Eine Lange Nacht über Nahrungstabus

Schmecken darf alles, aber nicht jedem

Eine heilige Kuh in Bagan in Myanmar.
Während Kühe vielerorts als Lebensmittel gelten, sind Heilige Kühe wie diese aus Myanmar unantastbar. © imago / Hoch
Von Kai Lückemeier und Jan Tengeler |
Alle Kulturen kennen eine Unterscheidung zwischen geeigneten, weniger geeigneten und verbotenen Speisen. Aufgrund religiöser Vorschriften oder gesellschaftlicher Tabus verschmähen wir eine Vielzahl von Nahrungsmitteln, obwohl sie aus biologischer Sicht durchaus bekömmlich wären.
Speiseverbote sind ein universelles Phänomen. Zu allen Zeiten haben Völker und Kulturen bestimmte Nahrungsmittel für "unrein" erklärt oder aus ideellen Gründen verschmäht. Von Juden und Muslimen wurde das Schwein mit einem strengen Tabu belegt, von den Hindus das Rind, in Nordamerika und anderswo das Pferd, in Europa unter anderem der Hund. Dass alle genannten Tiere von Angehörigen anderer Kulturen durchaus goutiert werden, zeigt, dass bei der Frage, welche Dinge uns als gut und bekömmlich gelten, ernährungsphysiologische Kriterien oft keine tragende Rolle spielen.
Viele Wissenschaftler sind der Ansicht, dass Speisetabus vor allem symbolische Bedeutung haben. Sie dienen demnach primär dem Zweck, durch die Herstellung "kultureller Identität" den sozialen Zusammenhalt zu stärken und das eigene Kollektiv gegen andere abzugrenzen. Von dem Ethologen Claude Lévi-Strauss stammt das berühmte Diktum, das Speisen nicht nur gut zu essen, sondern vor allem "gut zu denken" sein müssen. Sie müssen also gewissermaßen erst einmal den kollektiven Geist nähren, bevor sie die leeren Magen füllen. Was konkret als "rein" oder "unrein" gilt, wäre nach diesem Ansatz größtenteils frei und willkürlich gesetzt.
Im Gegensatz dazu geht der kulturmaterialistische Ansatz davon aus, dass Nahrungstabus ihren Ursprung meist in konkreten, alltagspraktischen Sorgen haben, und dass sie erst nachträglich in die Sphäre der religiösen und kulturellen Gebote gelangen, um sie im Kollektivbewusstsein zu verankern. Ein Beispiel: In Malaysia gibt es eng benachbarte Stämme, die vollkommen unterschiedliche Dinge tabuisieren. Was auf den erste Blick wie zufällig erscheint, offenbart bei genauerer Betrachtung eine höhere Vernunft: Die unterschiedlichen Verbote sorgen dafür, dass die Menschen die vorhandenen Ressourcen unter sich aufteilen, ohne sie zu erschöpfen. Anders gesagt: Die erlaubten Speisen sind deshalb "gut zu denken", weil diese Völker ohne Tabus in einem beständigen Verteilungskonflikt mit anderen Stämmen leben würden.
In der Regel haben die Menschen Gründe für das, was sie tun. Überall mussten sie ihre Bedürfnisse an die ökologischen Ressourcen ihrer Umwelt anpassen, ob im Nahen Osten, in Indien oder Europa. Einen starken Fleischkonsum beispielsweise konnten sich frühere Gesellschaften nur leisten, wenn sie aufgrund einer geringen Bevölkerungsdichte über viel Agrarland verfügten. Bei einer Zunahme der Bevölkerung führte die Aufzucht von Schlachttieren dagegen unweigerlich dazu, dass die Menschen mit dem Vieh um Weide- und Ackerflächen konkurrierten. Um den enormen sozialen Zündstoff solcher gesellschaftlichen Konflikte zu entschärfen, wurden, wie sich an einigen Beispielen zeigen lässt, manche Arten mit einem Tabu belegt und vom Speiseplan gestrichen.
