Eine Lange Nacht über Ostanatolien

"Hier hat jeder eine Waffe, Doktor!"

Am Vansee in Ostanatolien
Am Vansee in Ostanatolien © Markus Rindt
Von Manuel Gogos |
Ostanatolien, das ist sprichwörtlich Hinterland. Dichter am georgischen Tiflis und am armenischen Eriwan gelegen als an Istanbul oder Ankara. Während Türken selbst Ostanatolien häufig als sibirisch empfinden, genießen die seltenen Besucher aus dem Westen seine wahrhaft mongolische Weite.
Fährt man von Trabzon am Schwarzen Meer nach Van, passiert man auf der Fahrt den höchsten Berg der Türkei, den mythischen Ararat mit seinen 5137 Metern, und den größten See - den Vansee, sieben Mal so groß wie der Bodensee und tief in der Farbe der Türken leuchtend: in Türkis. Ostanatolien ist ein Mosaik verschiedenster Religionen und Kulturen. Im magischen Ort Ani direkt an der Grenze zu Armenien haben die Urartäer ihr Reich der 1.000 Kirchen errichtet.
Doch Ostanatolien wurde auch zum Schauplatz der Todesmärsche der armenischen Bevölkerung um das Jahr 1915. Ostanatolien, das ist auch Kurdistan: Einstmals im Besitz kurdischer Stammesführer, nahmen im Rebellenland in den 90er-Jahren kurdische Frauen in geblümten Pumphosen im Kampf für ein freies Kurdistan das Gewehr in die Hand.
Die "Lange Nacht" lauscht uralten Musiktraditionen: den Surnas, jenen Tröten, die auf den berühmten kurdischen Hochzeiten für ausgelassene Stimmung sorgen, oder Duduks - armenischen Schnabelflöten, deren getragene Lieder mit der grandiosen Landschaft in der Grenzregion zu Armenien korrespondieren. Yaşar Kemal hat in seinen Büchern immer wieder auf seine Kindheitserinnerungen in Ostanatolien zurückgegriffen. Und Orhan Pamuk lässt im Roman "Schnee" seinen Protagonisten ins ferne Kars reisen, um eine mysteriöse Selbstmordserie junger türkischer Mädchen aufzuklären.

Auszüge aus dem Manuskript der Langen Nacht, Links und Literaturhinweise:
Ost-Anatolien, das ist sprichwörtlich "Hinterland". Das größte und zugleich bevölkerungsärmste Gebiet der ganzen Türkei. Fährt man von Trabzon am Schwarzen Meer über Kars, das "türkische Sibirien", nach Van, dann passiert man auf der Fahrt über die anatolische Hochebene - im Durchschnitt 2.000 Meter hoch - den höchsten Berg der Türkei, den Ararat mit seiner mythischen Gestalt von 5.137 Metern, auf dem die Arche niedergegangen sein soll, und den größten See - den Vansee, siebenmal so groß wie der Bodensee und tief in der "Farbe der Türken" leuchtend: in Türkis.
Der Moraltheologe und Ostanatolienexperte Volker Eid: "Selbst in der alten Türkei, selbst im Sultansstaat, waren die arabischen Gebiete viel stärker im Bewusstsein der Regierung in Istanbul, Afrika auch, der Osten, also das, was wir heute als Osttürkei verstehen, gleitend von der Zentraltürkei hin zur Osttürkei, war vor allem militärisch interessant in der Konfrontation mit dem Iran, sprich seit dem 16. Jahrhundert mit den Safawiden. Insofern war das Hinterland, war das vernachlässigt, war im genauen Wortsinn "zurückgeblieben".
Der Kölner Schriftsteller Selim Özdogan: "In Italien haben wir ja auch ein Nord-Süd Gefälle. In der Türkei haben wir eben ein West-Ost-Gefälle. Da führt halt kein Weg dran vorbei. Und die Osttürkei ist auf eine Art 'uninteressant‘.- Also, als ich jetzt da war, da sind wie viele Leute gestorben - über 40 bei Ausschreitungen - viel mehr Leute, als bei den Gezi-Protesten gestorben sind. Es gab Ausgehverbote in vier oder fünf Provinzen, das hat es seit den 80er-Jahren, seit den Zeiten des Militärregimes nicht mehr gegeben. Aber das ist halt 'da im Osten‘."
Ostanatolien, das ist auch das Stammland der Armenier. Die Urartäer haben hier in Ani um 800 nach Christus ihr Reich der "1.000 Kirchen" errichtet. Erst später kamen die Perser und die Byzantiner, Seldschuken, Mongolen und Osmanen. Anatolien, das ist das Land, dessen gesamte armenische Bevölkerung 1915 aus ihren Dörfern deportiert und nach Süden in die syrische Wüste getrieben worden ist.
