Horváths Stück "Geschichten aus dem Wienerwald", geschrieben Ende der 20er-Jahre in einer Zeit katastrophaler Arbeitslosigkeit und der Weltwirtschaftskrise, ist ein Schlüsselwerk des modernen Dramas. Horváth demaskiert hier das Klischee von der verlogenen Wiener Gemütlichkeit lakonisch und auf brutale Weise.
Ödön von Horváth, Sohn eines österreichisch-ungarischen Diplomaten, wurde am 9. Dezember 1901 in Sušak (italienisch: Fiume) an der Adria geboren. Sein Interesse für die Kunst, insbesondere für die schöne Literatur, regte sich relativ spät. Ab den 20er-Jahren lebte der zutiefst abergläubische Horváth abwechselnd in Berlin, Salzburg und bei seinen Eltern im oberbayrischen Murnau am Staffelsee, wo er sich intensiv der Schriftstellerei widmete.
Doch dem Autor der Theaterstücke wie "Jugend ohne Gott", "Glaube Liebe Hoffnung" und "Kasimir und Karoline" sollte kein langes Leben beschert sein. Nachdem er als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus 1936 aus Deutschland verwiesen worden war, verließ er das Land und erreichte Ende Mai 1938 Paris.
Wenige Tage später, am 1. Juni, traf er den deutschen Filmregisseur Robert Siodmak, um mit ihm über die Verfilmung des Romans "Jugend ohne Gott" zu sprechen. Noch am selben Abend wurde Horváth während eines Gewitters auf dem Heimweg auf dem Pariser Boulevard Champs-Élysées von einem herabstürzenden Ast erschlagen.
Eine Lange Nacht über einen Poeten, der sich selbst als eine typisch österreichisch-ungarische Angelegenheit sah.
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Erste schriftstellerische Arbeiten
"Ich war natürlich ziemlich verdutzt, weil ich es mir gar nicht vorstellen konnte, wieso er mit diesem Anliegen ausgerechnet an mich herantritt – ich war doch gar kein Schriftsteller und hatte noch nie in meinem Leben irgendetwas geschrieben. Er muss mich verwechseln, dachte ich mir – und ursprünglich wollte ich ihn auch aufklären. Dann aber durchzuckte mich blitzschnell (wie man so sagt) der Gedanke, warum sollst Du es denn nicht einmal probieren, eine Pantomime zu schreiben? Ich sagte Kallenberg: Ja – setzte mich hin und schrieb die Pantomime."
Das Werk, das 1922 in einer "vom Dichter handsignierten Vorzugausgabe von 500 Stück" erscheint, handelt von einer "tänzerischen" Reise in die Welt des Orients. Das Ergebnis ist eine musikalische Komposition mit opulenter Orchestrierung, dessen Uraufführung am 7. Januar 1922 in München im Rahmen des "Ersten Abends des Kallenberg-Vereins" stattfindet. Die Aufführung erntet in der "München-Augsburger Abendzeitung" eine herbe Kritik:
"Dass aber Kallenberg als Komponist einen Ödön von Horvath ins Schlepptau nehmen konnte, dass sich für dessen "Poeterei" sogar ein hiesiger angesehener Verlag fand, dürfte wohl bei allen Leuten, die noch einigermaßen guten Geschmack für Dichtkunst haben, ein Schütteln des Kopfes erregen."
Murnau als Inspirationsort
Murnau war Inspirationsort für von Horváth.© dpa - picture alliance / Markus C. Hurek
Im Sommer 1920 ist Edmund Josef von Horváth mit seiner Frau Maria unterwegs auf Sommerfrische, im Schlepptau ihre beiden Söhne Ödön und Lajos. Sie machen Station in Murnau, einem Ort etwa 70 Kilometer südlich von München gelegen, am Rand der nördlichen Kalkalpen, und nehmen Quartier im Hotel Fröhler in der Bahnhofsstraße 4.
"Murnau ist ein kleiner Ort gewesen zu Horváth`s Zeiten mit 3.000 Einwohnern, und es ist eine Zeit, wo viel Landflucht passiert - also auch die Künstler des Blauen Reiter gehen aufs Land – man bewegt sich von der Stadt aufs Land. Dazu kommt, dass seit 1879 die Eisenbahn auch bis Murnau fuhr, und jeder, der Murnau kennt, wird verstehen, warum es einem im Murnau gut gefällt: Es hat eine große Tradition, es hat kleine verwinkelte Gassen und Straßen, aber es hat auch eine große Weite: es hat den Blick in die Alpen."