Dass Speisegebote häufig das Resultat gesellschaftlicher Kosten-Nutzen-Abwägungen sind, bedeutet keineswegs, dass die daraus resultierende Ernährungsweise optimal ist. Sie ist lediglich der Versuch einer kulturellen Anpassung an jeweils andere naturräumliche Bedingungen. Sie führen zu einem Speiseplan, der mitunter karg ist und viele Wünsche offenlässt, aber Gesellschaften über sehr lange Zeiträume das Überleben sichert. In dieser Langen Nacht wird es um die Frage gehen, welche guten Gründe es für die Tabuisierung bestimmter Nutz- und Haustierarten gab und weshalb sich Europäer im Unterschied zu Milliarden Bewohnern anderer Kulturkreise vor Insekten ekeln.
Kai Lückemeier
Speisegebote (Quiz: Wer erkennt die Weltreligion?)
"Wenn die Speise rein ist, ist der Geist rein. Wenn der Geist rein ist, ist das Erkennen klar."
"Jedoch dieses dürft ihr nicht essen von Gekäuaufholenden und Spalthufbehuften: das Kamel, den Hasen und den Klippdachs."
"Durch das willentliche Essen von Pilzen, Fröschen, Knoblauch, Geflügel, Zwiebel oder Lauch verliert einer seine Kaste."
"Alles, was sich auf dem Bauch oder auf vier und mehr Füßen fortbewegt, kurz alles Kleingetier, das sich auf dem Boden bewegt, dürft ihr nicht essen, denn es ist abscheulich."
"... denn wohl sind sie Gekäuaufholende, aber den Huf haben sie nicht durchhuft, maklig sind sie euch, und das Schwein, denn wohl hat es den Huf durchhuft, aber da ist nicht Gekäu, maklig ist es euch ..."
"Seid ihr den so unverständig. Merkt ihr nicht, dass alles, was von außen in den Menschen hineingeht, ihn nicht unrein machen kann? Denn es geht nicht in sein Herz, sondern in den Bauch und kommt heraus in die Grube."
"Isst einer diese Dinge versehentlich, muss er sich einer Buße unterziehen."
"Ist die Nahrung rein, ist das Wesen des Menschen rein."
"Wer das Fleisch eines Tieres isst, verzehrt auch dessen Nahrung, und das Schwein frisst Fleisch und Unrat."
"Du sollst allerart Greuel nicht essen."
"Ekel ist soziokulturell bedingt, als Kinder haben wir das nicht, das wird durch Umfeld und Eltern geprägt, da wir Allesfresser sind, gibt es auf diesem Planeten Kulturen, die Dinge essen, die wir nicht mögen oder als ekelig empfinden. Viele dieser Dinge, die Ekel in uns auslösen, haben mit tierischen Lebensmitteln zu tun.” (Guido Ritter)
"Der Gesetzgerber untersagte streng alle Land-, Meeres- und Lufttiere, deren Fleisch – wie das der Schweine und der schuppenlosen Fische – das feinste und fetteste ist, weil er wusste, dass sie für den sklavischsten der Sinne, den Geschmack, eine Gefahr darstellen und zur Völlerei anregen, ein Übel, das sowohl für den Leib wie auch für die Seele gefährlich ist, weil Völlerei eine schlechte Verdauung zur Folge hat, die die Ursache aller Krankheiten und Charakterschwächen ist." (Philon von Alexandria)
"Unter anderem hast Du auch erwähnt, einige bei den Deutschen äßen wilde Pferde und sogar noch mehr äßen zahme Pferde. Unter keinen Umständen, heiliger Bruder, darfst du erlauben, dass dergleichen jemals geschieht. Erlege ihnen vielmehr um alles in der Welt eine angemessene Strafe auf, durch die Du mit Christi Hilfe imstande bist, es zu verhindern. Denn dieses Tun ist unrein und verabscheuungswürdig." (Papst Gregor III. 724 in einem Brief an Bonifatius, den "Apostel der Deutschen")
"Warum es die Kuh war, die der Vergöttlichung teilhaftig wurde, liegt für mich auf der Hand. Die Kuh war in Indien der treueste Gefährte des Menschen. Sie spendete Fülle. Nicht nur gab sie Milch, sie machte überhaupt erst den Ackerbau möglich." (Mahatma Gandhi)