Und das anatolische Hochland ist das Land, wo wahrscheinlich schon seit Jahrtausenden die traditionellerweise halbnomadischen Kurden leben. Wo in den 1980er- und 1990er-Jahren kurdische Frauen mit ihren locker sitzenden Kopftüchern und in ihren geblümten Pumphosen lieber im Kampf für ein freies Kurdistan das Gewehr in die Hand nahmen, als sich zu Hause ihren Männern zu unterwerfen. In Ostanatolien ist man dichter am georgischen Tiflis, am armenischen Eriwan, und auch näher an Syrien und dem Iran, als an Ankara oder Istanbul. Es ist ein rauer, wilder Osten, der für den türkischen Staat zum unkontrollierbaren und unregierbaren Territorium geworden ist.
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Es ist wie in dem Film "Once Upon a Time in Anatolia" des Regisseurs Nuri Bilge Ceylan aus dem Jahre 2011: Bereist man das Land und spricht mit seinen Menschen, bekommt man Geschichten zu hören. Geschichten, die sich - egal ob sie sich vor hundert Jahren oder gestern zugetragen haben - manchmal auch diametral widersprechen können. Wie es der Autor Christopher de Bellaigue in seinem Buch "Rebellenland" beschreibt.
"Es kommt nicht von ungefähr, dass die Osttürkei, alias das westliche Armenien, alias das nördliche Kurdistan, nie gründlich unter die Lupe genommen worden sind. Ehemals im Besitz türkischer Autokraten, früheres Territorium armenischer Königreiche und kurdischer Fürstentümer, ein Ort fern der Heiligen Stühle, wo Heterodoxien des Islams und des Christentums florierten, Schauplatz auch der weitgehenden Vernichtung der armenischen Bevölkerung, ist dies ein Land, in das die moderne Geschichtsschreibung noch nicht vorgedrungen ist. Die Erzählungen vermittelten einen Eindruck von der Vergangenheit der Region als einer chaotischen Fortsetzungsgeschichte aus Emotionen, Aufbegehren und Schuld, jeder Chronologie spottend und häufig aus Gerüchten, Verleumdungen und unkritischer Heldenverehrung schöpfend. Das ist mein Platz, sagt der türkische Soldat, politisch gesehen. Ich herrsche hier. Das ist mein Platz, sagt die kurdische Dorfbewohnerin, deren Mann die Waffe gegen den türkischen Staat erhoben hat und jetzt im Gefängnis schmort. Das ist mein Platz, sagt der in einer ehemaligen armenischen Kirche betende Tourist mit US-Reisepass, dass ich mir die Mühe gemacht habe, hierherzukommen, hier zu stehen und in meiner eigenen Sprache Gebete aufzusagen - das sollte jedem deutlich machen, dass ich meinen moralischen Anspruch nicht aufgebe."
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Der Musiker und Intendant der Dresdener Sinfoniker, Markus Rindt: "Der Süden steht ja für eher für die typischen Urlaubsländer, wie Italien, oder Spanien. Die Türkei liegt im Osten. Und viele Länder, die eine ähnliche Kultur haben, liegen auch im Osten, wie Aserbaidschan, Armenien, Georgien, Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan. Viele dieser Länder verbindet die turksprachige Kultur, diese Grundsprache, die aus dem Ugusischen, dem Altay, dem mongolischen Altay kommt."
Die Landschaften der Osttürkei sind so großartig. Großartig wie das Schicksal ihrer Menschen - so haben es türkische Schriftsteller beschrieben.
Markus Rindt: "Ob das nun diese kargen Gebirgslandschaften sind. Oder auch sehr schöne Almen. Die sehr grün sind. Die man hier gar nicht vermutet. Oder Canyons, wo unten ein Fluss fließt. Es gibt Moscheen oder Kirchen an Orten, wo man kaum hingelangt, wo man hin klettern muss - unfassbar schöne Landschaften."
Yasar Kemal hat für sein Werk immer wieder auf die Erinnerungen seiner Kindheit in Ostanatolien zurückgeegriffen. Besonders spürbar ist es in seiner Anatolischen Trilogie "Der Wind aus der Ebene" (1960), "Eisenerde, Kupferhimmel" (1963) und "Das Unsterblichkeitskraut" (1968), wie stark Kemal aus den Volkstraditionen Anatoliens schöpft.
