Hindus würden nie ein Rind verspeisen, Juden und Muslime kein Schwein, Christen war über Jahrhunderte das Fleisch von Pferden untersagt.
Die Lange Nacht wird in der ersten Stunde der Frage nachgehen, ob die Tabuisierung dieser drei Haustierarten nur eine göttliche Laune war oder ob sich hinter religiösen Reinheitsgeboten nicht auch rationale, ökologische oder gesellschaftliche Beweggründe verbergen.
Im Mittelpunkt der zweiten Stunde, die sich den kulturellen Nahrungstabus widmet, stehen unter anderem Hund und Katze, die bei uns als Schmusetiere, andernorts als Delikatesse gelten.
Im dritten Teil wird es um die Fragen gehen, warum sich Europäer und Nordamerikaner vor dem Verzehr von Insekten ekeln und ob das Wort von den Schmetterlingen im Bauch bald auch eine ernährungspraktische Bedeutung für uns haben könnte.
Die Webbegleitung zu dieser Sendung ergänzt und fokussiert das Thema der Sendung, bietet einen eigenen Zugangsweg zu dem Thema.
Theorien rund um Nahrungstabus
Unserer Natur nach sind wir Menschen Allesfresser. Abgesehen von Gras, Blättern und einigen anderen organischen Substanzen, die wir nicht vertragen, weil unser Verdauungssystem sie nicht aufschließen kann, steht uns eine breite Palette tierischer und pflanzlicher Nahrung zur Auswahl. Dennoch verschmähen wir in der Praxis viele Dinge, die aus biologischer Sicht bekömmlich wären, weil religiöse Gebote oder gesellschaftliche Konventionen ihren Genuss verbieten.
Kleinkinder können ohne Ekel einen Regenwurm verspeisen. Das Gefühl der Abneigung vor bestimmten Objekten ist ihnen nicht angeboren. Guido Ritter, Ernährungswissenschaftler an der Fachhochschule Münster:
"Die Mutter sagt in den ersten Jahren dem Kind, was es essen kann und was nicht. Wie haben eine starke Neophobie, wir wollen auf keinen Fall etwas Neues ausprobieren."
Über Prof. Dr. Guido Ritter
Guido Ritter ist Ernährungswissenschaftler an der Fachhochschule Münster.
Bis 1990 ließ er sich zunächst zum staatlich geprüften Lebensmittelchemiker ausbilden, bevor er dann im Fachbereich Ernährungs- und Haushaltswissenschaften der Justus-Liebig-Universität Giessen promovierte. Seit 2000 ist er Professor an der Fachhochschule Münster.
Nahrungstabus gibt es bei allen Völkern und Kulturen. Fast immer betreffen sie Tiere. Doch abgesehen von dieser Gemeinsamkeit sind sie so vielgestaltig, dass es unmöglich scheint, sie alle aus einer Theorie zu begründen:
Der jüdische Philosoph Philon von Alexandria vertrat im 1. Jahrhundert die Ansicht, dass Moses den Hebräern aus pädagogischen Gründen bestimmte Speisen verboten habe.
Viele zeitgenössische Ethnologen sind der Meinung, dass Speisetabus vor allem eine symbolische Bedeutung haben. Schon der französische Soziologe Emile Durkheim hat auf die gemeinschaftsstiftende Funktion der jüdischen Speisegebote hingewiesen, die großen Anteil an der Aufrechterhaltung einer "jüdischen Identität" in der Diaspora hatten.
Die symbolische Bedeutung betont auch der strukturalistische Ansatz. Von seinem Begründer, dem Ethnologen Claude Lévi-Strauss, stammt das berühmte Bonmot, ein Nahrungsmittel müsse nicht nur gut zu essen, sondern auch gut zu denken sein.
In einem verwandten Sinne glaubte Mary Douglas, erlaubte Nahrungsmittel müssten immer der gedachten Ordnung entsprechen. Die britische Anthropologin illustrierte ihre These am Beispiel der mosaischen Speisegebote "Du sollst nicht essen, was dem Herrn ein Gräuel ist". Reine Tiere, die im Wasser leben, sollten demnach Flossen und Schuppen haben, und nicht – wie der Aal – an Schlangen erinnern.
Im Unterschied dazu führt der evolutionspsychologische Ansatz die Speisetabus auf einen archaischen Ekel zurück, der unseren frühen Vorfahren die Nahrungssuche erleichtert haben soll.
