Eine Lange Nacht über Robinson Crusoe

Die törichte Neigung, in der Welt herumzuschweifen

Panorama eines einsamen Sandstrandes: In der ferne ist ein Mann zu sehen.
Der Roman "Robinson Crusoe" beschwört die Idee von einem einsamen, aber eigensinnigen und individuellen Leben. © Unsplash / Joshua Ness
Von Christian Blees |
Mit "Robinson Crusoe" begründete der Schriftsteller Daniel Defoe 1719 die Gattung des realistischen Romans. Das Motiv des einsam ausgesetzten Crusoe traf einen Nerv der Zeit – und wurde bis heute unzählige Male kopiert.
300 Jahre nach der Erstveröffentlichung des Romans begibt sich die Lange Nacht auf Spurensuche: Wie viel Fiktion und wie viel Wahrheit stecken in Robinson Crusoe? War Daniel Defoe nicht nur ein ausgemachter Vielschreiber, sondern vielleicht auch ein Rassist? Und was hat es eigentlich mit jener Hauptinsel des Juan-Fernández-Archipels auf sich, die seit 1966 die offizielle Bezeichnung Robinson Crusoe Island trägt?

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Abenteurer statt Jurist

"Da ich der dritte und jüngste Sohn der Familie und noch ohne jede Berufsausbildung war, begaben sich meine Gedanken früh auf allerlei Abwege. Mein Vater, der schon sehr alt war, hatte mir ein gewisses Maß an Bildung zukommen lassen, soweit das durch häusliche Erziehung und den Besuch einer öffentlichen Schule auf dem Lande möglich ist, und für mich eine Laufbahn als Jurist vorgesehen, doch ich hatte mir in den Kopf gesetzt, zur See zu fahren, und an diesem Entschluss hielt ich gegen den Willen, ja, den Befehl meines Vaters und allem Flehen und gutem Zureden meiner Mutter und manchen Freundes zum Trotz so unbeirrt fest, dass darin etwas Schicksalhaftes zu liegen schien, in dem sich jenes Elend ankündigte, das mir beschieden sein sollte."
Der Widerstand gegen die beruflichen Pläne, die der Vater für Robinson hegte, den gab es auch im wahren Leben des Autors. James Foe - den Familiennamen sollte Daniel erst einige Jahre später eigenmächtig um das französische Adelsprädikat "De" ergänzen - war ein gelernter Wachszieher und Kerzenhändler. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte sein Sohn eigentlich Priester werden sollen. Daniel dagegen strebte stattdessen eine Karriere als Kaufmann an.
"Und den wollte er ergreifen, und das hat er dann ja auch gemacht, als Geschäftsmann und als Projekte-Macher, nicht? Er hatte ja am Anfang doch allerlei Projekte, mit denen er zum Teil auf groteske Weise gescheitert ist. Aber er hat es immer wieder versucht, damit in Gang zu kommen", so Heiko Postma.

Der Literaturhistoriker Heiko Postma hat ein kleines Büchlein über Daniel Defoe veröffentlicht. Es trägt den Titel "Projektemacher & Geheimagent, Publizist & Romancier". Allein diese Aufzählung lässt bereits erahnen, dass Daniel Defoe einst ein recht bewegtes Leben geführt haben muss.

Heiko Postma: "Projektsucher & Geheimagent, Publizist und Romancier"
JMB Verlag, Hannover 2010, 67 Seiten

