Eine Lange Nacht über den Erzähler Michael Ondaatje

Die Seelen eines Migranten

Der Schriftsteller Michael Ondaatje bei der "Golden Man Booker"-Preisverleihung, den er für seinen Roman "Der englische Patient" erhalten hat, aufgenommen im Juli 2018
Schriftsteller Michael Ondaatje bei der Verleihung des "Golden Man Booker"-Preises, den er für seinen Roman "Der englische Patient" erhalten hat © picture alliance / empics / PA Wire
Von Dietrich Leube |
"Ich habe eine große Schwäche für Promenadenmischungen", hat Michael Ondaatje, der kanadische Autor holländisch-tamilisch-singalesischer Abstammung, einmal bekannt. Dazu passt der ungarische Spion aus seinem Roman "Der englische Patient" - ein Migrant wie er selbst.
Das Fragment, das Undefinierbare und das Mehrdeutige sind wesentliche Merkmale moderner Kunst. In der Literatur hat kaum jemand diese Zeichen der Zeit so klar gesehen wie Michael Ondaatje. In seinen Prosawerken gibt es weder zusammenhängende Abläufe noch klare Perspektiven. Erinnerungen sind lückenhaft. Bruchstücke von Schicksalen werden zu Collagen montiert, Exkurse über absonderliche Themen, Gedichte, Briefe, Aphorismen, Reportagen, dramatische filmartige Szenen eingeschoben. Manchmal verknüpfen sich diese Elemente zu einer Handlung, dann wieder bleiben sie der Spekulation des Lesers überlassen.
Doch so zufällig, wie sich die Figuren der Geschichten zu begegnen scheinen, um dann aus dem Blickfeld des Lesers zu verschwinden, so überraschend können sie auch wieder auftauchen.
Nicht von ungefähr sind viele Protagonisten Migranten wie der Autor selbst: die Krankenschwester oder der ungarische Spion in "Der englische Patient", die heldenhaften Arbeiter im Roman "In der Haut eines Löwen", die sich am Aufbau Torontos beteiligen, oder das Trio der Waisen in "Divisadero".
"Ich habe eine große Schwäche für Promenadenmischungen", hat Ondaatje einmal in einem Interview bekannt.

Michael Ondaatje: "Kriegslicht". Aus dem Englischen von Anna Leube. Carl Hanser Verlag
Wie viele Geheimnisse verträgt ein Leben? – Der neue Roman von Michael Ondaatje.
Nach Kriegsende wird der vierzehnjährige Nathaniel mit seiner Schwester Rachel von den Eltern in London zurückgelassen. Der geheimnisvolle "Falter", der sie in Obhut genommen hat, und dessen exzentrische Freunde kümmern sich fürsorglich um sie. Wer aber sind diese Menschen wirklich? Und was hat es zu bedeuten, dass die Mutter nach langem Schweigen aus dem Nichts wieder zurückkehrt? "Meine Sünden sind vielfältig", wiederholt sie, mehr gibt sie nicht preis. Als er erwachsen ist, beginnt Nathaniel die geheime Vergangenheit seiner Mutter als Spionin im Kalten Krieg aufzuspüren. Fünfundzwanzig Jahre nach dem "Englischen Patienten" hat Michael Ondaatje ein neues Meisterwerk geschrieben.

Im Büchermarkt des Deutschlandfunks: Sein neuer Roman "Kriegslicht" ist ein atmosphärisch starkes Buch, das auch von den unausgesprochenen Traumata eines Krieges erzählt, der mit seinem offiziellen Ende noch lange nicht zu vorüber war. Nachlesen und Nachhören
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Das Buchcover des Romans "Kriegslicht" von Michael Ondaatje © Hanser Verlag/dpa