"Wann immer der Islam in Gegenden vorgedrungen ist, in denen die Schweinezucht eine Hauptstütze des traditionellen landwirtschaftlichen Systems bildete, hat er wesentliche Teile der Bevölkerung nicht für sich zu gewinnen vermocht. Regionen wie Malaysia, Indonesien, die Philippinen und das südlich der Sahara gelegene Afrika, die sich zum Teil für die Schweinehaltung ökologisch gut eignen, stellen die Grenzgebiete für die aktive Verbreitung des Islams dar. (...) Der Islam hat, mit anderen Worten, bis zum heutigen Tag eine geografische Schranke, die zusammenfällt mit den ökologischen Übergangszonen zwischen bewaldeten Regionen, die für die Schweinehaltung gut geeignet sind, und Gegenden, wo zu viel Sonne und trockene Hitze die Schweinehaltung zu einem riskanten und aufwendigen Unternehmen machen." (Marvin Harris)
"Wir im Westen verzichten darauf, Hunde zu essen, nicht weil Hunde unsere Lieblinge unter den Tieren sind. (...) Wir verfügen über eine große Fülle alternativer Quellen tierischer Nahrung, und Hunde können uns lebendig zahlreiche Dienste leisten, die den Wert ihres Fleischs und Kadavers weit übertreffen. Im Gegensatz dazu geht Kulturen, in denen Hundefleisch gegessen wird, solch eine Fülle an tierischen Nahrungsquellen gewöhnlich ab, und die Dienste, die lebende Hunde leisten können, reichen nicht aus, den Nutzen der Erzeugnisse aufzuwiegen, die tote Hunde liefern." (Marvin Harris)
"Ihr Fleisch ist eine angenehme Speise; allein sie werden uns durch Vertilgung einer ungeheuren Menge von schädlichen Insekten so außerordentlich wohlthätig, daß es sündlich ist, um eines so kleinen wohlschmeckenden Bissens willen, ein so nützliches Vogelleben zu tödten." (Johann Friedrich Naumann 1824 über die Blaumeise)
"Wir sehen es im Moment in Deutschland ganz stark, was die Tiere angeht. Wir verlegen uns auf Hühnerbrust und vom Rind und Schwein essen wir das Filet, aber die Innereien, die früher mit Lust und Genuss gegessen worden sind, werden mehr und mehr tabuisiert und verschwinden aus den Regalen. Wenn das mal weg ist, kann das Generationen dauern, bis diese Spezialitäten wieder hervorgeholt werden." (Guido Ritter)
Eine Zuchtsau steht am in einem Schweinemastbetrieb vor ihrer Box.
Eine Zuchtsau steht am in einem Schweinemastbetrieb vor ihrer Box.© picture alliance / dpa / Axel Heimken
Auszug aus dem Manuskript der Sendung
In der Tabuisierung des lebendigen Ursprungs unserer Fleischprodukte drückt sich, wenn man so will, eine Art Mitleid aus. Aber es ist ein infantiles Mitleid, wie wenn Kinder ihre Augen zukneifen. Ein Mitleid, das keineswegs zu einer Reduzierung des Tierleids führt, im Gegenteil. Im Schutz des Tötungstabus wurde die Fleischerzeugung in den letzten Jahrzehnten in einer Art und Weise intensiviert, die aus ökologischen und ethischen Gründen mehr als bedenklich ist. Wir essen Schweine, die so schnell wachsen, dass ihre Gelenke und Knochen das Gewicht nicht mehr tragen und Puten, die am Ende der Mastzeit kaum noch laufen können.
Auf alten Bauernhöfen war es selbstverständlich, dass das Tier, welches getötet wurde, vom Kopf bis zum Schwanz verzehrt wurde – was ökonomisch und nach Ansicht von Kennern durchaus auch kulinarisch vernünftig ist. Es hat aber auch mit Ethik zu tun, mit Respekt vor der Kreatur. Einige Gastronomen und Sterneköche vor allem in Süddeutschland bemühen sich seit Jahren um eine Rehabilitierung von vergessenen Delikatessen aus Herz, Lunge, Leber, Niere, Zunge oder Backen. Doch sie stemmen sich gegen einen Trend, der gegenwärtig übermächtig erscheint. Schon Fettränder am Fleisch werden als ekelig empfunden, Innereien erst recht. Das Tier ist zum Filetspender mutiert, dem einige wenige Teile entnommen werden. Was es sonst hat, ist für viele Konsumenten wertlos geworden.