Im Projekt "Hasretim - a Trip to Anatolia", das der Dresdener Intendant Markus Rindt gemeinsam mit dem Komponisten Marc Sinan initiierte, bereisten die klassisch ausgebildeten Musiker Ostanatolien und machten Feld-Aufnahmen. Vom Touloum - einer Art türkischem Dudelsack - vom Duduk, jener tranceartige Töne haltenden Schnabelflöte, oder von der Zurna, die wie eine Fußballtröte klingt und auf den berühmten kurdischen Hochzeiten dieser Gegend mit ihren trillernden Chören für ausgelassene Stimmung sorgt.
Markus Rindt: "Als wir aufgebrochen sind, oder als wir den Plan dazu entwickelt haben, da wußten wir nicht genau, was es hier gibt. Es gibt Experten. Aber keiner konnte uns genau sagen, ob wir das finden werden, ob das noch existiert. Viele Field-recordings sind ja auch in den 60er- und 70er-Jahren entstanden, und wer wußte, ob das 2010 noch so ist. Dann haben wir die verschiedensten Volksinstrumente gefunden, wie die Kawal, Duduk, Surna, Daul, Kemence, Toulou, das ist zum Beispiel ein Dudelsack, ein spezieller Dudelsack hier aus der Türkei, so ein Ziegenbalg, fast wie so eine komplette Ziege unter dem Arm, erst mal aufgepustet und dann wird mit dem Arm die Luft rausgedrückt."
Anatolische Volksmusik ist noch immer von Regionalstilen geprägt. Für die östliche Schwarzmeer-Küste - und damit ursprünglich für die Musik der Pontos-Griechen - ist die "Kemençe" oder Kastenfiedel typisch. Hundert Kilometer weiter südlich sind dann die Einflüsse aserbaidschanischer, kaukasischer oder armenischer Musik stärker.
Markus Rindt: "Diese ganze Musikkultur, die hat sich hier tatsächlich sehr erhalten, diese traditionelle Musik, und das fasziniert mich ungemein. Zum Beispiel Armenien. Wenn man Armenien betrachtet: Armenien liegt ja von der Türkei aus gesehen noch weiter östlich. Also wenn man sich das vorstellt, diese Berglandschaft, zwei Dudukspieler, der eine hält den sogenannten Dan aus, also ein ganz ewiger Ton, ein Ton, der anscheinend nicht endet. Er kann auch nur gespielt werden mit Permanentatmung. Er atmet während dessen immer wieder Luft nach, ohne dass man es hört. Einerseits durch die Nase kurz Luft reinholen und gleichzeitig mit dem Mund den Rest rausdrücken. Und dieses Umschalten ist sehr kompliziert, das ist eine große Kunst. Und der Andere umspielt diesen Ton, wenn man diese Musik hört, kommt man gleich in so eine Trance. Das könnte man stundenlang hören. Und wenn man dann in dieser Landschaft sitzt, in dieser kargen Landschaft, dieser Berglandschaft, diesem wunderschönen Panorama, dann kann man sich das natürlich wunderbar vorstellen."
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Der Kölner Schriftsteller Selim Özdogan: "Kindheit war so: Ich hätte Dir nicht einmal einzeichnen können, wo hier genau Anatolien sein soll. Meine Eltern haben ja nicht versucht, mir ein Anatolienbild zu vermitteln. Sondern die haben halt erzählt, wie es bei ihnen war. Aber um mit ein bisschen mehr Wissen und ein bisschen mehr Horizont mit Anfang 20, Mitte 20 zu verstehen, dass in Deutschland ein seltsames Anatolienbild vermittelt wird, das ich eben auch nicht in Einklang bringen konnte mit dem, was ich in meiner Kindheit gesehen hatte, da war immer dieses 'Der Bauer aus dem ostanatolischen Dorf‘, ich war nie in Ostanatolien, was die erzählen ist halt: Rückständigkeit pur - das habe ich als Kind so nie erlebt.
Selim Özdogan: "Es gibt diese typischen oder als typisch verkauften Migrationsgeschichten, und dann gibt es soundsoviele andere, die dann nicht wahrgenommen werden, die halt nicht in dieses Klischee passen. Es gab die Nordwolle in Delmenhorst. Eine Wollfabrik, die in ein Museum umgewandelt worden ist. Dort haben sie so eine Migrationsausstellung. Und in dieser Ausstellung haben sie diese Spiele, diese Steckspiele, für Kinder, wo man so den Kreis in den Kreis und den Stern in den Stern tun muss, die sie damals mitgenommen haben auf die Dörfer, um zu testen, wen sie denn als Arbeiter unter Vertrag nehmen wollen. Ob die die vielleicht in den Kindergarten stecken wollten und nicht in die Fabrik, das weiß man ja nicht, aber da fängt das ja schon an. Wir begegnen denen, als würden wir Kinder beaufsichtigen."