Die aktuelle Lesereise von Michael Ondaatje

Michael Ondaatje ist mit seinem aktuellen Roman "Kriegslicht" unterwegs:
Mittwoch, 12.09.2018 um 20:00 Uhr. Moderation: Julika Griem. Deutscher Text: Thomas Lettow. Mit Unterstützung der Botschaft von Kanada. Im Literaturhaus München, Salvatorplatz 1, 80333 München. Zur Veranstaltungs-Website
Freitag, 14.09.2018 um 19:00 Uhr. Im Rahmen des Festivals "Internationales literaturfestival berlin". Moderation: Gabriele von Arnim. Deutscher Text: Denis Abrahams. Mit Unterstützung der Botschaft von Kanada. Im Haus der Berliner Festspiele, Schaperstrasse 24, 10719 Berlin. Zur Veranstaltungs-Website
Montag, 17.09.2018 um 20:00 Uhr. Im Rahmen des Festivals "lit.COLOGNE". In Kooperation mit der Buchhandlung Bittner. Moderation: Julika Griem. Deutscher Text: Ulrich Noethen. Mit Unterstützung der Botschaft von Kanada. Im Klaus-von-Bismarck-Saal Köln, WDR . Zur Veranstaltungswebsite
Dienstag, 18.09.2018 um 19:30 Uhr. Moderation: Tobias Döring. Deutscher Text: Stefan Wancura. Mit Unterstützung der Botschaft von Kanada. Im Literaturhaus Stuttgart, Breitscheidstrasse 4, 70174 Stuttgart. Zur Veranstaltungs-Website

Katzentisch

"Er war schweigsam. Er sah die ganze Fahrt über aus dem Fenster des Wagens. Zwei Erwachsene auf dem Vordersitz unterhielten sich leise. Er hätte zuhören können, wenn er gewollt hätte, aber er wollte nicht. Auf dem Straßenabschnitt, den der Fluß manchmal überschwemmte, hörte er unter den Rädern Wasser sprühen. Sie gelangten in das Fort, und der Wagen glitt lautlos an Postgebäude und Glockenturm vorbei. Zu dieser nächtlichen Stunde gab es in Colombo fast keinen Verkehr. Sie fuhren die Reclamation Road entlang aus der Stadt hinaus, vorbei an der Kirche St. Anthony’s, und dann bekam er die letzten Imbißstände zu sehen, jeder von einer einsamen Glühbirne beleuchtet. Danach erreichten sie ein weites, offenes Gelände, den Hafen, wo nur in der Ferne eine Kette von Lichtern am Pier zu erkennen war. Er stieg aus und blieb neben dem Wagen stehen, an die noch warme Motorhaube gelehnt. (...) An jenem Abend, als er an Bord des ersten und einzigen Passagierdampfers in seinem Leben stieg, war er elf Jahre alt und völlig ahnungslos."
So beginnt die Geschichte einer abenteuerlichen Schiffsreise, die das Leben nicht weniger Passagiere für immer prägen sollte und für manche von ihnen den Tod bedeutete. Diese Fahrt von Colombo über den Golf von Aden und das Rote Meer, durch den Suezkanal und das Mittelmeer nach London entführt einen Jungen – fast noch ein Kind – aus seiner tropischen Heimat ins Unbekannte. Und diese Geschichte erzählt der Roman "Katzentisch" des kanadischen Schriftstellers Michael Ondaatje, der in seiner Wahlheimat Kanada schon früh als Lyriker, Roman- und Filmautor gefeiert worden war, dann aber mit "Der englische Patient" und dessen Verfilmung weltberühmt wurde.

