den Gründen für die Beliebtheit rechter Parteien.
Plakat der Inszenierung "Rückkehr nach Reims" von Thomas Ostermeier.
Auf die Bühne gebracht: Thomas Ostermeier hat Eribons Buch "Rückkehr nach Reims" als Theaterstück inszeniert.© Susanne Burkhardt
Die Bewunderung der Deutschen für die französischen Intellektuellen ist für Ostermeier nachvollziehbar. Sie suchen bei ihnen eine Erklärung für Rechtsruck und falsch verstandenen Patriotismus. Die Ursachen der Krise sieht er in Frankreichs Kolonialherrschaft und den nicht eingehaltenen Versprechen gegenüber Einwanderern.
Die Situation des Postkolonialismus ist auf der Straße, in der U-Bahn überall präsent. Diese stark vom Klassenbewusstsein geprägte Gesellschaft sieht Ostermeier kritisch und thematisiert sie offen auf der Bühne.

Die Flüchtlingskrise im französischen Film

Der deutsch-französische Regisseur Dominik Moll ist in Paris zu Hause. Moll hat sich in Frankreich als Regisseur etabliert: Er verstört den Zuschauer in seiner Arte-Serie "Eden" mit seiner Nähe zur Realität. Er erzählt die Flüchtlingskrise als ein komplexes Drama aus Profitgier und persönlichen Schicksalen.
"Eden" verwebt die Geschichten von Menschen verschiedener Nationalitäten, die alle auf ihre Art fliehen – vor Tod, vor Folter, vor dem Alltag, vor sich selbst. Einer der zentralen Schauplätze ist ein privat geführtes Flüchtlingscamp in Griechenland.
Mit der Serie "Eden" trifft Dominik Moll den Zeitgeist. Er beschreibt die schwierige Situation in allen beteiligten Ländern und zeigt, wie aus dem Elend Kapital geschlagen wird.

Kultureller Austausch in der Filmlandschaft

Es kommen nur noch sehr wenig Filme aus Deutschland nach Frankreich. In Deutschland sind französische Komödien beliebt, zum Beispiel "Monsieur Claude und seine Töchter". Derartige populären Komödien kommen überall gut an. Anspruchsvollere französische Filme sind nicht mehr so gefragt. Der Film von Moll "Neues vom Planeten Mars" ist auch eine Komödie. Doch obwohl sie auf der Berlinale großen Anklang gefunden hat, gab es keinen deutschen Verleih dafür.

Deutschsprachige Literatur in Paris

Was sich in Deutschland gut verkauft, findet in Frankreich nicht unbedingt viele Leser. Ausschlaggebend für den literarischen Erfolg sind Besprechungen in Zeitungen und Magazinen. Auf knapp 20 Quadratmetern ihrer kleinen Buchhandlung in Paris präsentiert Iris Mönch-Hahn den Kanon der deutschen Bildung. Doch verlangen viele Franzosen nicht mehr Schiller und Goethe, sie fragen nach AfD-nahen Autoren.
Der Buchhändlerin fällt es schwer, in die französische Gesellschaft hineinzufinden. Pariser sind gerne unter sich. Hinzu kommt ein generell sinkendes Interesse an der deutschen Sprache, auch das schlägt sich im Umsatz nieder. Das Image von Deutschland hat sich gewandelt. Wer Deutsch lernt, wird automatisch in die Oberschicht einsortiert.

Französischsprachige Literatur in Berlin

Patrick Suel zog kurz nach der Wende in die Hauptstadt. Auch er ist mit seiner Buchhandlung der einzige seiner Art in Berlin. Der Name der Buchhandlung "Zadig" ist eine Hommage an Voltaire. "Zadig oder das Schicksal" heißt ein Märchen des französischen Schriftstellers der Aufklärung.
Seine Herausforderung als Buchhändler sieht Suel darin, den Leuten neue, unbekannte französische Autoren nahezubringen. Als Suel zum ersten Mal nach Berlin kam, war ihm sofort klar, dass Berlin eine vibrierende Weltstadt ist. Ohne Berlin wäre er nie Buchhändler geworden.
Die französische Buchhandlung "Zadig" bietet ein umfangreiches Begleitprogramm mit Lesungen und Autorengesprächen und erfreut sich großer Beliebtheit. Berlin ist für viele Franzosen die Stadt der Freiheiten; in keiner anderen Stadt in Deutschland leben so viele Franzosen.

Traum oder Alptraum – Au Pair in Paris

Au Pair-Mädchen gehören gerade in bürgerlichen Pariser Familien zum guten Ton. Da macht es gar nichts aus, dass es eigentlich keine Kinder mehr gibt, um die es sich zu kümmern lohnt. Frankreich rangiert auf Platz fünf der Beliebtheitsskala von Au Pairs.
Besonders attraktiv ist es, ein Jahr in der Hauptstadt zu verbringen. Kost und Logis sind frei und es gibt ein Taschengeld von mindestens 75 Euro pro Woche. Die Realität ist jedoch ernüchternd: Manche jungen Frauen werden wie Bedienstete behandelt. Sie bekommen kaum Kontakt zu Franzosen und die Integration in der Gastfamilie findet oft nicht statt.
Während die deutsch-französische Freundschaft auf politischer Ebene in den letzten Jahren ein paar Risse erlitten hat, ist der kulturelle Austausch nach wie vor rege und respektvoll. So lange Menschen die Sprache des anderen lernen, hier wie dort ins Theater gehen, Bücher lesen und Filme anschauen, wird das deutsch-französische Band nicht reißen. Produktive Auseinandersetzungen sind zudem Wesen und Kern jeder guten Freundschaft.
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