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Was ist aus den Tausenden Armeniern geworden, die noch vor hundert Jahren in Anatolien lebten? Aus ihren Häusern und Obstgärten, ihren Kirchen? Die Armenier haben für jenes Verhängnis, das am 24. April 1915 über sie hereinbrach, ein eigenes Wort: die Tat des Fremden, die im Innersten zerstört.
Fragt man heute in den Städten Kars oder Van die Bevölkerung, dann heißt es oft: "Armenier? Hatten wir nie!" Will man sich auf der Hochebene Ostanatoliens auf Spurensuche begeben nach armenischem Leben, dann darf man weder den wenigen touristischen Straßenschildern folgen, noch den neu gebauten Schnellstraßen der staatstragenden Erinnerung. Man fahre ab vom Weg, schaue, wohin die Trampelpfade führen, drehe die Steine um. So wie der Komponist Marc Sinan, dessen Großmutter aus Trabzon am Schwarzen Meer stammt und der seit einigen Jahren in den Kirchenruinen Ostanatoliens seine eigenen biographisch-historischen "Ausgrabungen" betreibt.
Marc Sinan: "Es ist viel weniger schlimm als letztes Mal. Die haben richtig rausgeschippt. Ich bin bis hier eingesunken! Schau mal, und solche Löcher hier. Das ist Wochenendsport. Man vermutet immer Gold in den Kirchen. Deshalb wird immer die Apsis ausgegraben. Weil man vermutet: das sind Reliquien, oder eben Gold. Und der Boden ist natürlich als Baustoff missbraucht oder gebraucht. Ok, ein sakraler Bau ist auch nichts anderes als ein Gebäude. Aber irgendwie würde man doch denken, dass hundert Jahre nach so einer Katastrophe - stell dir vor, man würde so eine Synagoge in Deutschland stehen sehen. Da würde man doch die Hände über dem Kopf zusammen schlagen. Eine Synagoge, in die die Tiere reinscheißen!"
Der größte Teil der 1912/13 registrierten rund 2.200 armenischen Klöster und Kirchen der Osttürkei wurden seit 1915 zerstört oder zweckentfremdet. Die Heilige Gregor-der- Erleuchter-Kirche in Kayseri wird als Sporthalle, die Heilige Muttergottes-Kirche in Talas als Moschee, das Varak-Kloster bei Van als Teil eines Bauernhofs genutzt. Kirchen, auf deren Dach Vieh gehalten wird; wo am Abend eine Klappe aufgeht, und die Bäuerin leert einen großen Eimer Schmutzwasser in die Kirche aus. Natürlich ist es ein Skandal, wenn ein heiliger Ort auf diese Art geschändet wird, ein Sakrileg. Aber, so könnte man fragen, ist es nicht genau das, was auch die Christen taten, als sie auf antiken Tempeln ihre Kreuze errichteten?
Marc Sinan: "So ein Ort, das ist ein Zeichen. Hier haben Menschen gelebt, die leben zwar nicht mehr hier, aber dann hat man damit respektvoll umzugehen. Die Entschuldigung ist: sie gehen mit diesen Kirchen genau so respektvoll um, wie sie mit ihren Menschen umgehen, die heute auch hier leben. Eigentlich ist das hier nicht nur eine Metapher für den Umgang mit Geschichte. Es ist auch eine Metapher für den Umgang mit Gegenwart."
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Sesede Terziyan spielt am Gorki-Theater in Berlin. Begonnen hat ihre Leidenschaft für die Schauspielerei vielleicht schon in der Generation ihres Vaters, der in den 1970er-Jahren in Anatolien ein Sommerkino unterhielt.
Sesede Terziyan, deutsche Schauspielerin armenischer Herkunft. "Mein Vater hatte mit dem Ehemann meiner Tante ein Kino in Sorgun. Mein Vater ist dann zwei Mal im Monat nach Ankara gefahren, und er hat wohl französische Filme vorgeführt, hat da so seine eigene Leidenschaft mit ausgelebt, und diese Räumlichkeiten wurden aber auch für Hochzeiten und Konzerte benutzt. Und Anfang der 1970er ist dieses Kino eines nachts abgebrannt worden, vermutlich von jemandem, der dafür bezahlt worden ist, das war nicht konform, mein Vater war da sein eigener Herr, es war auch klar, dass er Armenier gewesen ist, er hat nur die Filme vorgeführt, die er vorführen wollte."