© JMB Verlag
Bei Daniels Berufswunsch könnte vielleicht ein Onkel eine gewisse Rolle gespielt haben. Henry Foe betrieb nämlich eine Sattlerei. Durch diese stand er unter anderem in regelmäßigem geschäftlichem Austausch mit englischen Kolonien in Amerika. Gut möglich also, dass der Beruf des Kaufmanns dem jungen Daniel, der zu seinem Onkel einen regen Kontakt pflegte, einigermaßen reizvoll erschien.
"Ein echter Kaufmann ist immer zugleich auch der vielseitigste Gelehrte. Er versteht fremde Sprachen ohne Lehrbücher, Geografie ohne Landkarten, seine Geschäftsbücher und die Route seiner Handelsreisen umspannen die Welt, und während er in seinem Kontor sitzt, verkehrt er mit allen Nationen und führt mit dem besten und weltoffensten Teil der Gesellschaft eine universale Korrespondenz", so der Schriftsteller Daniel Defoe.
So kam es schließlich, dass Daniel Foe bereits mit Mitte 20 begann, von London aus einen durchaus schwungvollen Import-Export-Handel aus und nach den englischen Kolonien in Amerika zu betreiben - zunächst mit Strumpfhosen, später mit Spirituosen und Tabak. 1684 heiratete Daniel die damals 20-jährige Mary Tuffley, die einer wohlhabenden Familie entstammte. Mary sollte ihm im Laufe der Jahre nicht nur insgesamt acht Kinder gebären, sondern auch eine stattliche Mitgift in die Ehe einbringen. Dies war umso wichtiger, als Daniel Foe - der keinerlei kaufmännische Ausbildung absolviert hatte - mit seinen geschäftlichen Unternehmungen im Laufe der Zeit immer waghalsiger wurde.
Trailer zu einer Robinson-Crusoe-Verfilmung im Jahr 1997:
1692 - er war damals 32 Jahre alt - betrug Daniel Foes Schuldenstand sagenhafte 17.000 Pfund. Im Vergleich dazu lag der durchschnittliche Jahresverdienst eines Handwerkers zu dieser Zeit bei nur rund 40 Pfund. Um seinen vielen Gläubigern zu entkommen, ließ Foe seine Ehefrau und die Kinder kurzerhand in London zurück und flüchtete auf die Orkney-Inseln.
"Das Inselleben bot ihm die Möglichkeit, den inneren Frieden wiederzufinden. Der Gedanke, dass Foe wohl hier erstmals Sinn für das Leben auf einer Insel entwickelt haben dürfte, ist naheliegend, zumal einige nautische Details in Robinson Crusoe an die Gegebenheiten der Orkney-Inseln erinnern. Doch es scheint, dass seine kaufmännische Misswirtschaft noch auf ganz andere Weise als wesentliche Voraussetzung gerade für seine Romane diente: Er lernt die Verzweiflung und die menschlichen Abgründe aus eigener Erfahrung kennen", sagt Wolfgang Riehle.
Weil er seine Familie auf Dauer nicht allein lassen wollte, kehrte Daniel Defoe nach einiger Zeit aus dem Inselversteck zurück nach London. Dort gelang es ihm, finanziell allmählich wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen.
"Und dann hatte er - und das war durchaus erfolgreich - eine Firma gegründet, die Ziegel herstellt, also eine Ziegelei. Und da hatte er Absätze, weil nämlich die Dissenter auf ihren Gotteshäusern die Ziegel verwendet haben," sagt Heiko Postma.
Die so genannten Dissenter waren religiöse Abweichler, die sich nicht zur anglikanischen Bischofskirche, der Church of England, bekennen wollten. Auch Defoes Familie gehörte den Dissenters an.

"Defoe war ein Befürworter der Migration"

"Es gibt bestimmte Themen, die bei Defoe immer wiederkehren, und das sind Themen, die wir heute immer noch in unseren Gesellschaften verhandeln: Migration - ist Migration etwas Gutes? Ist es etwas Schlechtes? Defoe war ein glühender Befürworter der Migration. Und sein Argument war ein Argument, was wir heute auch noch hören. Er hat gesagt: 'Wenn diese Leute zu uns kommen, werden sie tüchtig daran arbeiten, eine eigene Existenz aufzubauen. Sie brauchen Nahrungsmittel, sie brauchen Kleidung, sie brauchen alles Mögliche, was unsere Wirtschaft positiv beeinflussen wird, unsere Wirtschaft nach vorne bringen wird.' Das waren Defoes Argumente", so Christoph Houswitschka.

Über Christoph Houswitschka:
Christoph Houswitschka ist Anglist am Lehrstuhl für englische Literaturwissenschaft der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert regierte in England König Wilhelm der Dritte von Oranien, ein gebürtiger Holländer. Aber eigentlich durfte die einheimische Armee nur aus gebürtigen Engländern bestehen. In einem Pamphlet wurden der König und sein Beraterstab daraufhin sogar als "Buren-Brut" verunglimpft. Dies ging Daniel Foe eindeutig zu weit, obwohl er mit den Zielen der sogenannten Whigs sympathisierte. Als direkte Antwort auf das Pamphlet der Whigs veröffentlichte Daniel Foe 1701 ein längeres, satirisches Gedicht. Es trug den Titel "The True-Born Englishman", "Der waschechte Engländer".
Das Gedicht, mit dem Daniel Foe für Toleranz gegenüber nationalen und religiösen Minderheiten eintrat, wurde auf Anhieb zum Besteller. Der überraschende Erfolg brachte ihn dazu, seinem Nachnamen Foe die noble Vorsilbe De hinzuzufügen. Von da an trug er offiziell nur noch den Namen Daniel Defoe.
Im Laufe seines Lebens sollte Daniel Defoe insgesamt weit über 500 sogenannte Pamphlete veröffentlichen.