Michael Ondaatje wird 75: "Ich lebte ein nomadisches Leben", Nachlesen und Nachhören in Deutschlandfunk Kultur

Die Reise eines Elfjährigen

Ondaatje, niederländisch-tamilisch-singhalesischer Herkunft, wird 1943 in Colombo, der Hauptstadt Sri Lankas - damals noch Ceylon - als Sohn des Aufsehers einer Teeplantage geboren. Seine Eltern trennen sich, als er zwei ist. Als seine Mutter nach England geht, lässt sie ihn bei Verwandten zurück und holt ihn erst Jahre später nach. Mit neunzehn wandert er nach Kanada aus, studiert, unterrichtet englische Literatur und schreibt erste Gedichte.
"Katzentisch" ist ein Buch über das Thema Kindheit und zugleich das einzige mit einer autobiographischen Grundierung. Das will heißen: Ein elfjähriger Junge geht in Colombo an Bord eines Dampfers, ohne eine Vorstellung von dem weit entfernten Zielort zu haben. Er ist verängstigt und neugierig zugleich, und das Einzige, woran er sich festhalten kann, ist die Hoffnung, daß er am Ende der dreiwöchigen Seereise bei der Ankunft in England seine Mutter wiederfinden wird. Vorstellbar ist auch, daß der Kleine, der in Colombo eine englische Knabenschule besucht hat, sich gewünscht hätte, bald ein "richtiger" englischer Schuljunge zu werden.
"Als meine Kinder mich später nach dieser Reise fragten, waren sie schockiert, weil ich so wenig darüber wußte und auch weil ich als Elfjähriger völlig auf mich allein gestellt reisen mußte. Und ich selber war dann auch schockiert, daß ich so wenig Erinnerung an diese drei Wochen hatte. Was für Geschichten habe ich bloß damals verpaßt? Ich erinnere mich nur, daß ich mit ein paar anderen Kindern Tischtennis gespielt habe. Ansonsten? Gefühle von Angst, Angst, verloren zu sein – so, wie sich eben jedes Kind in dieser Situation fühlen würde. Von dieser Erfahrung muß eine Ahnung in das Buch geflossen sein. Als ich mit dem Schreiben des Buches begann, hatte ich nichts im Kopf außer dem Jahr meiner Reise und dem Namen des Schiffs. Von dem Moment an, in dem ich von den ersten in der dritten Person verfaßten Seiten intuitiv in die Ich-Erzählung wechselte, war alles offen, begann das Abenteuer des Schreibens, das für mich darin besteht, daß ich mich von mir selbst überraschen lasse."

Michael Ondaatje. Katzentisch. Roman. DTV Literatur
Der elfjährige Michael fährt mit zwei Gleichaltrigen auf einem Luxusdampfer von Sri Lanka nach England zu seiner Mutter, die er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat.

Drei Wochen auf See – eine einmalige Gelegenheit für die drei, die zusammengewürfelte Gruppe Erwachsener wie unter einem Brennglas zu beobachten. Den Pianisten, den todkranken Millionär, den Schiffsabwracker, den stehlenden Baron, den Botaniker, den geheimnisumwitterten Gefangenen – und nicht zuletzt die siebzehnjährige Emily, eine entfernte Cousine von Michael. Und wie ein Schatten ist für Michael auch die Mutter mit an Bord und vor allem die bange Frage: Wird sie am Hafen auf ihn warten?

"Die gesammelten Werke von Billy the Kid"