Ein Programmkino in Anatolien, lang vor Sesede Terziyans Geburt. Die erste große Liebe der Tochter war Louis de Funès. Dann wird sie Schauspielerin.
Sesede Terziyan: "Er hat mich darin auch unterstützt. Es war er so, dass er mich testen wollte: Kind, weißt du überhaupt, was du da vorhast, das ist ein harter Job! Ich bin ja sozusagen die nächste Generation. Die mit ihm so eine Katharsis gemeinsam durcherlebt hat. Das ist ja auch der Wunsch meiner Eltern gewesen. Deshalb sind sie auch nach Deutschland gekommen. Wollten absolut, dass die Kinder mit einem freien Geist erzogen werden. Und das hat auch geklappt und jetzt kann ich das auch ausdrücken in meiner Arbeit."
Sesede Terziyan hat auch in Fatih Akins Film "The Cut" mitgewirkt, der Ende August 2014 beim Filmfestival Venedig seine Premiere feierte. Im Interview mit der Nachrichtenagentur dpa sprach der deutsch-türkische Regisseur Akin über die Unvermeidlichkeit, sich des Völkermords an den Armeniern anzunehmen: "Ich habe mir das Thema nicht ausgesucht - das Thema hat mich gefunden. Es ist dieses gefährliche, verbotene Tabu-Thema. Immer wenn etwas verboten ist, werde ich hellhörig."
Die Geschichte, die drängt, hängt immer an einem Ort. Und ihre Helden sind meist Großeltern, Onkel und Tanten. Als Sesede Terziyan anfing, in der Familiengeschichte "rumzuwühlen", wie sie sagt, hat die Familie ihrem Forscherdrang Widerstand entgegen gesetzt: Lass die Geister der Vergangenheit ruhen, rühr nicht daran.
Sesede Terziyan: "Als ich 2010 damit angefangen habe, ganz bewusst da zu recherchieren, indem ich Interviews gemacht habe mit meinen Großeltern, mit meinen Großtanten - da bin ich erst mal auf sehr großen Widerstand gestoßen. Haben sich eher gestört gefühlt, dass ich da rumgrabe. Aber ich hab das trotzdem getan und um Respekt gebeten. Und da kamen eben diese Geschichten auf: wie mein Urgroßvater verschwunden ist, Selbstmordfälle im Kuhstall meiner Urgroßmutter - ihre Söhne haben sich selbst erhängt; alles damals zu 1915, wie meine Urgroßmutter ihr eigenes Baby versteckt hat, solche Geschichten. Hat dem Kind, als es geschrien hat, Baumwolle in den Mund gesteckt, und dann ist dieses Kind erstickt und gestorben. Also, da gibt es viel, das ist jetzt nur der Gipfel vom Eisberg. Möchte das jetzt auch gar nicht so vertiefen. Und auf der anderen Seite gab’s eben Nachbarn, die die Familie gerettet haben."
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Eines der berühmtesten und bemerkenswertesten Zeugnisse des zeitgenössischen türkischen Literaturschaffens - Ferit Edgüs Buch "Ein Winter in Hakkari" - handelt von einen Lehrer, der Mitte der 1970er-Jahre ins Hochgebirge im äußersten Osten der Türkei geschickt wird.
Im Osten von der iranischen, im Süden von der irakischen Grenze, im Norden von Van und im Westen von Siirt begrenzt, ist die Provinz Hakkari eine Hochgebirgsregion an der südöstlichsten Ecke Ostanatoliens. Die Berge erreichen hier eine Höhe von bis zu 4.000 Metern. Es ist die gebirgigste und verlassenste Ecke der Türkei, Jahrhunderte lang lebte man hier isoliert von der Außenwelt.
In einem gottverlassenen Ort, zwischen Felsen und Schluchten, ohne befestigte Straßen und ohne Strom, unter Menschen, die eine fremde Sprache sprechen, verantwortlich für Kinder, die barfuß durch den Schnee zur Schule gehen müssen, kommt der Lehrer dem Sinn seines eigenen Lebens auf die Spur.