Flucht nach Schottland

"Er hat das mit einem großen Engagement vertreten und immer wieder festgestellt, dass Männer und Frauen völlig gleichrangig seien - dass aber durch die politische Situation Frauen also darauf reduziert würden, außer Lesen und Schreiben vielleicht noch Häkeln und Nähen zu lernen, aber von Bildungseinrichtungen ferngehalten würden", sagt Heiko Postma.
Aber die Zeiten änderten sich: Am 19. März 1702 kam König Wilhelm der Dritte bei einem Reitunfall ums Leben. Weil Wilhelms eigene Ehe kinderlos geblieben war, wurde seine Schwägerin, Anne Stuart, zur Thronfolgerin ernannt.
Um sich dem Zugriff des englischen Rechts zu entziehen, floh Daniel Defoe erneut - diesmal aufs schottische Festland. Doch dort hielt er es nicht lange aus. Wie schon zuvor, bei seiner Flucht auf die Orkney-Inseln, trieb ihn die Sorge um Frau und Kinder schließlich zurück nach London. Dort wurde Defoe jedoch von einem Denunzianten verraten. Denn auf seinen Kopf war eine Belohnung ausgesetzt. Daniel Defoe wurde daraufhin nicht nur öffentlich an den Pranger gestellt. Er landete auch für eine zunächst unbestimmte Zeit im berüchtigten Londoner Gefängnis Newgate.
Szene aus der Robinson-Crusoe-Verfilmung "Freitag und Robinson" von Jack Gold aus dem Jahr 1975 mit Peter O’Toole und Richard Roundtree in den Hauptrollen
Peter O’Toole und Richard Roundtree in dem Film "Freitag und Robinson" (1975).© imago/Prod.DB
Der neue Premierminister Robert Harley konnte sich aber schlicht nicht vorstellen, dass Daniel Defoe sein provozierendes Traktat über die Dissenter tatsächlich wörtlich gemeint hatte. Ein politisch derart versierter Autor, so glaubte Harley, dürfe sein Dasein nie und nimmer im Gefängnis fristen. Ganz im Gegenteil: Harley fragte Defoe sogar, ob sich dieser vorstellen könne, im Auftrag der Regierung quasi als Geheimagent nach Schottland zu reisen.
Heiko Postma: "Man muss dazu wissen, dass damals ja die Verhandlungen liefen, dass man Schottland in das Königreich integrieren könnte. Das war alles unter Queen Anne. Das sollte also jetzt vorbereitet werden, und Defoe ist nach Schottland geschickt worden, um dort under cover, in verschiedensten Rollen - die er alle übrigens glänzend gespielt hat - für diese Union zwischen England und Schottland zu werben."

Robinson hatte ein reales Vorbild

Auf Empfehlung Harleys ist Defoe dann für insgesamt neun Jahre als verantwortlicher Redakteur der mehrmals wöchentlich erscheinenden Zeitschrift "Review" tätig. Bis er eines Tages von dem tragischen Schicksal eines schottischen Seefahrers erfuhr: Alexander Selkirk hatte seit dem 19. Lebensjahr auf unterschiedlichen Schiffen angeheuert. So war er unter anderem ab 1704 zunächst auf dem englischen Kaperschiff St. George mitgesegelt, später auf dessen Begleitschiff Cinque Ports. Die Mannschaften beider Schiffe waren ausgestattet mit einem so genannten Kaperbrief der britischen Krone.
"Im damaligen Seekrieg spielte der Welthandel eine wichtige Rolle. Die Spanier hatten ihr Reich bis nach Südamerika ausgedehnt und die Engländer wollten eigentlich mit ihnen Handel treiben. Aber die Spanier hatten darauf keine Lust und errichteten hohe Zollbarrieren. Darauf antworteten die Engländer, indem sie Segelschiffe nach Südamerika schickten und die dort fahrenden, spanischen Handelsschiffe kapern ließen. Damit versetzten sie der spanischen Wirtschaft einen schweren Schlag," so Andrew Lambert.

Über Andrew Lambert:
Andrew Lambert ist Marinehistoriker am Londoner King’s College. Er hat ein Buch über die Crusoe-Insel verfasst, in dem er auf wechselvolle Geschichte der Insel eingeht.

Andrew Lambert: "Crusoe's Island"
Faber & Faber, London 2016
306 Seiten, 8,99 Euro

© Faber & Faber
Die in der Regel mehrmonatigen Kaperfahrten brachten für die Beteiligten nicht nur extreme Wetterbedingungen mit sich, sondern auch oft unmenschliche Entbehrungen. Darum kam es zwischen den Kapitänen der St. George und der Cinque Ports immer wieder zum Streit. Dies führte letztlich dazu, dass die beiden Schiffe getrennte Wege fuhren. Alexander Selkirk beschloss, sich der Besatzung der Cinque Ports anzuschließen. Aber mit deren Kapitän Thomas Stradling geriet der erfahrene Seemann in Streit und blieb schließlich auf der Insel Juan Fernandez zurück.
Er sollte insgesamt vier Jahre und vier Monate auf der einsamen Insel verbringen, bevor er schließlich gerettet wurde. Immerhin war ihm durch seine Meuterei das Schicksal jener Matrosen erspart geblieben, die vor seinen Augen auf der Cinque Ports davongesegelt waren. Denn es kam tatsächlich so, wie es Selkirk bereits vorausgeahnt hatte: Das Schiff sank, die komplette Besatzung kam ums Leben. Defoe griff diese Geschichte auf. Andrew Lambert:
"Selkirks Geschichte wird von Daniel Defoe aufgegriffen, den man als Erfinder des modernen englischen Romans bezeichnen könnte. Durch Defoes geübte Hand wandelt sich Selkirk vom schottischen Seefahrer, der vor allem an Kaperfahrten teilnimmt, in eine ganz andere Person. Defoe war ein unglaublich belesener Zeitgenosse. Er kannte sämtliche Literatur, die für ihn wichtig war. Insofern hat er sich für den Robinson nicht nur an einem einzigen Bericht orientiert, sondern an so ziemlich allen Geschichten, die er über die Südsee finden konnte. Sie alle hat er dann miteinander verwoben - um letzten Endes ein Schicksal zu erzählen, das mit Piraterie so gut wie gar nichts mehr zu tun hatte."
Zum ersten Mal überhaupt in seinem Leben machte sich Daniel Defoe daran, einen Roman zu Papier zu bringen. Weil er es als Journalist und Verfasser von Pamphleten aber gewohnt war, eher sachlich zu schreiben, tarnte er sein Werk als Tatsachenbericht. Veröffentlicht wurde die von ihm im Grunde dennoch völlig frei erfundene Geschichte schließlich im April 1719.