Gabi Rudnicki, Vorsitzende der Ödön-von-Horváth-Gesellschaft, erzählt, wie gut es den Horváths in Murnau gefallen habe. Immerhin so gut, dass sich der Vater entschließt, ein Stück Land zu kaufen, um darauf eine imposante Sommervilla errichten zu lassen. Murnau wird zwischen 1924 und 1933 auch zum Schaffensmittelpunkt von Ödön von Horváth, der in dieser Zeit in der elterlichen Villa in Murnau wohnt. Inspirationsquelle für seine Aufzeichnungen sind ihm die Gespräche von Einheimischen am Wirtshaustisch, die er belauscht und auf vielen kleinen Zetteln festhält.
Über die Ödön-von-Horváth-Gesellschaft:
Die Ödön-von-Horváth-Gesellschaft wurde 2003 in Murnau gegründet und widmet sich dem Gedenken an Horváth und seinem Werk. Sie vergibt regelmäßig einen nach ihm benannten Preis, die zuletzt an den Filmemacher Edgar Reitz sowie an die Münchner Künstlerin Gesche Piening (Förderpreis) gingen.
In einer Reihe von Texten, die Ende der 1920er-Jahre entstehen und in Zeitschriften und Zeitungen des Ullstein-Verlages erscheinen, setzt sich Horváth speziell mit seiner bayerischen Wahlheimat sowie daran angrenzenden Tiroler Ortschaften auseinander.
Murnau dient Horváth, einem begeisterten Bergsteiger, auch als Ausgangspunkt für Touren ins umliegende Bergland. So logiert Ödön von Horváth des Sommers wiederholt für einige Wochen in einem Bauernhaus in Hinterhornbach, einer kleinen Tiroler Gemeinde am Fuß des knapp 2.600 Meter hohen Hochvogels in den Allgäuer Alpen. 1930 erscheint im "Berliner Tagblatt" ein kurzer Prosatext Horváths über Hinterhornbach und seine Bewohner.
"Hinterhornbach, zwölf Häuser und dreiundachtzig Seelen. Und ich muss immer wieder an diese Seelen denken und zwar hintereinander. Jede einzelne Seele tritt vor mich hin und fragt mich: "Erinnerst du dich noch an mich?" "Natürlich, du bist doch der Pfarrer, der den anderen Seelen das Tanzen verbietet, und der erst vorgestern eine weibliche Seele von der Kanzel herab verdonnerte, weil sie mit bloßem Hals auf dem Felde gearbeitet hat" – und nun winkt mir eine alte Seele zu, eine richtige Urgroßmutter, die in der Kirche auf der Hurenbank sitzen muss, weil sie vor 65 Jahren ein außereheliches Kind neben ihren 14 ehelichen bekommen hatte – ihre Enkelkinder haben schon längst kirchlich geheiratet, aber die Ahnfrau muss auf der Schandbank beten. Der Einzige, der nicht beten will, das ist der verzweifelte alte Lehrer, der sich völlig versoffen hat, und dessen Frau Ibsen liest, um den Pfarrer zu ärgern - und jetzt fällt mir ein abgestürzter Tourist aus Geislingen ein, dessen Leichnam in einer Scheune verweste, weil die Hinterhornbacher für die Bestattungskosten nicht aufkommen wollten, und auch an den kleinen Gemeindestier Sebastian muss ich nun denken, dem man heimlich Nähnadeln ins Heu gestreut hatte, um den Bürgermeister zu ärgern. Man weiß es noch heute nicht, wer dies tat, ein jeder meint, der andere sei es gewesen – sie kennen sich nämlich genau, weil sie leidenschaftlich gern spionieren. So hat jedes Haus sein Fernrohr, durch die sie sich schadenfroh gegenseitig in die Häuser zu schauen trachten. Und weil die Hinterhornbacher so boshaft sind, drum haben sie auch ein boshaftes Gespenst, namens Buhz. Der Buhz schleicht sich an die Höfe heran, reißt den Leuten den Hut vom Kopf, zerbricht Brücken, ruiniert das Vieh, verdirbt das Heu, versperrt durch Steine und Stämme die Wege und glaubt auch nicht an den lieben Gott."
Der Text mit dem harmlos wirkenden Titel
"Souvenir de Hinterhornbach" bringt die Stimmung in der Tiroler Gemeinde im hintersten Winkel des Hornbachtals zum Kochen. In einer gemeinsamen Aktion marschieren die aufgebrachten Bewohner zu jenem Bauernhaus, in dem der Autor logiert, und beschmieren es mit frischem Schweinemist.