Mit 24 veröffentlicht er seinen ersten eigenen Gedichtband, noch ganz in der symbolistischen Tradition eines W.H. Auden der frühen 30er Jahre. Doch dann, drei Jahre darauf, gelingt ihm der große Wurf: "Die gesammelten Werke von Billy the Kid", ein kleines Buch, das in keine literarische Gattung paßt. Es ist eine Collage aus allen nur denkbaren Genres – abenteuerliche und groteske Anekdoten, Gedichte, fiktive Zeugenaussagen, Monologe, Balladen, rätselhafte historische und inszenierte Fotos und auf der letzten Seite das verblasste Bild eines Buben im Cowboy-Kostüm. Ausgezeichnet mit dem "Governor General’s Award", dem renommiertesten Literaturpreis Kanadas, ist es sein erster, nicht nur nationaler Erfolg.
"Ich habe eine große Schwäche für Promenadenmischungen", hat Ondaatje einmal in einem Interview bekannt. "Ich selber bin ja ein Mischling aus Orten, Rassen, Kulturen und Gattungen." Dieses lakonische Credo verrät viel sowohl von seiner Haltung als auch von seiner Ästhetik. Über seinen Erstling sagt er im Rückblick:
"Von Billy the Kid kannten wir damals nur die Klischees, aber ich wollte etwas schreiben, das beunruhigend war und gefährlich und frisch. Ich hatte als Lyriker begonnen, und als ich das Buch halb fertig geschrieben hatte, schaltete ich um, arrangierte die Szenen neu und bediente mich der Poesie, der Prosa, der Musik, der Fotographie und ließ reichlich Luft dazwischen."
Nach dem Sieg der Amerikaner im Pazifik hatte populäre amerikanische Kultur rasch den zuvor in der britischen Kolonie Ceylon dominierenden Lebensstil verdrängt. Der Schuljunge Michael sah Filme wie "Billy the Kid returns" mit dem "Singing Cowboy" Roy Rodgers, er schwärmte für Country-Musik und begeisterte sich für Comic-Books, allen voran die "Frontier News", die den Wilden Westen verherrlichten. Der kleine Junge mit Hut, Halfter und gezückten Spielzeugpistolen auf dem anonymen Foto konnte niemand anders sein als der Autor der "Gesammelten Werke von Billy the Kid" selbst.
"Mit dieser Mythologie von Filmen und Comics bin ich aufgewachsen: Sie kamen von weit her aus Amerika auf meine tropische Insel."

"Billy, armer Jung ist tot / mit dem Fischblick, lacht im Unglück / im Kopf Planeten, blutigrot. / Das Blut rann runter, flussesbreit / weit wie Texas an der Seit. / Dann war’s trocken, wir wuschen ihn / sein Auge blickt’ ins Leere hin. / Ich fand die Kugeln, sonderbar / verkaufte sie dem ‚Texas Star’. / Sie wogen, legten sie zuhauf / und nahmen Fotos davon auf. / Billy, armer Jung ist tot / im Kopf Planeten blutigrot. / Mit dem Fischblick, lacht im Unglück, / so hat er’s vorhergesagt."

Michael Ondaatje. Die gesammelten Werke von Billy the Kid. Hanser Verlag
Billy the Kid, geboren 1859, erschossen im Alter von 22 Jahren - und für jedes Lebensjahr gab es einen Toten, sagten die Leute. Von allen Legenden, die es je im Wilden Westen gab, war er die größte. In diesem Buch über Leben und Sterben des jungen Desperados erkundet Michael Ondaatje wie in seinen späteren Werken einen Mythos und dessen Entstehung. Echte Zeugenaussagen werden mit fingierten vermischt. Gedichte, Monologe, Auszüge aus Comic-Heften, Photos, abenteuerliche Geschichten von Wahnsinn und Gewalt fügen sich dabei zu einer Collage aus Erinnerung, Legende und Recherche.

"Von allen Kunstformen ist Jazz diejenige, deren Künstler ich am meisten beneide."
Im Louis Armstrong Park befindet sich ein Denkmal für Buddy Bolden. Charles Joseph „Buddy“ Bolden wurde am 6. 09.1877 in New Orleans geboren. Er starb am 04.11.1931 in Jackson (Mississippi). Er galt als ein ganz großer Kornettist im New Orleans um 1900. 
Denkmal für Buddy Bolden im Louis Armstrong Park in New Orleans© dpa / picture alliance / Klaus Nowottnick