Kritische Reflexion des Romans

"Noch immer wusste ich nicht, wo ich war, ob auf dem Festland oder auf einer Insel, ob in bewohntem oder unbewohntem Gebiet, ob Gefahr durch wilde Tiere drohte oder nicht. In weniger als einer Meile Entfernung lag ein recht steiler und hoher Hügel, der einige andere Hügel, die in nördlicher Richtung einen Höhenzug bildeten, zu überragen schien."
Mit diesen Worten beschreibt Robinson Crusoe jene Insel, auf der er in Daniel Defoes Roman insgesamt mehr als 28 Jahre verbringen wird. Zwar diente Alexander Selkirk gewissermaßen als Vorbild für Robinson Crusoe. Doch verortete Daniel Defoe die Robinson-Insel in seinem Roman an völlig anderer Stelle.
"Die nach Robinson Crusoe benannte Insel, die zuvor den Namen Juan Fernández getragen hatte, hat mit der Geschichte im Roman nichts zu tun. Bei dieser handelt es sich nämlich um eine frei erfundene Insel, die sich an der Mündung zum Orinoko-Fluss befindet - an der karibischen Küste Südamerikas, und nicht an der pazifischen. Das liegt daran, dass der Orinoko sehr eng verknüpft ist mit einem von Daniel Defoes Helden, Sir Walter Raleigh. Raleigh war am Orinoko auf der Jagd nach spanischem Gold gewesen", sagt Andrew Lambert.
Sir Walter Raleigh hatte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Seefahrer die Welt bereist und galt als Günstling der damaligen englischen Königin, Elisabeth der Ersten. Er startete zum Beispiel eine Expedition nach Südamerika, um am Orinoko nach Gold zu suchen. Seine dort gemachten Erfahrungen veröffentlichte Raleigh anschließend in einem Reisebericht. Gelesen wurde dieser - allerdings erst mit mehreren Jahrzehnten Verspätung - unter anderem auch von Daniel Defoe.
Aufnahme von alten Exemplaren der Bücher "Robinson", "Lederstrumpf" und "Rübezahl".
Robinson Crusoe gehört zu den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur.© imago /Chromorange
Dass die angeblich wahre Geschichte von Robinson Crusoe tatsächlich frei erfunden war, schien die Leser nicht weiter zu stören. Im Gegenteil: Daniel Defoe reagierte damit im Grunde nur auf ein damals weit verbreitetes Misstrauen.

"Menschen wie du und ich"

Dieter Petzold: "In der Literaturgeschichtsschreibung wird Defoe häufig als der Begründer des realistischen Romans bezeichnet; er stattet seine Protagonisten mit praktischer Klugheit aus und wertet ihre Verfehlungen nicht als simple Zeichen moralischer Verworfenheit, sondern macht sie als Auswirkungen ungünstiger sozialer Umstände verständlich und bis zu einem gewissen Grade verzeihlich. So außergewöhnlich die Schicksale seiner Helden und Heldinnen auch sind, so erscheinen diese dennoch als "Menschen wie du und ich". Die Darstellung des Durchschnittsmenschen als Romanheld darf wohl erstmals bei Defoe als gelungen angesehen werden."
Die Originalausgabe erreichte nicht nur innerhalb weniger Wochen gleich mehrere Auflagen. Das Buch wurde fast von Beginn an auch weltweit in vielen anderen Sprachen nachgedruckt - und das oft in mehr oder weniger stark bearbeiteten Fassungen. Diese waren mal 300 Seiten lang, mal aber auch nur 150 - ganz zu schweigen von so genannten illustrierten Chapbooks. Das waren dünne, oft nur zwei Dutzend Seiten umfassende Groschenromane, gedruckt auf schlechtem Papier. Insgesamt erschienen so allein zwischen 1719 und 1819 weltweit insgesamt über 150 verschiedene, gekürzte Robinson-Crusoe-Ausgaben.
"Ich kann mich nicht erinnern, dass ich das Buch je ganz gelesen hätte. Und als ich’s dann ganz gelesen habe, ist mir das auch klar geworden: dass ich es nie ganz gelesen habe," sagt Rudolf Mast.

Über Rudolf Mast:
Rudolf Mast hat Robinson Crusoe für eine 2019 erschienene Neuausgabe des Hamburger mare Verlags ins Deutsche übertragen - und zwar als Erster überhaupt nach sehr langer Zeit endlich einmal wieder vollständig.