Im Stück "Italienische Nacht" komprimiert Horváth Erlebnisse und Personen aus Murnau zu einem erschreckenden Szenario: Die Republikaner wollen eine italienische Nacht in einem Gartenlokal feiern, während der geldgierige Wirt das Lokal am selben Abend auch für die Faschisten reserviert hat. Die begehen mit Fahnen, Musik und Kleinkalibern einen deutschen Tag. Unausweichlich kommt es zur Eskalation. Als hätte es Ödön von Horváth geahnt, wird die theatralische Fiktion in Murnau zur blutigen Realität.
Denn dort findet am 1. Februar 1931 im Hotel Kirchmeir eine öffentliche Volksversammlung der SPD statt. Zu dieser Veranstaltung reisen auch zahlreiche Nationalsozialisten an, mit dem erklärten Ziel, die Versammlung sprengen zu wollen. Ödön von Horváth ist Zeuge der Ereignisse und erlebt eine blutige Saalschlacht, bei der sowohl Tische zu Bruch gehen, als auch Stühle und Bierkrüge fliegen.
"Horvath war Zeuge dieser Saalschlacht, bei der es einige Verletzte, einen hohen Sachschaden gab, und es gab dann einen Prozess in dem Horváth als Zeuge aussagte, dass die ersten Bierkrüge von Seiten der Nationalsozialisten geworfen wurden, und sozusagen eindeutig Stellung bezogen hat - da war er nicht der Einzige, das haben auch andere Zeugen so ausgesagt - aber es war natürlich eine Aussage, die ihn zusätzlich zu dem Fokus, in dem ohnehin schon dann stand, noch mal sozusagen mit der roten Karte versehen hat."(Gabi Rudnicki)
Erste Erfolge mit Theaterstücken
Schon in den frühen 20er-Jahren schrieb Ödön von Horváth eine Reihe von Dramen, deren Uraufführungen allerdings erst einige Jahrzehnte später stattfanden. Für große Schlagzeilen sorgte erst vor wenigen Jahren ein weiteres frühes Theaterstück Horváths mit dem aussagekräftigen Titel
"Niemand". Es wurde im Jahr 1924 verfasst, versehen mit allen Stärken und Schwächen eines aufstrebenden 23-jährigen Talents. Fast 100 Jahre blieb das Typoskript verschollen, bis es 2015 bei einer Auktion angeboten und von Wien-Bibliothek erworben wurde.
Zu Lebzeiten erfolgreich war Horváth mit zwei seiner Theaterstücke im Jahr 1929:
"Sladek, der schwarze Reichswehrmann" und
"Die Bergbahn". Letzteres konnte die zu dieser Zeit stark angeschlagene Volksbühne Berlin gerade noch rechtzeitig aus ihrem drohenden künstlerischen Aus hieven. Das "Neue Wiener Journal" schrieb anlässlich der Uraufführung im Januar 1929:
"Wenn es leise und laute Dramatiker gibt, so darf sich der junge Deutschungar Ödön von Horváth rühmen, einer der Lautesten dieses Winters gewesen zu sein. Am Ende aber war er gar nicht an dem Tumult seines Dramas "Die Bergbahn" schuld. Es liegt begründeter Verdacht vor, dass die Regie der Volksbühne diesen Lärm ins Abenteuerliche gesteigert hat, offenbar in der Annahme, dadurch vernehmlicher zum Herzen ihres Publikums zu sprechen. Horváth zeigt, wie Proletarier eine Bergbahn bauen. Sein Herz klopft mit den Arbeitern, mit den armen Schluckern, die ihre schweren Kabelrollen aufwärts schleppen. Es wäre wehleidig, sie zu bemitleiden. Aber ein Dichter hat ihnen zugehört, wie sie feindselig über die künftigen Fahrgäste der noch ungebauten Bahn schelten. Denn eine Bergbahn ist ja kein Verkehrsmittel, dessen sich auch die Armen einmal bedienen. Sie ist von vornherein als ein Luxusgegenstand, als ein Spielzeug für die Launen der Reichen gedacht." ("Neues Wiener Journal", 21. Januar 1929)
Undatierte Aufnahme des Schriftstellers Carl Zuckmayer.© picture-alliance/ dpa / Baege
1931 wurde die
"Italienische Nacht" aufgeführt. Sie bezeichnet die Literaturwissenschaftlerin Nicole Streitler-Kastberger als Erstes wirkliches Volksstück Horváths, das in der Regie von Francesco de Mendelssohn im Theater am Schiffbauerplatz in Berlin uraufgeführt wurde, und sich als erster großer Theatererfolg Horváths entpuppte.