"Wie könnte er aussehen, der Ort, der einen Menschen ganz bei sich sein lässt, ihn plötzlich zum Nachdenken zwingt, über sich und sein Leben? Vielleicht so: H., meine Stadt, deine leidgeprüften Augen, leprös, tief, und der Schnee trägt deinen Namen weiter. Höhe 1.600 Meter. Einwohner 10.000, davon die Hälfte Soldaten. Eine seltsame Stadt bist du, genau wie H. dein Name. Die in dir wohnenden Götter und Menschen haben keine Spur hinterlassen. Die Götter kamen vielleicht gar nie in deine Gegend. Aber die Menschen, die für Jahrhunderte sich bei dir niederließen, bei deinen steilen Felsen Schutz fanden, trotz deiner Dürre, trotz deines unerträglichen Klimas: Warum ließen sie keine Spur, diese Versprengten, ewig fliehenden Völker?"
Kein Ort. Nirgends. Es hat den Erzähler an einen Unort verschlagen. Aber es ist eben dieser Unort, der sich zu einem poetologischen Ort verdichtet, in direkter Nachbarschaft liegend zu Orhan Pamuks Reise ins ferne Kars, Dostojewskijks Verbannung ins sibirische Ostrog, oder Franz Kafkas Strafkolonie.
"Kafka sah dich wohl in seinen Alpträumen, er nannte dich nie beim Namen. Hätte er gewusst, dass es einen Ort wie dich auf dieser Erde gibt, hätte er sein schrecklichstes Buch über dich geschrieben. Hätte Tolstoi dich gekannt, hätte er sich seines Adels tausendmal mehr geschämt. Und vielleicht auch seiner Schriftstellerei - wie ich mich jetzt meiner schäme. Wenn Dostojewski zu dir verbannt wäre, würde er Notizen von der Überwelt schreiben, oder Schuld und Schuld. H., Meine Stadt, deine Hoffnung und deine Hoffnungslosigkeit, deine Sonne und dein Schnee, dein Schlaf und deine Schlaflosigkeit, deine Menschen und deine Tiere, deine Wölfe und deine Hunde, wisse, das alles lebt weiter in mir wie ein Stöhnen."
Alle kennen den neuen Lehrer des Dorfes P., noch ehe er sich vorgestellt hat. Alle kennen ihn, und doch bleibt er in der ostanatolischen Provinz Hakkari ein Fremder. Einer Welt gegenüberstehend, die ihm vollkommen unzugänglich erscheint, voller Rätsel und Schweigen.
"Es war eine Suppe aus Weizenschrot oder etwas ähnlichem, gekocht mit einem Kraut und Joghurt. Es schmeckte nicht schlecht. Alle glotzten mich an. Ein Löffel Reis (...) Sie starrten mich an. Ein Löffel Yoghurt (...) Kein Teller klappert, keine Gabel tönt. Was ich höre, ist die Stimme der Stille. Sie lassen ihr Essen stehen. Sitzen bolzengerade auf ihren Stühlen. Starren mich an. Sie schauen mich an. Ich hatte das Verlangen, wie eine Bombe zu explodieren. Ich ließ alles stehen. Den Löffel. Den Reis. Den Yoghurt. Das Wasserglas. Und ich schaue sie an. Einige haben Augen wie geschminkt. Und ich? Wie sehen sie mich?"
Literaturhinweise:
Ferit Edgüs
Ein Winter in Hakkari
Unionsverlag
In den äußersten Osten der Türkei wird er als Lehrer geschickt, ins Hochgebirge zwischen Felsen und Schluchten, ohne Straße und Strom. Die Menschen sprechen eine fremde Sprache, gehen barfuß im Schnee, und noch kein Städter hat es bisher geschafft, einen Winter lang ihr Leben zu teilen. Er steht vor einer Welt voller Rätsel und Schweigen. Sein Wissen, seine Erinnerungen, all das, was er mitgebracht hat, macht ihn nur einsam und verloren. Doch allmählich taucht er ein in diese Realität jenseits all dessen, was er Zivilisation nannte. Als der Winterschnee schmilzt und man ihm mitteilt, er könne wieder gehen, wohin er wolle, hat er vergessen, dass dieser Ort sein Gefängnis war. Der Lehrer hat manches gelehrt. Aber vor allem hat er gelernt: Wie die Wölfe in die Dörfer kommen und man sich bei minus 25 Grad mit dem eigenen Atem am Leben erhält. Wie man alle Säuglinge sterben sieht, ohne den Verstand zu verlieren, wie man Leid klagt und Geschichten erzählt. Er hat gelernt, wie man es schafft, die Stimmen der Stille und der Hilflosigkeit zu hören.
Volker Eid
Im Land des Ararat
Völker und Kulturen im Osten Anatoliens
2006 Theiss Verlag
Der Bildband führt zu den landschaftlichen und kulturellen Sehenswürdigkeiten im Osten der Türkei und macht den Leser mit der wechselvollen Geschichte dieser Region vertraut.