Daniel Defoe: "Robinson Crusoe"
Aus dem Englischen von Rudolf Mast
Mare Verlag, Hamburg 2019
416 Seiten, 42 Euro

Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
© Mare Verlag
So wie der Übersetzer Rudolf Mast dürften auch von uns wohl nur die wenigsten den "Robinson" jemals wirklich ungekürzt kennen gelernt haben. Nach etwa 60 der insgesamt rund 400 Romanseiten landete Robinson auf der einsamen Insel. Das eigentliche Abenteuer des berühmten Schiffbrüchigen konnte damit endlich beginnen.
"Es gibt bestimmte literarische Traditionen, aus der Robinson Crusoe hervorgegangen ist, nämlich ein typisch puritanisches Genre: die sogenannte spirituelle Autobiografie. Das war ein Genre, wo es darum ging, sein eigenes Leben genau unter die Lupe zu nehmen, es abzusuchen, abzuklopfen auf Hinweise für das Wirken Gottes oder für den Willen Gottes, und daran dann sein eigenes, sein eigenes Tun auszurichten", sagt Nikolaus Stingl.
Hinter der göttlichen Vergebung, die Robinson Crusoe am Ende des Buches durch seine Rettung erfährt, verbirgt sich gleichzeitig noch eine ganz andere Denkart - und zwar eine stark ökonomische.
Nikolaus Stingl: "Anfang des 18. Jahrhunderts, da war ein großer gesellschaftlicher Wandel in Gange, in England. Und es gab innerhalb des Kapitals, wenn man so will, auch einen Interessengegensatz. Es gab eine Fraktion innerhalb des Kapitals, die war restriktiv, die war auf die Bewahrung des Besitzstandes ausgerichtet. Das waren die Großgrundbesitzer. Und es gab ein expansives, auf Eroberung, auf Erweiterung des ökonomisch kontrollierten Raumes gerichtetes Finanzkapital. Und manche Interpreten lesen Robinson Crusoe so, dass es gewissermaßen die Parabel dieser zweiten Fraktion war."

Sklaverei und Rassismus

Bei dem Roman handelt es sich auch um eine Art Wirtschaftslektüre des frühen 18. Jahrhunderts. Im Vorwort seines angeblichen Tatsachenberichts schreibt Daniel Defoe, er wolle die Leser gleichermaßen unterhalten wie belehren. Der Dissenter Daniel Defoe und der Schiffbrüchige Robinson Crusoe entsprechen beide recht stark unserem eigenen, modernen Menschenbild. Doch gibt es an dem Roman auch so manche Kritik, weil er offensichtlich schnell und mit vielen Fehlern geschrieben wurde. Auch hat Defoe sich anderer Literatur, auch seiner eigenen Werke bedient. Die Kritik an dem Kolonialismus in dem Buch ist heute auch häufig zu hören.
"An die Gefahren, die damit verbunden waren, verschwendete ich einstweilen keinen Gedanken, etwa, dass ich leicht in die Hände von Wilden fallen könnte, möglicherweise sogar solchen, von denen ich mit gutem Grund annehmen konnte, dass sie noch schlimmer waren als die Löwen und Tiger Afrikas. Wäre ich erst einmal in ihrer Gewalt, dann läge das Risiko, getötet und womöglich verspeist zu werden, bei etwa tausend zu eins, denn ich hatte gehört, dass die Bewohner der karibischen Küste Kannibalen, also Menschenfresser, waren, und da ich wusste, auf welchem Breitengrad ich mich befand, wusste ich auch, dass ich nicht weit von dieser Küste entfernt sein konnte."
"Hier wird dieser Mythos des Kannibalismus aufgerufen, was erst mal sehr problematisch ist. Weil es natürlich diese Kannibalen nicht gab. Das war ein kolonialistisches Narrativ, das eben legitimieren sollte, dass sie die guten Menschen sind. Denn Menschen, die einander essen, sind keine wirklichen Menschen - also können kolonisiert, enteignet, versklavt werden. Das ist so der Duktus, in dem er da also auch Friday begegnet," meint Susan Arndt.

Über Susan Arndt:
Susan Arndt ist Professorin für englische Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth.

Susan Arndts Kollege, Christoph Houswitschka aus Bamberg, findet: Dass Daniel Defoe in Robinson Crusoe Kannibalen auftreten lässt, habe keineswegs nur etwas mit Rassismus zu tun. Seiner Meinung nach nutze Defoe das abstoßend erscheinende Verhalten der Kannibalen sogar als Mittel zur Selbstreflexion.
"Das Interessante ist, dass bei der ersten Begegnung mit den Kannibalen und das ist ja hier Natur, auch - er nicht angreift. Er interveniert nicht. Er sagt, dass diese Sünde - sich gegenseitig hier umzubringen und sogar aufzuessen -, das ist eine Sünde, die muss Gott bestrafen. Das kann ich nicht tun. Und das ist natürlich was sehr Interessantes. Das modifiziert auch wieder Robinson als Kolonisator."