"Er hatte früher mit "Sladek" einen relativ bescheidenen Erfolg, aber mit "Italienischer Nacht" ist ihm eigentlich der Durchbruch gelungen. Er hatte auch das Glück, dass er mit Mendelssohn einen sehr anerkannten, arrivierten Theaterregisseur gefunden hat, der aus seinem Stück auch eine Art Avantgardestück gemacht hat, da sind nämlich darin auch Tänze eingebaut worden, und daher wurde das Stück vor allem in progressiven, linken Kritikerkreisen sehr gelobt und gutgeheißen. Es gab aber auch sehr viel Kritik von rechts natürlich, weil Horváth in diesem Stück eine Auseinandersetzung zwischen Sozialdemokraten und Faschisten darstellt. Faschisten kommen, um es salopp zu sagen, nicht sehr gut weg. Das wurde ihm natürlich von völkischer Seite, von der rechtskonservativen Kritik angekreidet, und man hat ihn einen Tendenzdichter geschimpft und gemeint, dass er die Politik dichtet in seinen Stücken."
Einem, dem die Kritik an den Faschisten in der "Italienischen Nacht" aufgestoßen war, war der Journalist
Rainer Schlösser, der spätere Reichsdramaturg im Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda.
"Ödön Horváth besaß die Frechheit, die Nationalsozialisten anzupöbeln. Seine "Italienische Nacht" zeichnet uns als Feiglinge, die durch ein einziges Schimpfwort seitens seiner Frau in die Flucht gejagt werden können. Wird sich der Ödön noch wundern! Er verquickte übrigens seinen politischen Unrat mit erotischem."
Ende der 20er-Jahre entwickelte sich zwischen Ödön von Horváth und Carl Zuckmayer(http:carl-zuckmayer.de/carl-zuckmayer/biografie.html) eine innig-freundschaftliche Beziehung. Carl Zuckmayer war es auch, der seinen 30-jährigen Freund Horváth für den Kleist-Preis(http:www.kleist.org/index.php/die-kleist-preise/55-kleistpreis-1912-1932/98-kleistpreistraeger-1912-1932) vorschlug, der ihm 1931 verliehen wurde. Wenige Jahre später zählte Horváth zu jener erlauchten Gruppe von Künstlern, die unter dem Namen "Henndorfer Kreis" bekannt war. Das salzburgische Henndorf war seit 1926 der Sommersitz und später temporäres Exil von Carl Zuckmayer, ein Ort, wo sich die Creme-de-la-Creme der deutschsprachigen Kultur häufig ein Stelldichein gab.
"Geschichten aus dem Wiener Wald"
Trailer zu "Geschichten aus dem Wiener Wald" für eine Aufführung am Deutschen Nationaltheater und Staatskappelle Weimar:
Horváths Theaterstück
"Geschichten aus dem Wienerwald" ist wohl sein bekanntestes Werk. Geschrieben Ende der 1920er-Jahre in einer Zeit katastrophaler Arbeitslosigkeit und der Weltwirtschaftskrise, ist es ein Schlüsselwerk des modernen Dramas. Horváth demaskiert hier das Klischee von der verlogenen Wiener Gemütlichkeit lakonisch und auf brutale Weise. 1931, das Jahr der Uraufführung, war für ihn das erfolgreichste Jahr seines künstlerischen Schaffens.
Im Mittelpunkt steht dort die tragische Frauenfigur der Marianne, Tochter eines despotischen Spielwarenhändlers, namens Zauberkönig. Der ihr versprochene Bräutigam wohnt und arbeitet gleich nebenan: der Fleischhauer Oskar. Bei einem großen Familien- und Freundes-Ausflug an die Donau kommt es zum Eklat: Marianne löst ihre Verlobung mit Oskar und gibt sich spontan dem leichtlebigen Alfred hin. Der Vater verstößt daraufhin seine Tochter.
Marianne lebt fortan mit Alfred und ihrem gemeinsamen Kind in sozial völlig heruntergekommenen Verhältnissen und muss sich schließlich als Nackttänzerin in einem Nachtlokal verdingen. Dort trifft der Vater nach einer deftigen Heurigenpartie auf seine Tochter, verzeiht ihr, und überredet sie, wieder nach Hause zur Familie und ihrem ehemaligen Verlobten zurückzukehren. Ihr Kind jedoch ist durch die nachlässige Obsorge von Alfreds Großmutter verstorben.