Wenn man allerdings davon ausgeht, dass menschliche Lebens- und Kulturformen nicht zufällig entstehen, sondern wie alle Erscheinungen einen zureichenden Grund haben müssen, müsste es möglich sein, auch hinter Speisetabus plausible Motive zu entdecken – das jedenfalls ist die Grundannahme des kulturmaterialistischen Ansatzes. Dessen prominentester Vertreter, der Anthropologe Marvin Harris, vertritt die Ansicht, dass Nahrungstabus meist aus dem gesellschaftlichen Versuch resultieren, sich mit den naturräumlichen Bedingungen einer Region zu arrangieren.
Das christliche Pferde-Tabu
Trailer zu "Buck - der wahre Pferdeflüsterer" bei Youtube:
Bei vielen Völkern genoss das Pferd eine Wertschätzung wie kein anderes Tier. Es war Statussymbol, Arbeitskraft, aber auch Freund und Gefährte. Die erste Weltreligion, die Pferdefleisch tabuisierte, war das Judentum. Muslimen ist Pferdefleisch nicht ausdrücklich verboten, dennoch werden die Tiere nicht als Schlachtvieh angesehen. Den Christen wurde der Verzehr von Pferdefleisch im 8. Jahrhundert durch ein päpstliches Dekret untersagt.
Als Papst Gregor III. im Jahre 732 allen Gläubigen den Verzehr von Pferdefleisch verbot, sprach er das einzige explizite Nahrungstabu in der Geschichte des Christentums aus. Ernährungspraktisch hatte das Machtwort kaum Konsequenzen. Das Pferd war viel zu kostbar, um als Schlachtvieh eine große Rolle zu spielen. Und doch hatte der Heilige Vater gute Gründe für seinen Erlass.
Erstens hatten die Mauren mit ihren berittenen Heeren 711 Spanien erobert. Ihr Vormarsch war erst kurz vor dem päpstlichen Verbot durch Karl Martell in der Schlacht von Tours gestoppt worden – dank seiner Reiterei. Die Pferde waren also für die Verteidigung des christlichen Abendlandes viel zu wertvoll, als dass man auch nur eines hätte schlachten dürfen.
Noch wichtiger war ein anderer Grund: Das Pferdefleischtabu richtete sich auch gegen den nordischen Brauch, heidnischen Göttern Rösser zu opfern, die in heiligen Hainen gehalten und nach ihrer rituellen Tötung verspeist wurden.
Die hinduistische heilige Kuh
Drei Inderinnen in traditionellen Saris laufen auf einer Straße in Bangalore an einer Heiligen Kuh vorbei.© picture alliance / dpa
Die Verehrung, die die Hindus den Heiligen Kühen angedeihen lassen, erscheint auf den ersten Blick verwunderlich. Der Ursprung: Um die Wende zum ersten vorchristlichen Jahrtausend setzten in der indoarischen Gesellschaft grundlegende Veränderungen ein. Die bedeutendste Neuerung war der Übergang zu einer sesshaften Lebensweise. Mit Maßnahmen zur Bewässerung und ausgedehnten Rodungen begann die Urbarmachung des Ganges-Tals. Das Handwerk differenzierte sich, aus den vier Ständen gingen zahlreiche Kasten hervor.
An die Spitze der Gesellschaft setzen sich die Brahmanen. Die Ritualisierung der Religion führte zu einer enormen Steigerung ihrer Macht. Über Jahrhunderte blieb die Stellung der Brahmanen unangefochten. Doch die Zeiten änderten sich. Die Ernährungslage im 6. Jahrhundert v. Chr. verschlechterte sich: Das Volk konkurrierte mit dem Vieh der Oberschicht zunehmend um Acker- und Weideland. Als der schwelende Streit um die Verteilung knapper Ressourcen einen Höhepunkt erreichte, begründete Siddhartha Gautama um 530 v. Chr. im Norden Indiens den Buddhismus, der das Schlachten von Tieren generell verbot – und der in kürzester Zeit sehr viele Anhänger fand.
Unter den brahmanischen Priestern setzte sich die Einsicht durch, dass die in den heiligen Schriften geschilderten Opfer über Jahrhunderte falsch gedeutet worden wären. In Wirklichkeit, so hieß es nun, seien die Opfer nur symbolisch zu verstehen, denn tatsächlich hätten die Götter niemals Fleisch gegessen, im Gegenteil. Die Priester distanzierten sich von den Tieropfern und adaptierten das buddhistische Tötungsverbot.