Robinsonaden - die Geburt einer Literaturgattung

"Als ich die Insel schließlich verließ, nahm ich zum Andenken die große Mütze aus Ziegenfell, die ich selbst gemacht hatte, den Schirm und den Papagei mit aufs Schiff. Ich vergaß auch nicht, das Geld einzustecken, von dem ich erzählt habe, das so lange nutzlos herumgelegen hatte, dass es rostig geworden oder zumindest angelaufen und kaum mehr als Silber erkennbar war, bis ich es ein wenig abgerieben und gereinigt hatte. Auch das Geld, das ich an Bord des spanischen Schiffes gefunden hatte, nahm ich mit. Und so verließ ich, wie ich dem Logbuch des Schiffes entnahm, am 19. Dezember 1686 die Insel, auf der ich achtundzwanzig Jahre, zwei Monate und neunzehn Tage verbracht hatte."
Nach der Rettung von der Insel geht der Roman weiter: Robinson kehrt zunächst zurück ins heimische London, anschließend dann auf seine Zucker- und Tabakplantagen in Brasilien. Wirklich abgeschlossen war die Robinson-Saga aber auch damit noch lange nicht. Denn der Roman hatte sich seit seiner Veröffentlichung im Frühjahr 1719 auf Anhieb derart gut verkauft, dass Daniel Defoe schon kurze Zeit später gleich noch einen zweiten Band hinterherschob. Dieser trug den Titel "Die weiteren Abenteuer des Robinson Crusoe".
"Er ist in England. Er kehrt wieder zurück und gründet, wenn man so will, einen kleinen Staat auf der Insel, weil er dann das Leben in London und in England - in dem Fall schon Großbritannien - vergleicht mit dem Leben auf seiner Insel. Und zu der Entscheidung kommt: Das Leben auf der Insel war eigentlich besser," sagt Walter Wehner.
Zwar verkaufte sich die Fortsetzung deutlich schlechter als der erste Band. Doch das konnte Daniel Defoe nicht davon abhalten, im August 1720 sogar noch einen dritten Teil zu veröffentlichen. Bei diesem handelte es sich jedoch insgesamt um eine eher krude Ansammlung philosophisch-religiöser Thesen. Darum verschwand das Werk schon bald in der literarischen Versenkung.
Porträtfotografie des Autors Jules Verne um 1892.
Auch Jules Verne schrieb eine Robinsonade.© John Parrot/Stocktrek Images
Was aus heutiger Sicht geradezu tragisch erscheint: Viele Crusoe-Ausgaben wurden vor allem im 18. Jahrhundert als illegale Raubdrucke vertrieben. Darum blieb Daniel Defoe - trotz insgesamt enormer Verkaufszahlen - ein durchschlagender finanzieller Erfolg letztlich versagt. Und nicht nur das: Gegen Ende seines Lebens wurde der Autor plötzlich auch noch mit Schulden aus der Vergangenheit konfrontiert. So kam es, dass Daniel Defoe die Jahre vor seinem Tod am 24. April 1731 in finanziell recht bescheidenen Verhältnissen verbrachte. Zumindest das literarische Echo des berühmten Romans aber sollte lange Zeit nachhallen - sogar bis heute.
Die erste deutsche Übersetzung kam schon 1720 auf den Markt - und damit nur ein Jahr nach dem englischsprachigen Original. Im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte gab es zudem weltweit auch unzählige Nachahmer, so dass sich für solche Werke der Begriff "Robinsonade" etablierte.
Mara Stuhlfauth-Trabert: "Das erste und sicherlich wichtigste Grundmuster ist die Isolation. Sie ist die notwendige Bedingung für eine Robinson-Handlung. Also: Der Protagonist - oder eine kleine Gruppe; je nachdem, ob wir es mit einer Einzel- oder Gruppenrobinsonade zu tun haben -, die sind in einem räumlich begrenzten Areal auf sich ganz alleine gestellt."

Über Mara Stuhlfauth-Trabert:
Mara Stuhlfauth-Trabert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität. 2011 hat sie eine Abhandlung über moderne Robinsonaden veröffentlicht. Darin beschreibt die Germanistin bestimmte Grundmuster, die für diese literarische Gattung stilprägend sind – vom Ur-Robinson bis heute.