Wynton Marsalis - Trumpet with David Oswald – Tuba – Hören bei Youtube

"Jazz vermittelt ein Gemeinschaftsgefühl, ist vollkommen offen und man kann improvisieren. Wenn ich Fats Waller sein könnte, wäre ich kein Schriftsteller."
Wer, wie Michael Ondaatje, vor allem die frühe Jazzmusik liebt, kennt die Legende von , dem schwarzen Kornettisten aus dem Rotlichtviertel von New Orleans. Es heißt, er habe den Jazz erfunden. Die ihn kannten, Musiker wie Jelly Roll Morton, haben alle möglichen Geschichten über ihn in die Welt gesetzt. Feststeht jedoch, dass er eine der Schlüsselfiguren im Entstehen jener Musik war, die später als "Jazz" bekannt wurde. Das Faszinosum dieser Figur lag für den jungen Schriftsteller vor allem darin, dass von diesem Musiker kein einziges musikalisches Dokument überliefert ist. Das heißt: Was ihn lockte, war das ferne Echo eines Namens, der durch die Geschichte der Jazzmusik und die Musik selbst geistert – eine Herausforderung an die schöpferische Phantasie, fiktive Fakten zu erfinden. Mit anderen Worten: Fakten werden wie Phantasiestoff behandelt, und reinem Phantasiestoff wird der Anschein des Faktischen verliehen. Ondaatje spricht von der "künstlerischen Wahrheit der Fiktion". Und so zeigt sich bereits in seinen Anfängen der künftige "Spezialist für unfertige Lebensläufe und poetische Bilderrätsel", wie er einmal genannt wurde.
1973 bereiste er das Mississippi-Delta, nachdem er die bescheidene einschlägige Literatur studiert hatte. Er durchmusterte in örtlichen Archiven alte Zeitungen, Foto-Material und Tonband-Aufnahmen mit Zeitzeugen-Interviews aus den 30er Jahren. Er durchstreifte New Orleans auf der Suche nach der Physiognomie des Protagonisten und seiner Welt, doch er mußte rasch einsehen, dass es nicht mehr zu entdecken gab als eine Landschaft aus Namen und Gerüchten. Die amtlichen Fakten sind armselig: Charles "Buddy" Bolden wurde 1877 in New Orleans geboren. Seine Karriere als Kornettist und Bandleader begann etwa um 1900 und war sieben Jahre später schon zu Ende, als er mit Symptomen von Schizophrenie in die Irrenanstalt von Jackson (Louisiana) eingeliefert wurde, wo er 1931 starb, Sein Grab ist nicht bekannt.

Dixieland - Buddy Bolden bei Youtube – und weitere Infos bei Wikipedia
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"It's running in the Family – Es liegt in der Familie"

Mit Mitte Dreißig war Michael Ondaatje in der literarischen Welt Kanadas bekannt als eine unverwechselbare Stimme – als Lyriker, als Meister des Fragments und der Collage, als Essayist, Filmemacher und Rezitator seiner Verse. Nach dem Erscheinen seines ersten Gedichtbands war kein Jahr ohne Würdigungen und Auszeichnungen vergangen. Doch davon konnte er nicht leben, und eine Festanstellung an seiner Universität war ihm ohne Master-Abschluss verwehrt. Und auch wenn er, mit gerade einundzwanzig, eine Kanadierin geheiratet und mit ihr zwei Kinder hatte, war er sich doch jahrelang nicht sicher gewesen, ob er wirklich in Kanada bleiben und Kanadier werden sollte. Er spielte lange mit dem Gedanken, noch einmal nach Sri Lanka zurückzukehren, um herauszufinden, was seine Herkunft für ihn bedeuten könnte. Er beneidete Schriftsteller wie William Faulkner oder Alice Munro, die er so bewunderte, um ihre starken regionalen Wurzeln. Er aber mußte seine Stellung in der Welt erst einmal klären, als Migrant und als Künstler. Er mußte lernen zu überleben. Doch im Lauf der Jahre würde er feststellen, dass er als "Mischling von Orten, Rassen, Kulturen und Gattungen" – wie er sich einmal nannte – gerade in Kanada eine größere Freiheit fand, als er sich das anderswo hätte vorstellen können:
"Ich fühle mich als Kanadier und Sri Lanker. Da war etwas in Kanada, das es mir ermöglichte, Schriftsteller zu werden. In England gibt es acht Millionen Schriftsteller, und über jeden Rosenstrauch ist schon geschrieben worden. In Südamerika gibt es Flüsse, die noch nicht einmal einen Namen haben: Das war die Situation für mich als Schriftsteller in Kanada – Offenheit, Freiheit, über alles zu schreiben. Ich wäre kein Schriftsteller geworden, wenn ich in England geblieben wäre."
"Running in the Family – Es liegt in der Familie": (So) lautet der Titel eines ungewöhnlichen Familienalbums, entstanden nach der "empfindsamen Reise" des Autors durch das Land seiner Herkunft. Es ist eine Mischung aus Reportage und Reflexion, Geschichte und Anekdote, Aphorismus, Prosagedicht und Fotographie, aus den Erinnerungen von Geschwistern und Nachkommen, von Augen- und Ohrenzeugen der Eltern-Generation. Ondaatje selbst hat diese Methode ständigen Wechsels von Perspektiven und Stilen schlicht "kubistisch" genannt. Man könnte sie ebensogut als kaleidoskopisch bezeichnen, ein Verfahren, das er bereits in seinen Erstlingswerken "Billy the Kid" und "Buddy Bolden Blues" ausgelotet hatte. So versammelt etwa eines der eingestreuten "kubistischen" Gedichte Geräusche Asiens und Momentaufnahmen tropischer Blitzlichter in surrealistischer Manier – "Sweet Like a Crow", "Lieblich wie eine Krähe":