Bis heute durchstreifen Millionen Zebus die indischen Städte und das Land. Indien beherbergt aber auch 1,3 Milliarden Menschen. Ein Großteil von ihnen leidet noch immer unter Armut, fast ein Viertel unter chronischem Hunger. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass die Heiligung des Rindes gerade unter den Gesichtspunkten der Ernährungssicherheit eine kluge Entscheidung war. Mahatma Gandhi wusste das, als er sagte:
"Warum es die Kuh war, die der Vergöttlichung teilhaftig wurde, liegt für mich auf der Hand. Die Kuh war in Indien der treueste Gefährte des Menschen. Sie spendete Fülle. Nicht nur gab sie Milch, sie machte überhaupt erst den Ackerbau möglich."
Entgegen dem ersten Augenschein zeugt das massenhafte Vorkommen der heiligen Kühe keineswegs von Verschwendung, weil die Tiere in keiner Nahrungskonkurrenz zum Menschen stehen. Da sich viele Kleinbauern bis heute keine Traktoren leisten können, sind die Rinder auf dem Land als Zug- und Nutztiere unentbehrlich. Das Nahrungstabu bewahrt die Bauern davor, ihre Zebus in Notzeiten zu schlachten. Auch wenn sie deshalb kurz- oder mittelfristig darben müssen, sichert ihnen das Verbot die Chance auf einen Neubeginn, und damit langfristig das Überleben.
Das religiöse Verbot des Schweins
Ein Ferkel: Scheine sind als Speise in verschiedenen Religionen verboten.© picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert
Kaum ein Tier wurde je mit einem so starken Tabu belegt wie das Schwein, das unter anderem bei den Moslems, Hindus, Sikhs und Juden streng verboten ist. Dieses Nahrungstabu erscheint besonders rätselhaft, denn auf den ersten Blick ist das Schwein ein perfektes Schlachttier: Es ist fortpflanzungsfreudig, wandelt seine Nahrung relativ gut in Fleisch um, außerdem ist sein Fleisch von tadellosem Geschmack.
Die erste Weltreligion, die das Schweineverbot in den Rang eines Gebots erhob, war das Judentum. Aber erfunden haben die Israeliten die Verachtung des Schweins nicht. Vielmehr hatten sie diese bereits in ihrem kulturellen Gepäck, als sie zur Landnahme aufbrachen und Moses die Gesetze empfing. Es heißt in den Speisegesetzen:
"Allerart Tier hufbehuft, spaltdurchspalten zu zwei Hufen, und Gekäuaufholendes unter dem Getier, das dürft ihr essen."
Haustierarten, auf die diese Beschreibung zutrifft, sind Rind, Schaf und Ziege. Sie lieferten den Bewohnern seit Jahrtausenden Fleisch, Milch, Wolle, Leder und Dung. Darüber hinaus zeichneten sie sich durch das entscheidende Charakteristikum aus, dass sie als Wiederkäuer in der Lage waren, eine für Menschen unverdauliche Pflanzenkost aufzuschließen. Diese Fähigkeit war deshalb von so großer Bedeutung, weil sich die Region dramatisch verändert hatte.
Der Grund für den Rückgang der Schweine war die großflächige Abholzung der Wälder. Denn mit der Herausbildung der frühen Hochkulturen bestand eine starke Nachfrage nach Holz. Die Beschränkung auf Rind, Schaf und Ziege sicherte den Israeliten dennoch die Versorgung mit Fleisch und Milch, ohne das Getreide und andere Früchte des Ackerbaus mit ihrem Vieh teilen zu müssen. Und wie zur Bekräftigung der negativen Kosten-Nutzen-Bilanz wurde aus dem unnützen bald schon ein schädliches Tier.
Der Prophet Mohammed untersagte allen Muslimen den Genuss von Schweinefleisch und den Kontakt mit Produkten, die aus ihrem Fett oder Leder gewonnen wurden. Über die Ursachen des Schweinefleischtabus wurden viele Spekulationen angestellt. Im 12. Jahrhundert meinte Maimonides, einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters, Gott habe den Gläubigen das Schwein verboten, weil es ungesund und unsauber sei:
"Das Schwein hat mehr Feuchtigkeit als angemessen ist, und viele untaugliche und überflüssige Bestandteile. Hauptsächlich aber verabscheut es das Gesetz wegen seiner großen Unreinlichkeit und weil es sich von abscheulichen Dingen ernährt."
Theorien über die medizinischen Hintergründe des Schweinefleischverbots kursieren noch heute, sind aber wenig überzeugend.
Kulturelle Nahrungstabus: Hunde, Katzen & Co.
Ein Hund auf einem südchinesichen Markt - mit ungewisser Zukunft© dpa / Imagechina / Cdsb
Wir Europäer unterhalten zu Hunden eine überaus enge, emotionale Beziehung. Für uns ist der Hund vor allem ein treuer Gefährte, der schon unsere frühesten Vorfahren als Jagd- und Hütehund, Freund und Beschützer begleitete. Nur selten wurden die Tiere in unseren Breiten als Fleischlieferant genutzt.