Egal, worum es sich handelt - um den Schiffbrüchigen auf einer einsamen Insel, den letzten Bewohner der Erde überhaupt oder auch um einen Astronauten, der auf einem fernen Planeten gestrandet ist: Die jeweiligen Protagonisten werden in der Regel schon bald mit dem zweiten Grundmuster konfrontiert, das Mara Stuhlfauth-Trabert als Grundlage einer Robinsonade ausgemacht hat: den physischen Überlebensbemühungen.
Die Robinsonaden-Sammlung des Germanisten Walter Wehner aus Iserlohn umfasst mittlerweile rund 3.000 Robinsonaden aus der ganzen Welt. Beeindruckend ist dabei allein die Liste mit Werken berühmter Autoren. Hier ein Auszug:
  • "Insel Felsenburg" von Johann Gottfried Schnabel, erschienen in vier Bänden zwischen 1731 und 1743. Darin erhielt der Protagonist einen geheimnisvollen Brief, der von einer Insel im Südmeer berichtete: der Insel Felsenburg. Dort, so hieß es, sei ein 97-jähriger Verwandter des mit Namen Albert Julius einst gestrandet. Im Laufe der Jahre habe Julius weitere Schiffbrüchige um sich geschart, mit denen er inzwischen angeblich ein paradiesisches Inselleben führe. Neugierig geworden, machte sich der Protagonist des Romans daraufhin auf den Weg. Begleitet wurde er dabei unter anderem von einem erfahrenen Kapitän sowie rund einem Dutzend weiterer Personen. Nach diversen Zwischenfällen hatten sie ihr Ziel, die Insel Felsenburg, schließlich erreicht - und kamen vor Ort aus dem Staunen kaum heraus.
  • Der Tarzan-Erfinder Edgar Rice Burroughs beschrieb in seinem Roman "Caprona - im Reich der Dinosaurier" ein im wahrsten Sinne fantastisches Inselabenteuer. Darin entdeckte die Besatzung eines U-Bootes das auf keiner Karte verzeichnete, magnetische Inselreich mit Namen Caprona. Bevölkert wurde dieses von Dinosauriern und eierlegenden Menschen.
  • Der als Theaterautor bekannt gewordene Gerhart Hauptmann wiederum schilderte in dem Roman "Die Insel der großen Mutter" von 1924 das Schicksal einer Frauenrepublik. Gegründet worden war diese von über einhundert Frauen aus ganz Europa. Sie waren eines Tages auf einer unbewohnten Südsee-Insel gelandet.
  • Arno Schmidt schrieb mit seiner Erzählung "Schwarze Spiegel" eine Robinsonade: In der 1951 veröffentlichten Geschichte durchstreifte der letzte Überlebende des dritten Weltkriegs die durch Atomwaffen verwüstete Lüneburger Heide.
  • Die US-amerikanischen Autorin Joanna Ross lässt in ihrem Roman "Wir, die wir geweiht sind" eine Frau und vier Männer auf einem unerforschten Planeten stranden, ihrem baldigen Tod entgegen blickend. Die Frau möchte nicht zur Fortpflanzung missbraucht werden und tötet alle Männer - und geht schließlich selbst in der Natur auf.
  • Jule Verne verschlägt in seinem Roman "Die Kinder des Kapitän Grant" aus dem Jahre 1867 seine Protagonisten auf eine einsame Insel.

Die Geschichte der Robinson-Crusoe-Insel

Am 22. November 1574 wurde die heutige Robinson-Crousoe-Insel erstmals von Menschen besucht. Der spanische Seefahrer Juan Fernández war damals unterwegs an der Westküste Südamerikas, von Peru nach Chile. Bis dahin hatte eine solche Fahrt mit dem Schiff in südlicher Richtung immer rund 90 Tage gedauert.
"Die Reise von Cajao im heutigen Peru nach Valpaiso in Mittel-Chile geht in südlicher Richtung genau entgegen dem Humboldt-Strom. Das heißt: Man hat gegen den Strom anzukämpfen. Und Juan Fernandez wurde im November 1574 abgetrieben, von Ostwinden, in ein anderes Stromsystem, das ihn schnell voranbrachte. Außerdem hatten sie sehr günstige Winde, so dass sie tatsächlich, trotz der längeren Strecke, nur ein Drittel der üblichen Zeit brauchten. Das hat so viel Aufregung verursacht, dass sich auch die Inquisition intensiv mit diesem Fall auseinandergesetzt hat", sagt Hans-Rudolf Bork
"Niemand glaubte ihm, als er behauptete, die Strecke von Lima hierher in lediglich einem Monat geschafft zu haben. Er wurde bezichtigt, sich der Hexerei bedient zu haben, um Winde und Strömungen umzukehren, und musste sich vor der Inquisition rechtfertigen. Als aber andere Seefahrer seine Route bestätigten, wurde er wegen des erwiesenen Dienstes für den König von Spanien mit einem Landgut und dem Titel "Oberlotse der Südsee" belohnt," so Diana Souhami in ihrem Buch "Selkirks Insel".
Eine gezeichnete Illustration zeigt Robinson Crusoe und seinen Partner Freitag, die aus den Büschen auf Personen am Strand schießen
Eine Illustration zeigt Robinson Crusoe und seinen Partner Freitag, die aus den Büschen auf Personen am Strand schießen© imago/United Archives
Nachdem Juan Fernández die Insel 1574 entdeckt hatte, begannen sich auch andere für das Eiland zu interessieren. Vor allem Piraten, die vor den Küsten Südamerikas spanische Schiffe kapern wollten, machten fortan gerne hier Halt.
Hans-Rudolf Bork: "Sie haben sich dort von der schweren Überfahrt erholt und fanden Wasser und reichlich Fleisch, Ziegenfleisch, vor. Die Spanier versuchten die Ziegen auszurotten, um die Ernährungsgrundlage für die Piraten zu zerstören. Damit die also nicht das gute Fleisch vorfinden. Es gab so viele, Zehntausende von Ziegen, dass es leicht war für die Piraten, welche zu erlegen. Und die konnten quasi in Saus und Braus dort leben - bestes Süßwasser und eben reichlich Fleisch. Deswegen haben die Spanier die Windhunde ausgesetzt. Aber das war ein Fehlschlag."
Zum Glück für Alexander Selkirk, muss man wohl sagen. Denn als dieser 130 Jahre später allein auf Juan Fernández zurückblieb, fand er tausende von Ziegen vor. Diese hatten im Laufe der Zeit sogar eine eigene Rasse herausgebildet. Die Tiere mit braunem Fell waren kleiner als die ursprünglich ausgesetzten Exemplare und bekamen sogar eine eigene Bezeichnung. Man nannte sie Juan-Fernández-Ziegen.