Selim Özdogan
Die Tochter des Schmieds
2011 Aufbau Verlag
"Glanz meiner Augen" nennt der Schmied seine Lieblingstochter Gül. Weil ihre Mutter, die schön war wie ein Stück vom Mond, früh stirbt, glaubt das Mädchen, besonders auf seine jüngeren Schwestern achtgeben zu müssen. Gül ist klein, aber stark, vor allem jedoch kann sie lieben und weiß, dass man sich von nichts schrecken lassen darf.
Schlicht und poetisch erzählt Selim Özdogan vom Leben in einem anatolischen Städtchen, vom Geschmack der Sorglosigkeit im Sommer, von Sprüchen der Ahnen und ungeduldigen Wünschen der Jungen. Die Geschichte von Gül ist voll Zärtlichkeit, Leid und Sehnsucht wie der anatolische Blues.
Christopher de Belllaigue
Rebellenland
Eine Reise an die Grenze der Türkei.
Beck Verlag 2008
Die Stadt Varto liegt in Rebellenland: Türken und Kurden leben hier nebeneinander, Flüchtlinge der PKK verstecken sich in verfallenen armenischen Klostern. In Zeiten der Unruhe gehen die Männer mit den Kalaschnikows ihrer Väter in die Berge und schwören zurück zu holen, was ihnen gehört.
Der Konflikt zwischen dem Westen und der islamischen Welt wird seit langem in einem Staat ausgetragen: der Türkei. Christopher de Bellaigue, der fließend Türkisch spricht und lange Auslandskorrespondent in Istanbul war, präsentiert in Rebellenland ein umfassendes Porträt dieses Landes. Wie vor ihm literarisch Orhan Pamuk (Schnee) verläßt de Bellaigue dafür die Metropole im Westen und bereist die Grenzen zu Armenien und dem Irak. Meisterhaft läßt er die Menschen dort zu Wort kommen. Vor dem Hintergrund der religiösen, sozialen und nationalistischen Spannungen in der Türkei fügen sich die Leben seiner Protagonisten zu einer intimen Familiengeschichte von universellem Rang - einer Erzählung von Identität, Land und Eigentum.
Murathan Mungan
Palast des Ostens
2008 Unionsverlag
Alle Paare in diesen fünf Erzählungen sind Liebende: Der Hirte und der Räuber, zwei junge Nomaden, der Todesengel Azrail und der Brückenbauer Deli Dumrul, ein Kulttänzer und eine Prinzessin und selbst der Großwesir und sein stummer Bote erfahren das Geheimnis der Liebe als bedrohend und beglückend zugleich.
Orhan Pamuk
Schnee
2007 Fischer Verlag
Ka soll für eine Istanbuler Zeitung eine merkwürdige Serie von Selbstmorden untersuchen: Junge Mädchen haben sich umgebracht, weil man sie zwang, das Kopftuch abzulegen. Eingebettet in eine raffinierte und spannende Kriminalgeschichte steht der Konflikt zwischen Verwestlichung und Islamismus.
Yasar Kemal
Mehmed, mein Falke
2011 Unionsverlag
In den abgelegenen Dörfern am Rande des anatolischen Taurusgebirges herrscht der Grundbesitzer Abdi Aga. Der Boden ist so elend, dass fast nur Disteln auf ihm wachsen. Und von jeder Ernte fordert der Aga zwei Drittel. Memed, der Bauernsohn, hat seinen Hass auf sich gezogen und wird zur Flucht in die Berge gezwungen. Aus dem schmächtigen, ängstlichen Knaben wird ein Räuber, Rebell und Rächer des Volkes.
Yasar Kemal
Töte die Schlange
2004 Unionsverlag
Halil entführt die bildhübsche Esme und nimmt sie gegen ihren Willen zur Frau. Esme aber liebt einen andern, und der Geliebte erschießt Halil - vor den Augen des Sohnes. Schon kurz darauf wird der Mörder gestellt und büßt mit dem Leben. Doch damit kehrt keine Ruhe ein im Dorf. Denn Halils Mutter verfolgt einen schrecklichen Plan: Ihr Enkel soll die Blutrache an seiner geliebten Mutter vollstrecken.
Dieser Roman beruht auf einer wahren Begebenheit, die sich in Anatolien zugetragen hat. Yasar Kemal macht sie zum Stoff einer menschlichen Tragödie, welche die verborgensten Instinkte ans Licht bringt.