Tatsächlich pflegen die Menschen in anderen Weltteilen ein pragmatischeres Verhältnis zu ihren Vierbeinern. Die Vorliebe für Hundefleisch auf den Inseln Polynesiens und Melanesiens war zweifellos dem Umstand geschuldet, dass es dort, wie auf den meisten ozeanischen Inseln, weder Rind, Schaf und Ziege noch größere Wildtiere gab. In China wurden Hunde schon in der Jungsteinzeit verzehrt. Zur Zeit des Konfuzius, um 500 v. Chr., entstand ein Handbuch mit Hunderezepten für zeremonielle Anlässe. Wie in anderen asiatischen Kulturen galt Hundefleisch nicht nur als Leckerei. Man glaubte, es sei gut für das Yang, den extrovertierten Teil der menschlichen Natur, und es würde das Blut "wärmen" – deshalb wurde es vor allem im Winter verzehrt.
Auch beim Verhältnis verschiedener Kulturen zum Hundefleischverzehr lassen sich Muster erkennen, die auf eine solche Kosten-Nutzen-Analyse deuten.
In Kulturkreisen, die entweder über eine Fülle von Jagdwild oder über domestizierte Wiederkäuer wie Rind, Schaf und Ziege verfügten, wurden Hunde immer nur in sehr begrenztem Umfang oder gar nicht verspeist. Überall dort hingegen, wo beide Voraussetzungen nicht erfüllt waren, und in denen deshalb ein Mangel an tierischen Nahrungsquellen herrschte, ging es den Hunden in der Regel ans Fell.
Katzen werden hierzulande sehr geschätzt - und an anderen Orten gedünstet oder gekocht.© picture alliance / dpa / dpaweb / Frank Rumpenhorst
Unser Widerwille gegen den Verzehr von Hauskatzen reicht zurück bis in die Frühzeit ihrer Domestikation. Es gibt kaum historische Hinweise darauf, dass Katzen je von einer Kultur als Nahrungsmittel im engeren Sinne angesehen wurden, obwohl sie sowohl in Südamerika als auch in Asien gelegentlich auf dem Esstisch landen. Auch in Europa sind solche Fälle belegt, aber nur in akuten Hungerzeiten. Eigens zum Zweck der Fleischproduktion gezüchtet wurden Katzen nie, im Judentum und Islam sind sie durch ein strenges Speisetabu geschützt.
Im Unterschied zu Hund und Schwein ist die Katze ein Fleischfresser. Von keiner bekannten Kultur wurden je Beutegreifer in größerem Maßstab als Proteinlieferanten gezüchtet, weil das ökonomisch unsinnig ist. Wenn man Scharen von Mäusen aufziehen müsste, nur um eine Katze zu mästen, wäre das ungefähr so, als würde man eine Schweineherde opfern, um einen einzigen Löwen großzuziehen – pure Verschwendung.
Ein zweiter Grund waren ihre großen Qualitäten als Jäger. Durch die Dezimierung von Mäusen und Ratten, zwei gravierenden Nahrungsschädlingen, war die Katze unseren Vorfahren über Jahrtausende so nützlich, dass sie nie primär als Fleischlieferant, sondern als Freund und dienlicher Helfer angesehen wurde.
In Südostasien, namentlich in Teilen Chinas, Koreas und Vietnams, ist das anders. Nicht zuletzt aufgrund der natürlichen Vorkommen verschiedener Raubkatzen hat der Verzehr von Katzenfleisch in dieser Region Tradition. Seit den 1990er-Jahren hat der Verzehr sogar zugenommen, weil das Fleisch als wirksames Mittel gegen alle möglichen Gebrechen gilt und weil mit wachsender Kaufkraft auch die Nachfrage gestiegen ist. In Südkorea wird Katzenfleisch bis heute als Heilmittel gegen Übelkeit empfohlen, in Vietnam glaubt man, es würde Asthma lindern. Überdies werden dort eingelegte Katzengallen als Potenzmittel gehandelt.
Meerschweinchen gelten beispielsweise in Peru als Delikatesse.© picture alliance / Horst Ossinger
Das Meerschweinchen steht mancherorts seit Jahrtausenden auf dem Speiseplan, während es bei uns nach seiner Einführung so sehr in die soziale Rolle des süßen, kleinen, kuscheligen Schmusetiers hineingewachsen ist, dass sein Verzehr mehr oder minder ausgeschlossen ist.