"Zentral in dem Stück ist natürlich die Marianne, die über viele verschiedene Stufen über eine Agnes, Irene und Anna dann zur Marianne wurde. Und diese Marianne versucht in ihrem Leben eine Rolle für sich zu finden, und Horváth beschreibt das auf wunderbare Art und Weise, wie diese Frau versucht, gegen eine arrangierte Ehe anzukämpfen und das zu tun, was ihrem Inneren – was immer das auch ist – entspricht, ihren Empfindungen, ihren Gefühlen, und versucht aus dem Konstrukt, das ihr Vater und ihr geplanter Bräutigam Oskar da gebaut haben, um ihr möglicherweise die Puppenklinik die schon etwas marod ist, die Puppenklinik ihres Vaters, des Zauberkönig, zu retten durch diese Ehe, aus diesem ganzen Konstrukt versucht sie auszubrechen, mit dem Satz: "Jetzt bricht der Sklave seine Fessel" – in einer Vorstufe heißt es noch: "Mein Körper gehört mir"." (Martin Vejvar, wissenschaftlicher Kurator der Ausstellung und Mitarbeiter der kritischen Horváth-Ausgabe)
Regie bei der Uraufführung von "Geschichten aus dem Wiener Wald" im November 1931 führte Heinz Hilpert. Die namhaften Kritiker in Deutschland zeigten sich über den Erfolg des Stückes ziemlich einig und rezensierten das in Wien spielende Drama äußerst positiv. Naturgemäß sah die Rezeption bei der deutschnationalen Presse und innerhalb der österreichischen Grenzen anders aus.
Der österreichisch-ungarische Schriftsteller Ödön von Horváth.© AP Archiv
Für den Literaturwissenschaftler Klaus Kastberger sind in den Stücken Ödön von Horváths die Bezüge zur Gegenwart nicht zu übersehen.
"Die Figuren, die er gezeichnet und entworfen und konstruiert hat, kommen einem heute noch völlig aktuell vor. Und man hat nicht das Gefühl – in guten Inszenierungen – dass das Figuren der 20er-Jahre sind. Das liegt einerseits daran, dass in den 20er-Jahren zentrale Probleme der Verfasstheit von Gesellschaft zum ersten Mal, wie in einer Stadt in Berlin, verhandelt worden sind. Man kann sich selber und die eigenen Gesellschaften in diesen Texten noch sehen. Und da gibt es auch im Produktionsprozess etwas, was dafür verantwortlich ist. Gerade bei den "Geschichten aus dem Wiener Wald" hatte Horváth am Anfang eigentlich tagespolitische Themen drinnen. Und all diese tagespolitschen Erkennbarkeiten hat Horváth mit Bedacht herausgenommen aus den Stücken und das Ganze zu etwas allgemein Gültigeren gemacht. Nationalsozialismus kommt nicht mehr als markierte Form vor, sondern als Charaktereigenschaft, die dieser komische Neffe aus Kassel hat, der eine absolute Witzfigur wird."
Den "Zauberkönig" und Vater von Marianne spielte in der Uraufführung von 1931 der
Volksschauspieler Hans Moser, der auf der Bühne deutlich mehr von seinem darstellerischen Spektrum zeigen konnte, als in den zahlreichen Filmen, in denen er meist dem Klischee des raunzenden und grantelnden Urwieners entsprechen musste. Den "Zauberkönig" spielt er, wie es in der "Neuen Freien Presse" heißt:
"Mit der gewollten komischen Diskrepanz zwischen der äußeren Erscheinung des gemütlichen Wiener Geschäftsmanns und dem tyrannischen, hartherzigen Vater, der in diesem gemütlichen Urwiener steckt."
30 Jahre später wird der 80-jährige Hans Moser die Rolle des "Zauberkönig" in der Fernsehfassung unter der Regie von Erich Neuberg im Jahr 1961 erneut spielen.
Wirken unter der NS-Diktatur
Trailer zu "Kasimir und Karoline" am Schauspiel Dortmund auf Youtube:
Ende 1932 kommt ein weiteres Stück Ödön von Horváths auf eine deutsche Bühne:
"Kasimir und Karoline". Gerade noch rechtzeitig, denn zwei Monate später wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt.