Um Hunde und Innereien - um kulturelle Nahrungsmitteltabus ging es in der zweiten Stunde der Langen Nacht – in der letzten Stunde stehen dann Insekten im Mittelpunkt. ...
Ein letztes großes Rätsel unter den Nahrungstabus ist der ausgeprägte Ekel, den Angehörige des westlichen Kulturkreises vor dem Verzehr von Insekten empfinden. Die Entomophagie, so der Fachausdruck, ist in fast allen nordatlantischen Ländern stark tabuisiert und mit Ekelgefühlen behaftet. In weiten Gebieten Süd- und Ostasiens, in Australien und Ozeanien, in fast allen afrikanischen Kulturen, in Mexiko und Teilen Südamerikas ist sie dagegen ebenso verbreitet wie selbstverständlich. Der ausgesprochene Widerwille, der die meisten Europäer bei der Vorstellung von gesottenen Raupen und kandierten Käfern befällt, ist deshalb keineswegs so normal und selbstverständlich, wie es vielen Angehörigen unseres Kulturkreises erscheint. In Anbetracht der menschlichen Entwicklungsgeschichte, auch der abendländischen, und im Vergleich zu anderen Völkern und Ethnien ist die Tabuisierung von Insekten eher eine Ausnahme als die Regel.
Marcus Langsdorf : "Die Heuschrecke schmeckt nussig, weil sie gefriergetrocknet ist, kann man sich das vorstellen, wie beim Fertiggericht, da sind die Erbsen auch immer leicht, fassen sich an wie Styropor. Dem Lebensmittel ist komplett das Wasser entzogen. Es ist trocken, knackig, brüchig. Wir bereiten das in der Fritteuse zu. Sie bekommen ein Röstaroma. Schmeckt dann knusprig ... innen drin weniger fleischig. Weil das Wasser entzogen ist, ist es knusprig, crispy ..."

"Man sollte nicht glauben, dass der gemeine Maikäfer welcher oft, namentlich wieder in diesem Jahre, eine verderbliche Landplage ist, und alles verheert, eine so gute Suppe liefern könnte. (...) Unsere Studenten essen sie nach abgerissenen Füssen roh, ganz wie sie sind, und nicht wenige ohne den geringsten Nachtheil; in vielen Conditoreien sind sie überzuckert zu haben, und man isst sie candirt an Tafeln zum Nachtische. (Medizinalrats Dr. Johann Schneider, 1844)
"[Ich fand] nichts davon unangenehm, manches ganz schmackhaft, vor allem die Riesenwasserwanze. Zum größten Teil schmeckten sie fad, mit einem leichten Anklang an Gemüse (...). Ein Mistkäfer oder der weiche Körper einer Spinne haben, wenn geröstet, ein knuspriges Äußeres und ein weiches Inneres von der Konsistenz eines Soufflé, das keineswegs unangenehm ist. Gewöhnlich kommt Salz daran, manchmal werden Chili oder die Blätter von wohlriechenden Kräutern zugefügt, und verschiedentlich werden sie mit Reis gegessen oder mit Soßen oder Curry gereicht. Geschmacksrichtungen zu bestimmen, ist außerordentlich schwierig, aber mit Kopfsalat ist, meine ich, der Geschmack von Termiten, Zikaden und Grillen am ehesten beschrieben; mit Kopfsalat und roher Kartoffel der der Riesenspinne Nephila; und mit konzentriertem Gorgonzola der der Riesenwasserwanze." (W. S. Bristowe)
"Der Vorteil von Insekten gegenüber anderen Tieren ist: Sie verbrauchen wenig Wasser, sie verbrauchen wenig Land, sie haben eine großen Umsatz von Futtermittel in Protein, weil sie Kaltblüter sind, sie erzeugen ein hochwertiges Protein, aber nur wenige Treibhausgase, sie haben also eine ganze Reihe ökologischer Vorteile." (Guido Ritter)
Auszug aus dem Manuskript
Internationaler Vorreiter bei der Verarbeitung von Insekten zu Tierfutter ist die Firma AgriProtein aus Südafrika. Ihre Gründer, der Brite David Drew und sein Bruder Jason, sehen in ihrem Konzept eine Win-Win-Strategie für die Abfall- wie für die Landwirtschaft. Gegenwärtig produziert AgriProtein in einer Madenfabrik bei Kapstadt auf der Basis organischer Abfälle wenige hundert Kilogramm Larvenmehl pro Tag. Das Pulver wird als Ersatz für teures Fischmehl oder Soja an Hühner- und Schweinefarmer verkauft. Bislang können die beiden Briten nur die lokale Nachfrage decken, aber schon bald wollen sie eine wesentlich größere Fabrik in Südafrika eröffnen. Und nicht nur dort. Die Firmengründer sind überzeugt, am Anfang einer neuen globalen Industrie zu stehen. Die Nachfrage sei bereits jetzt riesig groß, es gebe Interessenten aus mehr als 30 Ländern. Mit der Unterstützung internationaler Kapitalgeber sollen bis 2020 zehn weitere Insektenlarven-Mastanlagen entstehen, fünf davon in Europa.