Domestiziert wurde das Meerschweinchen vor 5000 Jahren in Peru. Dass sich die altindianischen Kulturen die Mühe machten, das wenige hundert Gramm leichte Tierchen zu züchten, hatte einen simplen Grund: Es gab im peruanischen Hochland außer dem Lama keinen anderen Domestikationskandidaten. Es diente der Fleisch- und Fellgewinnung, hatte aber auch kultische Bedeutung. In Ländern wie Bolivien, Ecuador, Chile oder Kolumbien werden Meerschweinchen bis heute oft und gerne verspeist. Vor allem in Peru sind die "Cuy" eine Art Nationalgericht. Allein dort sollen pro Jahr etwa 60 Millionen der Nager in Pfannen und auf Grillspießen enden.
Eine Blaumeise: Vor noch nicht allzu langer Zeit wurde sie als Thürigener Meisensuppe auch hierzulande verspeist.© picture alliance / dpa / Patrick Pleul
Den Schutz eines ebenfalls jungen Tabus genießen bei uns die Singvögel. Dass unsere gefiederten Freunde in Teilen Südeuropas noch immer gejagt und verspeist werden, stößt nördlich der Alpen auf Empörung. Doch auch wenn die Mitteleuropäer den Vogelfang heute weit von sich weisen: Bis vor gut hundert Jahren waren Sing- und Gartenvögel ein selbstverständlicher Bestandteil unserer Küche. Alte Kochbücher sind voller Rezepturen für Thüringer Meisensuppe, Leipziger Lerchen, Helgoländer Drosselsuppe oder "Krammetsvögel", wie man die Wacholderdrosseln früher nannte.
Ausschlagend für den Statuswandel unserer heimischen Vögel war ebenfalls eine Art Kosten-Nutzen-Analyse. Allerdings wurde sie im Unterschied zu anderen Speisetabus bewusst durchgeführt. Zu den ersten Anwälten der Vögel zählten Naturfreunde und Forstwissenschaftler, die ihre Mitbürger eindringlich auf die förderlichen Eigenschaften der Tiere aufmerksam machte. Johann Friedrich Naumann, der bedeutendste Ornithologe seiner Epoche und Verfasser der zwölfbändigen "Naturgeschichte der Vögel in Deutschland", notierte 1824 zur Blaumeise:
"Ihr Fleisch ist eine angenehme Speise; allein sie werden uns durch Vertilgung einer ungeheuren Menge von schädlichen Insekten so außerordentlich wohlthätig, dass es sündlich ist, um eines so kleinen wohlschmeckenden Bissens willen, ein so nützliches Vogelleben zu tödten."
Begünstigt wurde der Trend zum Vogelschutz durch gesellschaftliche Veränderungen. Technische Innovationen in der Landwirtschaft und der Einsatz von Düngemitteln führten dazu, dass sich die Fleischversorgung im Laufe des 19. Jahrhundert stark verbesserte. Der Vogelfang verlor dadurch ernährungspraktisch und ökonomisch an Bedeutung. Hinzu kam ein mentalitätsgeschichtlicher Wandel. Das Bürgertum legte Wert darauf, sich sowohl vom Adel als auch vom ungebildeten Volk zu distanzieren. Die dekadenten Aristokraten hatten Vögel allein zum Zeitvertreib gejagt, das Bauernvolk hatte den lieblichen Geschöpfen um eines Bissens willen den Hals umgedreht. Mit beiden Gruppen mochten sich die kultivierten Bürgersleute nicht gemein machen.
Was Angehörige unseres Kulturkreises am meisten vom Verzehr von Singvögeln und Meerschweinchen abhält, ist neben ihrer emotionalen Aufladung ihre Kreatürlichkeit als solche. Die zierlichen Gliedmaßen machen es gänzlich unmöglich, die Gewalt, die den kleinen Lebewesen angetan wurde, nur eine Sekunde auszublenden.
Entfremdung von tierischer Nahrung
Inbegriff der Tabuisierung des Tötens und der "Invisibilisierung" des lebendigen Tieres ist das Chicken Nugget, das vor etwa 30 Jahren erfunden wurde und in kurzer Frist die ganze Welt erobert hat. Selbst in den USA, einer alten Hochburg der Rindfleischesser, hat es inzwischen Burger und Beefsteak den Rang abgelaufen.
In der Tabuisierung des lebendigen Ursprungs unserer Fleischprodukte drückt sich, wenn man so will, eine Art Mitleid aus. Aber es ist ein infantiles Mitleid, wie wenn Kinder ihre Augen zukneifen. Ein Mitleid, das keineswegs zu einer Reduzierung des Tierleids führt, im Gegenteil. Im Schutz des Tötungstabus wurde die Fleischerzeugung in den letzten Jahrzehnten in einer Art und Weise intensiviert, die aus ökologischen und ethischen Gründen mehr als bedenklich ist.