Horváth schildert die Geschichte des arbeitslos gewordenen Chauffeurs Kasimir und seiner Braut Karoline auf dem Münchener Oktoberfest. Vor dem Hintergrund einer politisch-wirtschaftlichen Zeitenwende erscheint das Leben als Achterbahnfahrt, bei der die perspektivllose Kasimir auf die lustbetonte und sorglose Karoline trifft.
Im Gegensatz zur "Italienischen Nacht" und "Geschichten aus dem Wiener Wald" fand die Uraufführung von "Kasimir und Karoline" nicht in Berlin, sondern in Leipzig statt, erzählt Martin Vejvar, Mitkurator der Horváth-Ausstellung im Wiener Theatermuseum.
"Es war eine sogenannte
Ernst-Josef-Aufricht-Produktion, die man sich vom Theater in den USA abgeschaut hat. Eine Hauptstadtinszenierung wird zuerst in kleinerem Theater ausprobiert, dann wird noch herumgebastelt daran, bis alles passt und dann erst bringt man es auf die eigentliche, große Bühne. Das heißt, die Berliner Uraufführung war eine Erstaufführung, weil die Uraufführung war in Leipzig. "
Dank dem deutschen Bibliothekar und Schriftsteller
Hans Ludwig Held kann die Forschung heute auf einen umfangreichen Nachlass Horváths zurückgreifen. Der eifrige Archivar hatte den aufstrebenden Dramatiker bereits um 1929/30 gebeten, seine Manuskripte nicht wegzuwerfen, sondern zu sammeln und ihm, Held, zur Aufbewahrung zu überlassen. Ein weiterer Glücksfall für die Horváth-Forschung kam hinzu. Horváth war Vielschreiber, aber bei Weitem kein begnadeter Bastler. So schnippelte er seine nahezu endlos und wahllos aneinandergeklebten Textkaskaden mit einer Schere auseinander, um sie zu einem dramaturgisch vernünftigen Ganzen neu zusammenzufügen. Die unregelmäßigen Schnittstellen in den Originalmanuskripten ermöglichten es, die Texte wieder in ihren Urzustand zu montieren.
Als im Januar 1933 Adolf Hitler Reichskanzler wurde, begann für Horváth ein Spießrutenlauf, und der Kampf ums eigene Überleben. Viele von Horváths Weissagungen in der "Italienischen Nacht" wurden Realität, von deren prompter Wirklichkeit der Autor selbst überrumpelt worden sein dürfte. Als Ungar genoss er zwar noch eine gewisse Form von Immunität, wurde im Deutschen Reich aber zur unerwünschten Person. Sein 1934 gestellter Aufnahmeantrag an den Reichsverband deutscher Schriftsteller bewirkt nicht wirklich Positives. Horváth wird lediglich als Gast in der Fachschaft Film akzeptiert.
Schon einige Monate zuvor zeigt sich der um sieben Jahre ältere Schriftstellerkollege
Oskar Maria Graf von Hórvaths Anbiederung an die deutschen Machthaber enttäuscht: Horváth hatte eine bereits fix zugesagte Unterschrift unter ein Protesttelegramm der österreichischen Delegation des Pen-Klub-Kongresses in Ragusa, dem heutigen Dubrovnik, überraschend zurückgezogen. Daraufhin schrieb Graf im Juni 1933 einen offenen Brief in der österreichischen "Arbeiterzeitung":
"Lieber Horvath! Soeben erfahre ich durch die Bildungszentrale, dass Du Deine Unterschrift für das Telegramm an den Kongress des Penklubs in Ragusa wieder zurückgezogen hast und muss sagen, dass ich bass erstaunt bin. Noch erstaunter aber bin ich über die fadenscheinige und feige Begründung, mit welcher Du das tust.
Du gibst an, dass Du nicht zu den geflüchteten deutschen Schriftstellern gehörst und außerdem Ungar seist, also ungarischer Schriftsteller!
Dass du wohl zu den geflüchteten deutschen Schriftstellern gehörst, hast Du mir gegenüber doch stets betont – oder war das reine Aufschneiderei, wie etwas das, dass Du – umringt von zehn SA-Männern – aus Murnau vertrieben worden bist?
Dass Du auf einmal ein ungarischer Schriftsteller sein willst, ist geradezu pikant angesichts der Tatsache, dass Du Dich bei der Kleist-Preisverteilung absolut als Deutscher gefühlt hast!