Doch zuvor muss die EU einige rechtliche Fragen klären. Eine EU-Richtlinie schreibt beispielsweise vor, dass landwirtschaftliche Nutztiere keine anderen Tiere fressen dürfen – außer Fischmehl. Als diese Regel im Zuge der BSE-Krise Ende der 1990er-Jahre aufgestellt wurde, dachte noch niemand an die Möglichkeit, Insektenmehl zu verfüttern. Mittlerweile arbeitet die EU-Kommission an einer Novellierung der Richtlinien. Eine erste Hürde ist bereits genommen: Im Fischfutter für Aquakulturen dürfen Insekten schon enthalten sein. Ein weiteres Problem ist die EU-Vorgabe, dass alle Nutztiere in Schlachthäusern geschlachtet werden müssen. Ein Schlachthaus für Insektenlarven wäre natürlich absurd; die Tiere werden durch Schockfrostung abgetötet. Deshalb müssen auch diese Gesetze überarbeitet und angepasst werden.
Guido Ritter, Professor für Ernährungswissenschaften an der FH Münster: "Deutschland und Europa schaut nach einer Eiweißstrategie, wie können wir uns unabhängig von anderen Ländern machen, was können wir unserer Bevölkerung als Alternative zu Soja anbieten. Da spielen in Europa Insekten eine Rolle, auch in der Politik. Das konnte man sich vor 10 Jahren nicht vorstellen, da war BSE Krise, da ist man sehr restriktiv mit Eiweiß umgegangen, hat Regularien geschaffen, die heute bei der Zulassung von Insekten Probleme machen. Da muss noch einiges geändert werden. Man läuft aber offene Türen auch in der europäischen Politik ein, denn es ist ein Verständnis dafür da, dass wir die Eiweißsicherheit in Europa haben werden. Da könnten Insekten als Proteinquelle in der menschlichen Ernährung eine deutliche Rolle spielen."
Obwohl es noch viele offene Fragen gibt, ist sich Guido Ritter sicher, dass es zur Nutzung von Insekten als Futtermittel mittelfristig kommen wird, auch bei uns in Europa:
Guido Ritter: "... Ich würde schätzen, dass wir noch zehn Jahre brauchen, bis wir industriell das nutzen. Wir sind schon weit. Eine große Hürde ist die Wirtschaftlichkeit. Es hängt stark von Alternativen ab, wir haben im Futtermittelbereich noch Fischmehl, Soja, also Proteinquellen, die noch billiger sind als Insekten zu züchten. ... Es geht in Richtung Großproduktion und Massentierhaltung und sobald es sich wirtschaftlich rechnet, dauert es nur wenige Jahre und dann ist es vorstellbar."
Literaturtipps (Auszug)
Marvin Harris
Wohlgeschmack und Widerwillen
Stuttgart 2005
Für alle Erwachsenen, die den "Spinat-ist-gesund"- Terror überlebt haben.
Wie kann man sich vor einem Glas frischer Milch ekeln? Oder Spinat nicht mögen? Wie kann man Mistkäfer oder Schweine als ungenießbar, ja widerlich ansehen?
Die Vielfalt menschlicher Ernährungsgewohnheiten zählt zu den aufregendsten und populärsten Phänomenen der Kulturen, denn jeder einzelne Mensch steht drei- bis fünfmal täglich vor der Frage, was er essen soll. In seinem kurzweiligen Buch zeigt uns der weltbekannte Anthropologe Marvin Harris, dass sich die Vielfalt menschlicher Essgewohnheiten auf dem Boden nackter Tatsachen ganz einfach erklären lässt.