"Sweet like a crow"

"Das ist ein Gedicht, das ich für meine Nichte in Sri Lanka geschrieben habe, die schrecklich falsch einige Lieder sang, und dann stieß ich auf ein paar Zeilen von Paul Bowles. Er sagt: ‚Die Singhalesen gehören zweifellos zu den unmusikalischsten Menschen auf der Welt.’ Dieses Gedicht heißt: ‚Lieblich wie eine Krähe’ und ist der achtjährigen Hetti Corea gewidmet:
"Deine Stimme klingt wie ein Skorpion, der
Durch eine Glasröhre gezwängt wird
Als wäre gerade jemand auf einen Pfau getreten
Wie der Wind, der in einer Kokosnuß heult
Wie eine rostige Bibel, wie jemand, der Stacheldraht über einen gepflasterten Hof schleift,
wie ein ertrinkendes Schwein
ein Vattacka, das geröstet wird
ein händeschüttelnder Knochen
ein Frosch, der in der Carnegie Hall singt. ...

"Der englische Patient"

"Alle vier Tage wäscht sie seinen schwarzen Körper, angefangen bei den kaputten Füßen. Sie macht einen Waschlappen naß, preßt ihn über seinen Knöcheln zusammen und läßt das Wasser auf ihn tropfen, blickt auf, als er etwas murmelt, und sieht sein Lächeln. Am Schienbein sind die Verbrennungen am schlimmsten. Tiefviolett. Knochen. Sie pflegt ihn seit Monaten, und sie ist vertraut mit dem Körper, dem wie ein Seepferdchen schlafenden Penis, den mageren, festen Hüften. Christi Hüftknochen, denkt sie. (Er ist ihr verzweifelnder Heiliger. Er liegt flach auf dem Rücken, ohne Kopfkissen, und blickt hinauf zum gemalten Blattwerk an der Decke, dem Baldachin aus Zweigen, und zum blauen Himmel darüber.)
Sie läßt Calomin in Bahnen über seine Brust rinnen, wo er weniger verbrannt ist, wo sie ihn berühren kann. Sie liebt die Mulde unterhalb der letzten Rippe, diese Klippe aus Haut. Als sie seine Schultern erreicht, bläst sie kühle Luft auf seinen Nacken, und er murmelt etwas.
Was ist? Fragt sie, aus ihrer Konzentration heraus. Er wendet ihr sein dunkles Gesicht mit den grauen Augen zu. Sie fährt mit der Hand in die Tasche. Sie schält die Pflaume mit den Zähnen, entfernt den Kern und schiebt ihm das Fruchtfleisch in den Mund.
Er flüstert wieder, zieht das lauschende Herz der jungen Krankenschwester an seiner Seite dorthin, wo sein Geist gerade weilt, in jenen Brunnen der Erinnerung, in den er während der Monate vor seinem Tod immer wieder eintauchte."
"Der englische Patient": Schauplatz dieses Romans, der seinen Autor international bekannt machte, ist eine zerbombte Villa in der Nähe von Florenz während der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs. Die deutschen Truppen haben sich nach Norden zurückgezogen und das verwüstete Gelände ringsum vermint.