Der langen Rede kurzer Sinn: Du willst Dir nach keiner Seite irgendein Geschäftchen verderben. Mit solchen Leuten, deren Gesinnung nicht weiter reicht als ihr Maul, und die bei einem so geringfügigen Ansinnen, dass an ihren kollegialen Anstand gestellt wird, die Flucht ergreifen, habe ich nichts zu schaffen." (Arbeiter-Zeitung, 2. Juni 1933)
Horváths Drama "Glaube, Liebe, Hoffnung
"Glaube, Liebe, Hoffnung"", mit dem Untertitel "Ein kleiner Totentanz", wurde im November 1936 im "Theater für 49 am Schottentor" uraufgeführt - einer Wiener Kleinbühne mit – wie der Name schon sagt – nicht einmal 50 Plätzen. Die neuen Aufführungsorte seiner Dramen hießen nun: Wien, Zürich, Prag und Mährisch-Ostrau. Dem Theatermenschen Horváth wurde regelrecht der große Bühnenboden unter den Füßen weggezogen.
"Er hat dann versucht, mit Stücken wie
"Himmelwärts" oder
"Figaro lässt sich scheiden" oder
"Mit dem Kopf durch die Wand", neue Formen zu finden, meistens komödiantische Formen, die wenig von dem Tragischen der frühen Volksstücke haben, wo das in Einsprengseln da ist, aber nicht in der Gesamtstruktur. Er hat versucht, eine literarische Position zum Dritten Reich zu entwickeln, und damit Formen gewählt wie das Märchen, die Posse, in "Hin und her", zum Beispiel, wo er versucht hat, lustspielartig auf das Ganze zu reagieren. Und hat damit eigentlich seine existentielle Tiefe verloren, die uns heute an den großen Volksstücken eigentlich fesselt, weil er sich dort wirklich mit den menschlichen Problemen, mit ihren Alltagsproblemen und Alltagssorgen auseinandersetzt." (Nicole Streitler-Kastberger)
1937 befindet sich Horváth in einer äußerst prekären finanziellen Situation. Das Bühnenverbot seiner Stücke im Deutschen Reich hat ihm das Wasser abgegraben. Dass Horváth so lange im nationalsozialistischen Deutschland und Österreich ausharrt und erst im März 1938 emigriert - als bereits viele seiner literarischen Weggefährten die Flucht vor den Nazis ergriffen haben - dafür hat der Regisseur und Dramatiker Christopher Hampton nur eine mögliche Antwort parat.
Trailer zum Buch "Jugend ohne Gott" bei Youtube:
"Ich denke, er fand es sehr interessant und hatte durchaus eine Art Faszination für das Groteske. Aber ich denke nicht, dass seine Arbeit dadurch weniger subversiv wurde. Natürlich schrieb er die Romane:
"Jugend ohne Gott" und
"Kind unserer Zeit", weil niemand mehr seine Theaterstücke aufführen konnte, da ihre Botschaft eindeutig antinazistisch war."
"Adieu Europa" lautet der Titel seines letzten großen Roman-Vorhabens, das er in Andeutungen notiert.
"Ich halte nichts mehr von Europa... Denn entweder gibt‘s einen Krieg oder Europa versinkt in der Barbarei. Und mit Bezug auf den Nationalsozialismus: Sie schrecken vor keiner Niedertracht zurück, um sich selber belügen zu können. Sie gaben sich der Welt. Aber was nahmen sie dafür? Den Charme, die Schönheit."
Und unter dem Stichwort: Die erste Emigration notiert er, wie in eigener Sache:
"Eine Welt ist zusammengestürzt, man muss ganz anders schreiben. Warum emigriert? - Habe ich Fehler gemacht? Weil man es nicht für möglich gehalten hat, dass das kommt… Die Trauer und das Herumlumpen… Die Leute, die ehemals eine Rolle spielten, jetzt trifft man sie in der Emigration."
Der Roman "Adieu Europa" bleibt unvollendet.
Tod durch einen herabfallenden Ast
Am 1. Juni 1938 sollte jenes Abenteuer zur bitteren Realität werden, das eine Wahrsagerin dem abergläubischen Schriftsteller wenige Monate zuvor "als das Größte in seinem Leben" prophezeit hatte. Dass dieses Abenteuer Leben und Werk des erst 36-jährigen Literaten jäh beendete, davor hatte sich wohl nur Ödön von Horváth selbst gefürchtet.