Jüdisches Museum Berlin (Hrsg.)
Koscher & Co. Über Essen und Religion
Hrsg. v. Michal S. Friedlander u. Cilly Kugelmann i. Auftr. d. Jüdischen Museums Berlin
2009 Nicolai Berlin
Milchig, fleischig, oder neutral? Koscher oder trefe? Darf ich oder darf ich nicht?
Essen und Trinken dienen nicht nur der physischen Existenzsicherung, sondern sind auch immer schon kulturell überformt, von jeher eingebunden in soziale und religiöse Zusammenhänge. Sie können daher ebenso als symbolische Handlungen angesehen werden, die über Formen der Geselligkeit, soziale Hierarchien und religiös begründete Normen Aufschluss geben.
Dieser Band beschreibt ausgehend von den jüdischen Speisegesetzen , wie religiöse Vorstellungen und Rituale auf vielfältige Weise das Verhältnis des Menschen zu seiner Nahrung beeinflussen. Dabei werden in unter anderem folgende Aspekte behandelt: die Rolle des Essens bei religiösen Zeremonien, Opferhandlungen, die Unterscheidung von rein und unrein , besondere Festtagsspeisen, Tischsitten.
In vier einleitenden Essays zum Thema Essen und Religion wird zudem ein Überblick über die Bedeutung von Nahrung rund um den Globus gegeben: Ähnlichkeiten im Judentum, Islam, Christentum und Hinduismus werden erklärt, Traditionen verschiedenster Speiserituale dargestellt und Gebote und Tabus erläutert. Hinzu kommen eingestreute literarische Texte, Anekdoten sowie sachlichen Erläuterungen und nicht zuletzt Rezepte zum Nachkochen. Rund 170 Abbildungen veranschaulichen den Facettenreichtum des Themas.
Zu den Autoren des Buches gehören unter anderem Peter Heine, Rainer Kampling, Renate Syed, David Kraemer, Tilman Allert, Barbara Kirshenblatt-Gimblett, Herman Simon, Ruth Ellen Gruber und Claudia Roden.
Sebastina Schellhaas
Die Welt im Löffel: Kochen – Kunst – Kultur
Kerber Verlag, Bielefeld 2012
Wir sind Allesfresser. Streng genommen sind wir jedoch mehr als wählerisch, denn selbst das, was wir essen, essen wir nicht mit jedem, an jedem Ort, zu jeder Zeit und unter allen Umständen. Im Kochen und Essen offenbart sich Ästhetik, Moral, Religion, Sexualität, Politik das gesamte soziokulturelle Universum einer Gesellschaft.
Die Welt im Löffel versammelt kulinarische Positionen von Ethnologen, Künstlern, Philosophen, Naturwissenschaftlern und Köchen und bietet mit Aufsätzen, Rezepten, ethnografischen Objekten und Bildmaterial aus der Sammlung des Weltkulturen Museums einen facettenreichen Einblick in die Küchen hier und andernorts.
Künstler: Felix Bröcker, Clémentine Deliss, Dieter Froelich, Vanessa von Gliszczynski, Ahmed Kabadi, Christoph Keller, Siriphan Klein, Peter Kubelka, Harald Lemke, Judith Akinyi Osumba, Eva Ch. Raabe, Sebastian Schellhaas, Mario Schmidt, Chaterina Sumera, Marin Trenk, Thomas A. Vilgis, Hans Zimmermann
D. Kimmich, S. Schahadat (Hg.)
Zeitschrift für Kulturwissenschaft: Essen
Transcript Verlag, Bielefeld, Heft 1/2012
Essen ist nicht nur eine physiologische Notwendigkeit für alle Lebewesen, sondern integriert zudem fast alle Bereiche des sozialen und kulturellen Verstehens, Deutens und Handelns: Es ist anthropologische Konstante – und doch zugleich kulturell, sozial, ökonomisch, sogar politisch und nicht selten erotisch konnotiert.