Eigene Fangtechniken entwickeln

"Und Alexander von Selkirk hat es offensichtlich geschafft, nach und nach Techniken zu entwickeln, eben die Ziegen nicht nur zu schießen, sondern auch zu fangen, in Fallen zu locken. Er hatte ja nicht viel Munition, nur wenige Schuss Munition mitbekommen, als er ausgesetzt wurde, musste andere Fangtechniken entwickelt", sagt Andreas Mieth.
Im Jahre 1877 - die Insel stand inzwischen unter chilenischer Verwaltung - begann der zweite Versuch, das Eiland fest zu besiedeln. Initiator war diesmal ein Schweizer Baron: Alfred von Rodt, stammte aus einer Berner Aristokratenfamilie und war im Alter von 34 Jahren nach Chile ausgewandert. Insgesamt 28 Jahre seines Lebens hatte er bis dahin auf der Insel verbracht - und damit kurioserweise genauso viele wie Robinson Crusoe in Daniel Defoes Roman.
"1935 ist ein wichtiger Zeitpunkt. Die Insel wurde zum Nationalpark erklärt - und ein Deutsch-Chilene hat anlässlich der Feier sechs Kaninchenpaare aussetzen lassen. Während die Ziegen die Wälder zerstört haben, haben die Kaninchen durch ihren Fraß Gräser und Kräuter auch beseitigt. Und die Erosion hat die Böden so stark zerstört, dass in den tieferen Lagen der Insel heute eine Wüste vorliegt, wo wir eigentlich feuchte Regenwälder hätten", sagt Hans-Rudolf Bork.
Die Ziegen sind indes verschwunden, sie wurden 1977 von Rangern geschossen, nachdem die Insel in das "World Reserve Biosphere" aufgenommen wurde, weil sie das empfindliche Ökosystem bedrohten.

Ein biologischer Tresor

"Die Robinson-Crusoe-Insel ist ja nicht sehr groß, gerade 48 Quadratkilometer - also eigentlich eine kleine Insel. Und trotzdem ist sie unglaublich reich an Tier- und Pflanzenarten, die es weltweit nur hier, auf dieser Insel, gibt. Man zählt noch heute mehr als 130 Pflanzenarten alleine, die nur auf dieser Insel vorkommen. Und man muss vermuten, dass es früher noch mehr dieser einmaligen Arten gewesen sind, die man als endemische Arten bezeichnet. Ja, man kann sagen: Die Insel Robinson Crusoe ist so etwas wie ein biologischer Tresor von einmaligen Arten, mit sehr, sehr kleinen Populationen, zum Teil - Arten, deren Bestand zum Teil nur noch einige Dutzend Exemplare zählt", sagt Andreas Mieth.
Etwas ganz Besonderes, sagt Andreas Mieth, sei zum Beispiel auch der so genannte Juan-Fernández-Kolibri. Mit seinem roten Gefieder sei das Kolibri-Männchen wunderschön anzuschauen - unter anderem dann, wenn es durch die Wälder schwirre und auf einem Kohlbaum Platz nehme. Denn nur an dessen Blüten, erklärt der Biologe, finde der Juan-Fernández-Kolibri seine Nahrung. Diese ganz besondere Lebensgemeinschaft sei heutzutage allerdings stark bedroht. Denn von der Gattung des Kohlbaumes - seine nächsten biologischen Verwandte sind übrigens kontinentale Gänseblümchen - gebe es auf der Insel nur noch wenige Exemplare.
Als seien Flora und Fauna auf der Robinson-Insel in den rund 450 Jahren seit ihrer Entdeckung durch Menschen noch nicht genug in Mitleidenschaft gezogen worden, kam es am 27. Februar 2010 zur bislang größten Naturkatastrophe vor Ort überhaupt: Um drei Uhr morgens desselben Tages brach eine Monsterwelle, ein so genannter Tsunami, über das Eiland herein. Ausgelöst worden war dieser durch ein Erdbeben in Mittel-Chile. Die meisten der rund 600 Inselbewohner, die größtenteils in der Ortschaft San Juan Bautista leben, wurden im Schlaf überrascht. Viele Bewohner von Juan Bautista waren durch die Katastrophe derart frustriert und deprimiert, dass sie für immer auf das chilenische Festland flüchteten.

Produktion dieser Langen Nacht:
Autor: Christian Blees, Regie:, Redaktion: Dr. Monika Künzel, Webproduktion: Jörg Stroisch

Über den Autor:
Christian Blees studierte an der FU Berlin Publizistik, Politik und Theaterwissenschaften. Seit 1992 ist er als freier Journalist und Autor tätig, vor allem für den öffentlich-rechtlichen Hörfunk. Schwerpunkt seiner Arbeit sind Radiofeatures zu kulturellen und politischen Themen, wie etwa der US-Rundfunkgeschichte, Martin Luther King, Glenn Miller, dem Nationalsozialismus oder der DDR-Staatssicherheit. Für sein Feature "Mythos JFK - Leben und Sterben des John F. Kennedy" wurde er 2014 den Radiopreis der RIAS Berlin Kommission ausgezeichnet.

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