In der Morgenausgabe vom 2. Juni 1938 ist in der französischen Tageszeitung "Le Figaro" zu lesen:
"Ein Sturm, der gestern Abend über Paris niederging, verursachte mehrere Unglücksfälle. In den Champs-Élysées warf er eine Platane um. Sieben Personen, die unter ihr waren, konnten sich retten, bis auf einen Ungarn, den sie erschlug." ("Le Figaro")
Der Schriftsteller ist der Erschlagene, er ist zu Fuß unterwegs, kommt von einem Treffen mit dem deutschen Filmregisseur Robert Siodmak, der Horváths Roman "Jugend ohne Gott" verfilmen will. Auf der Avenue Marigny wird die Prophezeiung vom größten Abenteuer seines Lebens zur tödlichen Realität: Ein Blitz schlägt in eine Platane, worauf ein morscher Ast abbricht und Ödön von Horváth den Hinterkopf zerschmettert. In seiner Manteltasche findet man ein Paket Aktphotos und ein auf eine Zigarettenschachtel notiertes Gedicht. Es endet mit den Zeilen:
"Und die Leute werden sagen
In fernen blauen Tagen
Wird es einmal recht
Was falsch ist und was echt
Was falsch ist, wird verkommen / Obwohl es heut regiert
Was echt ist, das soll kommen / Obwohl es heut krepiert."
Klaus Mann kommentierte den jähen Tod seines Schriftstellerkollegen Ödön von Horváth, eines Dichters, den er Zeit seines Lebens tief verehrte, so:
"Wen die Henker in den Kerkern und Lagern verschonen, den tötet der Sturm: ein unschuldiger Baum auf der schönsten Straße der Welt wird zum Mörder."
Knapp nach dem Kriegsende, sieben Jahre nach Horváths Tod, kam es zur österreichischen Erstaufführung von
"Der jüngste Tag" im Theater in der Josefstadt. Neben "Geschichten aus dem Wiener Wald" ist es das meistverfilmte Drama Horváths.
"Ein Stationsvorsteher vergisst ein Signal rechtzeitig zu stellen, nachdem er sich zuvor von einer jungen Frau hat ablenken lassen. Es kommt zu einem schrecklichen Zugunglück mit 18 Toten. Die Falschaussage der jungen Frau rettet ihn zwar vor einer Verurteilung, letztlich aber drängt ihn sein schlechtes Gewissen, dem Richter die Wahrheit zu beichten."
Trailer zum Stück "Der jüngste Tag" in einer Inszenierung am Theater Regensburg auf Youtube:
""Der jüngste Tag" hat eine ganz polemische Ausdeutung, "Der jüngste Tag" erzählt von einer Schuld, an der man nicht so wirklich schuld ist. Und das ist etwas, was das österreichische Publikum nicht ungern gehört hat, einfach weil es geholfen hat, das, diesen Scherbenhaufen, vor dem man gestanden hat, irgendwie im kulturellen Kompass wieder einzuordnen zu können. Das Stück selbst lässt verschiedene Deutungen zu, aber eben genau diese Schwebe, kann man für etwas verantwortlich sein, ist das nicht alles ein großer Betriebsunfall gewesen, genau das ist eine Rezeptionsfolio, die damals sehr dankbar angenommen worden ist." (Martin Vejvar)
Produktion dieser Langen Nacht:
Autoren: Nikolaus Scholz und Andreas Kloner; Regie: Nikolaus Scholz, Sprecher: Birgit Minichmayr, Michael Rotschopf, Dörte Lyssewski, Silvia Meisterle, Michael Dangl, Markus Hering, Harald Schröpferle; Redaktion: Dr. Monika Künzel; Webproduktion: Jörg Stroisch
Über die Autoren:
Andreas Kloner ist Experte für Kurrent- und Kurzschriften, insbesondere der historischen Gabelsberger Stenographie, sowie für hebräische Handschriften. Seit 2003 gestaltet er Radiofeatures mit historischem Schwerpunkt, sowie historische Hörspiele auf Basis von Originaldokumenten. Für die Lange Nacht beim Deutschlandradio ist er regelmäßig Autor.
Nikolaus Scholz arbeitet als unter anderem als Redakteur, Regisseur und Autor zum Beispiel für Ö1, WDR, SWR und Deutschlandradio. u.a. bei ROI, Radio Wien, Ö1, RAI Bozen, WDR, Deutschlandradio, SWR. Seit 15 Jahren gestaltet er zum Beispiel die wöchentlichen Ö1-Lyrikreihe "Nachtbilder".