Die Ruine hatte den Alliierten vorübergehend als Feld-Lazarett gedient, und die zurückgebliebene, von den Schrecken des Kriegs offenbar verwirrte Krankenschwester Hana pflegt einen Mann, der einen Flugzeugabsturz in der nordafrikanischen Wüste mit schwersten Verbrennungen knapp überlebt hat.
Niemand weiß, wer er ist, woher er kommt. Er behauptet, er sei Engländer. Unklar ist, warum die Sanitäterin nicht ihrer Einheit gefolgt ist, sondern bei diesem einzelnen Verwundeten ausharrt. Zu dem merkwürdigen Paar stößt der Inder Singh, genannt Kip, Bombenentschärfer in einer englischen Pioniertruppe. Er wird sich in die junge Frau verlieben. Und Hana wird von jemandem aufgestöbert, der sie vor dem Krieg in Toronto gut gekannt hat: Er ist ein alter Freund ihres Vaters, ein genialer Dieb, der im Krieg bei den Alliierten als Spion nützlich war. In deutsche Gefangenschaft geraten, hat er unter der Folter seine Daumen eingebüßt. Er wird nie mehr seinen Neigungen nachgehen können. Woher sie sich kennen? Hana ist die Ziehtochter Patricks aus "In der Haut eines Löwen" und Caravaggio der Mann, dem Patrick zur Flucht aus dem Gefängnis verhalf. Sie war es auch, der Patrick in der gemeinsamen Autofahrt alles erzählte, was sie von seinem Leben wissen mußte. Und von Patricks Tod oder dem Schicksal Claras erfahren wir nach und nach aus den Geschichten, die man sich in der zerstörten Villa erzählt.
Man könnte "Der englische Patient" als eine Art von "Fortführung" bezeichnen, insofern zwei Figuren des Quartetts sich in der Einbildungskraft ihres Autors offenbar selbständig gemacht haben, wenn wir nun retrospektiv von ihrem "Vorleben" erfahren.

Trailer – Der englische Patient.
Die neunfach Oscar-prämierte Inszenierung von Michael Ondaatjes hochgelobtem Roman ist eine der schönsten und dramatischsten Liebesgeschichten des Kinos und bis in die kleinsten Nebenrollen exzellent besetzt.
Weitere Infos bei Wikipedia

Bibliographie

1990 In der Haut eines Löwen. Roman. Aus dem Englischen von Peter Torberg

1992 Es liegt in der Familie. Aus dem Englischen von Peter Torberg

1993 Der englische Patient. Roman. Aus dem Englischen von Adelheid Dormagen

1995 Buddy Boldens Blues. Roman. Aus dem Englischen von Adelheid Dormagen

1997 Die gesammelten Werke von Billy the Kid. Aus dem Englischen von Werner Herzog

2000 Anils Geist. Roman. Aus dem Englischen von Melanie Walz

2001 Handschrift. Gedichte. Aus dem Englischen von Simon Werle

2005 Die Kunst des Filmschnitts. Gespräche mit Walter Murch. Aus dem Englischen von Gerhard Midding

2007 Divisadero. Roman. Aus dem Englischen von Melanie Walz

2012 Katzentisch. Roman. Aus dem Englischen von Melanie Walz

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