Franz Werfel
Die vierzig Tage des Musa Dagh
2012 Fischer Verlag
Noch immer ist es schwierig, den Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1915 bis 1917 beim Namen zu nennen. Als Franz Werfel 1930 durch Anatolien reiste, schockierten ihn die Begegnungen mit Zeitzeugen und er begann, akribisch für einen Roman zu recherchieren. 'Die vierzig Tage des Musa Dagh' beschreiben das Schicksal einer armenischen Familie, die langsam ausgegrenzt und schließlich mit Waffengewalt verfolgt wird. Auf dem Heimatberg, dem Musa Dagh, leistet ihre Dorfgemeinschaft der Vertreibung Widerstand. Umsichtig und differenziert, mit einer klaren, fließenden Sprache verwandelt Werfel diese historische Katastrophe in ein eindrucksvolles Epos.
Edgar Hilsenrath
Das Märchen von dem letzten Gedanken
2014 Minerva Verlag
"Wenn einer dumpfe Augen hat, dann ist es schlecht um ihn bestellt. Der, dessen Augen aber leuchten, hat die Nacht überwunden. Es ist, als säße der helle Tag in seinem Herzen." Der große Roman vom Leidensweg des armenischen Volkes
Armin T. Wegner
Die Austreibung des armenischen Volkes in die Wüste
2011 Wallstein Verlag
Der Völkermord an den Armeniern Armin T. Wegners Augenzeugenbericht erstmals veröffentlicht. Als Sanitäter im Ersten Weltkrieg sieht Armin T. Wegner den Flüchtlingsstrom der von den Türken in die syrische Wüste getriebenen armenischen Bevölkerung. In den Jahren 1915 bis 1917 fanden dort bis zu 1,5 Millionen Armenier den Tod. In einem offenen Brief an den amerikanischen Präsidenten Wilson protestierte Wegner gegen dieses himmelschreiende Unrecht. Unmittelbar nach Kriegsende fasste Wegner seine Erfahrungen als Augenzeuge in einem Vortrag zusammen, den er ab Oktober 1919 mehrfach hielt. Begleitend zeigte er 100 Dias, die er trotz des Verbots der türkischen Behörden gemacht und wie es im Vortrag heißt "unter der Leibbinde versteckt über die Grenze" geschmuggelt hatte. Wenngleich viele dieser Fotos heute die Ikonographie des Genozids prägen, ist Wegners Augenzeugenbericht bisher nie veröffentlicht worden. Mit der Publikation des Vortrags erhalten die Fotografien nicht nur die durch Wegner autorisierten Bildlegenden, ihre Authentizität wird überdies in einem kritischen Apparat erörtert. Ein Essay von Wolfgang Gust über die historischen Hintergründe des ersten Völkermordes in der Neuzeit ergänzt den Band.
Thomas Hartwig
Die Armenierin
2014 Salon Literatur Verlag
Der deutsche Schriftsteller Armin T. Wegner meldet sich freiwillig als Sanitäter zum Dienst im Osmanischen Reich. Abenteuerlust und Begeisterung für den Orient treiben ihn an. Auf einem Ball verliebt er sich in die bildschöne Armenierin Anusch Tokatliyan. Gegen alle Widerstände reift ihre Liebe heran. Doch die Zeiten sind auf Untergang gestellt. Weltkrieg, Unterdrückung und die massenhaften Zwangsdeportationen des armenischen Volkes brauen sich zu einem gewaltigen Sturm zusammen. Verzweifelt stellt sich Wegner gegen die zerstörerischen Kräfte seiner Zeit. Thomas Hartwig erzählt mitreißend und in dokumentarischer Dichte das Leben Armin T. Wegners, der Stimme Armeniens. Ein flirrendes Konstantinopel, eine große Liebe und die Tragödie des armenischen Volkes werden auf ergreifende Weise lebendig.
Fethiye Cetin
Meine Großmutter
Erinnerungen
2014 Verlag auf dem Ruffel
Eines Tages sagt der Autorin, einer jungen Anwältin, ihre heißgeliebte Großmutter: "Finde bitte meine Verwandten, die in Amerika leben." Damit beginnt sich ein Familiengeheimnis zu lüften, das das Geheimnis vieler Menschen in der Türkei sind, vor allem vieler Frauen: Sie haben armenische Vorfahren, die sie seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr gesehen haben, die sie seitdem verleugnet haben, weil die junge Türkei im Prozeß ihrer Bildung als Nationalstaat entschieden auf Homogenität als Vielfalt setzte, und weil sie die Vertreibung und Ermordung der Armenier 1915/16 ausschwieg. …