Wir essen Schweine, die so schnell wachsen, dass ihre Gelenke und Knochen das Gewicht nicht mehr tragen und Puten, die am Ende der Mastzeit kaum noch laufen können.
Auf alten Bauernhöfen war es selbstverständlich, dass das Tier, welches getötet wurde, vom Kopf bis zum Schwanz verzehrt wurde – was ökonomisch und nach Ansicht von Kennern durchaus auch kulinarisch vernünftig ist.
Der Ekel vor den Insekten
Spinnennetz: Ihre Beine sollen recht knusprig schmecken - viele Menschen fürchten sich aber regelrecht vor diesen Insekten.© picture alliance / dpa - Ralf Hirschberger
Ein letztes großes Rätsel unter den Nahrungstabus ist der ausgeprägte Ekel, den Angehörige des westlichen Kulturkreises vor dem Verzehr von Insekten empfinden. Wenn Menschen Insekten essen, so nennt sich das
Entomophagie. In fast allen nordatlantischen Ländern ist das aber stark tabuisiert und mit Ekelgefühlen behaftet. In weiten Gebieten Süd- und Ostasiens, in Australien und Ozeanien, in fast allen afrikanischen Kulturen, in Mexiko und Teilen Südamerikas ist sie dagegen ebenso verbreitet wie selbstverständlich.
Marcus Langsdorf: "Die Heuschrecke schmeckt nussig, weil sie gefriergetrocknet ist, kann man sich das vorstellen, wie beim Fertiggericht, da sind die Erbsen auch immer leicht, fassen sich an wie Styropor."
Marcus Langsdorf ist Küchenchef der Restaurantkette Mongo's, die in ihren neun Filialen zwischen Hamburg und München auch verschiedene Insektengerichte auf der Speisekarte hat.
"Die Made, die Mehlwürmer, die sind halt wesentlich kleiner. Knapper Zentimeter groß, bananenförmig, in Segmenten unterteilt, ringförmig, wie man sich so eine Made eben vorstellt. Die schmecken auch wunderbar nussig, ein bisschen saftiger, etwas anders im Geschmack. Sind vom Ekelfaktor etwas geringer, da es kleinere Tiere sind."
Nach den Angaben der Welternährungsorganisation FAO werden weltweit rund 1700 Arten von Insekten konsumiert, und zwar in allen Entwicklungsstadien von den Eiern, Maden, Raupen und Puppen bis zu den adulten Tieren.
Dabei hat Insektenverzehr in der abendländischen Welt durchaus Tradition – auch, wenn sie fast vergessen ist. Tatsache ist, dass sich die Entomophagie in Europa von der Steinzeit bis in die griechische und römische Antike nachweisen lässt. Johannes der Täufer überlebte in der Wüste nur, weil er Heuschrecken aß. Aristoteles, einer der Begründer der abendländischen Philosophie, empfahl, weibliche Zikaden nach der Befruchtung zu essen, weil sie dann besonders schmackhaft seien.
Nach dem evolutionsbiologischen Erklärungsmodell ist Ekel ein Mechanismus, der entstand, um die Menschen vor der Berührung mit Dingen zu schützen, die sie krank machen könnten. Die Erklärung klingt plausibel. Außerdem macht sie verständlich, warum Ekel durch physischen Kontakt auf andere Objekte überspringt: Wir ekeln uns beispielsweise vor einer Pizza, über die eine Kakerlake gelaufen ist. Ein weiteres Argument für den evolutionsbiologischen Ansatz ist, dass einige Auslöser von Ekel weltweit identisch sind: Alle bekannten Kulturen ekeln sich vor Kot, Leichen und Eiter.
Dennoch lässt diese Erklärung einige wichtige offene Fragen. Sie liefert zum Beispiel keinen plausiblen Grund, warum Kleinkinder kein Ekelempfinden haben. Zweijährige haben keinerlei Bedenken, einen Käfer zu verspeisen; erst als Drei- oder Vierjährige werden sie sich davor ekeln. Überdies ist, wie der Umgang mit Insekten in verschiedenen Kulturen zeigt, offenkundig, dass es im globalen Ekelempfinden erhebliche Differenzen gibt.