Essen (und damit auch Geschmack, Sitten, aber auch Magie und Ritual) bestimmt Prozesse der Inklusion und Exklusion, markiert Identität und überschreitet zugleich geografische, soziale und ethnische Grenzen. Die Beiträge des Heftes zeigen: Im Kontext der Globalisierung ist "Essen" seit einigen Jahren ein Feld genuin kulturwissenschaftlicher Forschung geworden, das auch ökologische Ansätze, kritische Positionen und politische Stimmen mit einschließt.
Norbert Benecke
Der Mensch und seine Haustiere
Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung
Theiss Verlag, 1994
Mary Douglas
Reinheit und Gefährdung
Reimer Verlag, Berlin 1985
Jared Diamond
Arm und Reich
Die Schicksale menschlicher Gesellschaften.
Fischer Verlag, Frankfurt 2003
In seinem bahnbrechenden Buch weist der amerikanische Biologe Jared Diamond nach, dass nicht konstitutionelle Unterschiede der Menschen, sondern die klimatischen und geografischen Besonderheiten der verschiedenen Erdteile die Ursache für die Verteilung von Armut und Reichtum sind. Er widerlegt damit stichhaltig alle Theorien, denen die Frage nach Rasse zugrunde liegt.
Jerry Hopkins
Skurrile Spezialitäten
Komet Verlag, Frechen 2001
Dieses Werk führt den Blick - im wahrsten Sinne des Wortes - "über den Tellerrand hinaus". Es zeigt eine fremde Welt, in der ohne Bedenken Insekten zubereitet, Quallen serviert oder Schlangen gegessen werden. "Strange Food" ist ein Streifzug rund um den Globus, es berichtet von anerkannten Esskulturen, die in Westeuropa aber vorrangig Ekel auslösen, wenn sie nur erwähnt werden. Was an einem Ort unserer Welt Alltag ist, bedeutet an einem anderen Provokation.
Desiree Bea Cimbollek u.a. "Probier mal, was da krabbelt – der praktische Insekten-Food-Ratgeber" (als kostenloser Download im Internet)
Ein Mann schiebt sich einen Dominowürfel mit Grille
Grillen auf Schokolade, Wurm-Würstchen oder Tagliatelle mit Madensauce könnten die Delikatessen der Zukunft sein.© picture alliance / dpa
Auszug aus dem Manuskript:
Wenn Sie nun Lust bekommen haben sollten ihren Liebsten demnächst Heuschrecken, Grillen oder Buffalo-Würmer zu kredenzen, abschließend ein paar grundlegende Tipps für den Umgang mit Speiseinsekten:
Personen, die auf Insektenstiche oder auf Schalentiere wie Krabben und Hummer allergisch reagieren, sollten bei Insekten grundsätzlich vorsichtig sein und sie zunächst nur in geringen Mengen probieren.
In Deutschland und vielen anderen Ländern sind nur gezüchtete Tiere für den Verzehr geeignet, da freilebende Exemplare oft durch Umweltgifte belastet sind.
Verzehren Sie nur Arten, die bekanntermaßen essbar sind. Dazu zählen Wander- und Wüstenheuschrecken, einige Grillenarten, Heimchen, verschiedene Engerlinge und Raupen, Mehl- und Buffalowürmer sowie Bienenmaden.
Wenn Sie lebende Insekten erstanden haben, sortieren sie tote Exemplare umgehend aus. Bieten Sie den Tieren Wasser an, etwa auf einem Wattebausch, aber lassen sie sie ruhig einen Tag fasten, das reinigt den Verdauungstrakt.
Das Töten lebender Insekten erfolgt entweder durch kochendes Wasser oder durch Einfrieren. Tiefgekühlt lassen sich die Tiere sehr gut lagern.
Erhitzen Sie die Tiere gründlich durch, etwa durch 5-minütiges Kochen.
Bei Heuschrecken sollten Sie vor der weiteren Verarbeitung erst die Hinterbeine und Flügel entfernen. Die Hinterläufe haben Widerhaken, die sich unangenehm in der Speiseröhre verhaken könnten; die Flügel sind ungefährlich, aber etwas zäh.
Maden, Engerlinge und Raupen sollten vor der weiteren Zubereitung grundsätzlich gegart werden, damit ihr weiches Inneres hart wird und sie nicht beim Braten oder Frittieren platzt. Anschließend können Sie die Tiere trocknen und nach Belieben weiter verarbeiten.
Bon Appetit!