Bei allen Nahrungsmitteln, die gejagt, gesammelt oder angebaut werden, müssen Aufwand und Ertrag in einem vertretbaren Verhältnis stehen. Das gilt auch für Insekten. Bei der Frage, ob eine Kultur die Kerbtiere in ihren Speiseplan aufnimmt oder nicht, spielt die Abwägung, ob sich die Mühe des Beschaffens in einer entsprechenden Menge von Nahrungskalorien auszahlt, eine entscheidende Rolle. Dass Insekten in Europa nie den Rang eines Nahrungsmittels erwerben konnten, hat mehrerlei Gründe. Einer davon ist der, dass sie wechselwarme Tiere sind und uns deshalb nur saisonal zur Verfügung stehen.
Heuschrecken sind mancherorts ganz normaler Bestandteil der Nahrung.© Deutschlandradio / Ellen Wilke
Überall dort aber, wo sie sich durch eine gewisse Körpergröße auszeichnen oder in gewaltigen Schwärmen leben, steigen sie tendenziell in den Rang eines Nahrungsmittels auf. Nehmen wir als Beispiel die Wüstenheuschrecke. Sie ist relativ groß und bildet gigantische, viele Millionen Individuen umfassende Schwärme. Sie ist in Dutzenden Ländern von Westafrika bis Pakistan zu finden und wird in ihrem gesamten Verbreitungsgebiet gegessen. Die Tiere werden zu Tausenden gefangen und anschließend gebraten, geröstet, frittiert, zu einer Paste gestampft oder in Salzwasser gekocht und getrocknet.
Bezeichnenderweise haben alle Weltreligionen der Region den Verzehr von Heuschrecken toleriert. Im Islam und im Judentum werden sie ausdrücklich vom generellen Insektentabu ausgenommen. Dazu der US-amerikanische Anthropologe Marvin Harris:
"Angesichts der Zerstörung, die die Heuschrecken im Bereich der pflanzlichen und der tierischen Nahrungsquellen anrichten, bleibt den davon Betroffenen gar nichts anderes übrig, als ihren Speiseplan zu erweitern und die Verzehrer zu verzehren."
Betrachtet man die weltweite Verbreitung des Insektenverzehrs ergibt sich folgende Faustregel: Wenn eine Region relativ arm an essbaren Wirbeltieren ist, sie aber über große oder schwarm bildende Insekten verfügt, werden sie bei den Bewohnern mit großer Wahrscheinlichkeit auf dem Speiseplan stehen.
Schon mal einen Maikäfer gekostet? Im 19. Jahrhundert hat das auch in Deutschland ein Wissenschaftler empfohlen.© dpa / picture alliance / Patrick Pleul
Kulturelle Nahrungstabus sind flexibel. Wenn einzelne Arten durch massenhaftes Auftreten zur Plage werden, kann es passieren, dass sie auch in Gesellschaften, die den Insektenverzehr grundsätzlich meiden, auf den Speiseplan geraten. So erging es dem Maikäfer in Mitteleuropa, weil er als schlimmer land- und forstwirtschaftlicher Schädling galt und in manchen Jahren in gewaltigen Scharen auftrat. Viele Chroniken berichten von Schäden, die die Tiere noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert anrichteten.
Die Tiere vermehrten sich mitunter so zahlreich, dass Privatleute und Behörden Prämien für das Einsammeln der Käfer und Larven aussetzten. Gegessen wurden die Tiere auch. Schon in einem Basler Kochbuch aus dem Mittelalter findet sich ein Rezept für Maikäfer-Suppe. In einigen Teilen Deutschlands, Frankreichs oder Luxemburgs wurden sie in die Regionalküche aufgenommen.
Im Geiste der Aufklärung gab es vor allem im 19. Jahrhundert wiederholt Versuche, das Insektentabu zu überwinden. So stießen die Leser des "Magazins für die Staatsarzneikunde" im Jahre 1844 auf folgenden Kommentar des Medizinalrats Dr. Johann Schneider:
"Ist die Bouillon auch schlecht, so wird sie doch durch die Kraft der Maikäfer vorzüglich. Nur Vorurtheil konnte dieses feine und treffliche Nahrungsmittel, namentlich für entkräftete Kranke, diesen entziehen, und ist das Vorurtheil dagegen einmal besiegt, so wäre diese Suppe eine gute Acquisition für Hospitäler und Kasernen, wo sie, auch ohne Bouillon, mit Wasser bereitet, herrliche Dienste thun wird."
Dass sich die Maikäfer-Terrine nur regional und für begrenzte Zeit etablieren konnte, hatte im Wesentlichen zwei Gründe. Zum einen war der Ekel vor dem Verzehr von Insekten in Mitteleuropa soziokulturell schon sehr stark verankert. Überdies wurden die Maikäfer im 20. Jahrhundert durch Insektizide so dezimiert, dass sie aus der Liste der potenziellen Nahrungsmittel schneller verschwanden, als sich die Deutschen an das "feine und treffliche Nahrungsmittel" hatten gewöhnen können.
Ein Plädoyer für die Insekten als Speise
Larven enthalten wertvolles Protein und Öle: Warum nicht auch mal essen?© imago
Noch gehören wir zur globalen Minderheit der Insektenverächter. Doch viele Experten sind angesichts des globalen Bevölkerungswachstums der Überzeugung, dass sich das dringend ändern muss. Die Welternährungsorganisation FAO hat das Potenzial erkannt und macht sich seit Jahren für den Verzehr von Insekten stark. Die Effizienz der Sechsbeiner als alternativer Proteinquelle könne man nicht mehr ignorieren, äußerte ein FAO-Mitarbeiter.
Der Anteil an Nährstoffen variiert zwar nach Art und dem Entwicklungsstadium der Tiere, aber in der Summe sind sie zweifellos ein hochwertiges Nahrungsmittel. Auch geschmacklich gibt es wenig an ihnen auszusetzen. Der britische Naturforscher W. S. Bristowe, der Anfang der 1930er-Jahre Südostasien bereiste, notierte über seine kulinarischen Erfahrungen mit Insekten und Spinnen:
"[Ich fand] nichts davon unangenehm, manches ganz schmackhaft, vor allem die Riesenwasserwanze. Zum größten Teil schmeckten sie fad, mit einem leichten Anklang an Gemüse; aber würde nicht jeder, der zum Beispiel zum ersten Mal Brot probiert, sich darüber wundern, warum wir eine so geschmacklose Nahrung essen? Ein Mistkäfer oder der weiche Körper einer Spinne haben, wenn geröstet, ein knuspriges Äußeres und ein weiches Inneres von der Konsistenz eines Soufflé, das keineswegs unangenehm ist. Gewöhnlich kommt Salz daran, manchmal werden Chili oder die Blätter von wohlriechenden Kräutern zugefügt, und verschiedentlich werden sie mit Reis gegessen oder mit Soßen oder Curry gereicht."
Ein wichtiges Argument für den Insektenverzehr ist seine ausgezeichnete Ökobilanz. Eine vom FAO-Programm "Essbare Insekten"
2013 publizierte Studie zur Frage der Welternährung kommt zu eindeutigen Ergebnissen: Unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit ist die Insektenzucht der konventionellen Viehmast weit überlegen.
Ein weiterer Vorteil ist der geringere Flächenverbrauch. Der Fleischkonsum verursacht schon heute gravierende Schäden. Der Anbau von Futterpflanzen hat viele Ökosysteme irreversibel geschädigt, die Weidegebiete südamerikanischer Rinderherden werden seit Jahrzehnten auf Kosten natürlicher Landschaften ausgedehnt. Nach FAO-Angaben nimmt die Viehhaltung mehr als zwei Drittel der globalen landwirtschaftlichen Nutzflächen in Anspruch, überdies strapaziert die Bewässerung von Weideland und Futterpflanzen die kostbaren Wasserressourcen. Auch die enorme Menge an Treibhausgasen, die bei der Massentierhaltung entsteht, könnte durch die Aufzucht von Insekten drastisch verringert werden.
Stellt sich die Frage, wie man westlich sozialisierten Zeitgenossen die Insektenkost schmackhaft machen könnte. Unmöglich scheint das nicht. In den letzten Jahrzehnten hat unsere Gesellschaft einige Geschmacksrevolutionen erlebt. Das Verspeisen von rohem Fisch galt vor wenigen Jahrzehnten noch als geradezu barbarisch – heute sind Sushis aus dem gastronomischen Angebot unserer Städte kaum noch wegzudenken.
Produktion dieser Langen Nacht:
Autoren: Kai Lückemeier und Jan Tengeler, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Regie:, Sprecher, Webproduktion: Jörg Stroisch
Über die Autoren:
Jan Tengeler arbeitet als Journalist und Musiker in Köln. Er studierte Germanistik, Philosophie und Soziologie in Köln und wurde als Musiker in Klavier, Kontrabass und Jazzbass ausgebildet. Als Radiojournalist befasst er sich hauptsächlich mit musikalischen Themen.
Kai Lückemeier hat nach seinem Studium der Sozialpädagogik und später Philosophie, Soziologie und Religionswissenschaften in Berlin zum Thema "Geschichte der öffentlichen Meinung im 19. Jahrhundert" promoviert. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Verfasser von Hörfunkfeatures, Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträgen.