Patrick Humphries: Die vielen Leben des Tom Waits. Bosworth Musikverlag, Berlin 2008, 400 Seiten, 24,95 EUR.
Songs von Menschen im Straßengraben
Tom Waits zeichnet sich durch vieles aus: tiefe Stimme, Texter, Sänger, Schauspieler, Klavierspieler, 19 Platten, 42 Filme. Schon lange ist er kein Hobo oder Nachtschwärmer mehr, sondern ein seriöser Familienvater.
Es gibt tausende Bücher über Bob Dylan und über den "King", Elvis. Aber nur eine Handvoll Bücher über Tom Waits: Zwei ausführliche Biografien, beide geschrieben von Briten, einer von ihnen ist Patrick Humphries. In seiner Biographie "The many lives of Tom Waits - die vielen Leben des Tom Waits", unterstreicht er, dass Tom Waits, seine charakteristische Stimme und seine außergewöhnlichen Versuche mit seinen Songs das alltägliche Dasein zu beschreiben, eine besondere Faszination ausübt. Als Singer-Songwriter in den sehr frühen 70er-Jahren war Tom Waits einer von vielen und er war ein süßer, stimmhafter Sänger. Das änderte sich über die Jahre. Später kam noch eine Karriere als Schauspieler hinzu. Er hatte viele Leben, darin war er einzigartig.
Zeitgeist 1949
Mao, Gründung der Nato, Orwells "1984" erscheint, Arthur Millers "Tod eines Handlungsreisenden" wird am Broadway uraufgeführt, die erste Weltausstellung nach dem Krieg im haitischen Port-aus-Prince, die Gründung zweier deutscher Staaten, Papst Pius XII droht jenen Katholiken den Ausschluss aus seiner Kirche an, wenn sie einer kommunistischen Partei beitreten, kommunistische Bücher oder Zeitschriften herausgeben, lesen oder verfassen: Das ist der soziopolitische Kontext, in den der Musiker und Schauspieler Tom Waits geboren wird.
Am 07.Dezember 1949 wird Tom Waits im Pomona im US-Bundesstaat Kalifornien geboren. Sein Vater Jesse Frank war benannt nach den beiden Banditen Jesse und Frank James. Er arbeitete als Spanischlehrer und war Alkoholiker. Seine Mutter Alma war Puritanerin und Hausfrau und - wie manche Quellen behaupten - ebenfalls Lehrerin. Tom wuchs mit zwei Schwestern auf. Als kleiner Junge wollte er immer ein alter Mann sein: "Ich setzte mir den Hut von meinem Opa auf, nahm seinen Spazierstock und senkte meine Stimme. Ich wäre dafür gestorben, alt zu sein." Waits war zehn Jahre alt, als seine Eltern sich trennten. Sein Vater war ein harter Knochen, "er schlief in den Orangenhainen, ein Rebell, der einen Rebellen aufzog. Mein Vater, euer Vater, die Sünden der Väter werden die Söhne heimsuchen, jeder weiß das." Über seinen Vater sagt Waits, dass er ein "Auspuffkrümmer" gewesen sei, seine Mutter bezeichnete er als Baum.
Zwischen Nebenjobs und Musik
Waits arbeitete mit 15 Jahren als Geschirrspüler in einer Pizzeria. Mit 18 verließ er die Schule. Seine Lieblingslieder sind "Strange Fruit", "Georgia On My Mind", "Moon River" und "Greensleeves" sowie Musik von Bob Dylan. Er liebte den Autoren Charles Bukowski, den Filmemacher Federico Fellini und Musik von Captain Beefheart, James Brown, Harry Belafonte, Ma Rainey, Big Mama Thornton, Howlin' Wolf, Thelonious Monk, Willie Dixon, Hank Williams, Robert Johnson und Enrico Caruso.
In seiner Biographie schreibt Humphries über Waits, er sei gesetzt und ruhig. "Und das erste, was mich faszinierte, waren seine Hände, unglaublich lange Finger, dann offensichtlich diese Stimme, Jahre des Rauchens und Trinkens, die seiner Gesundheit nicht förderlich gewesen sein dürften."
Waits war Barkeeper, Feuerwehrmann, Lieferwagenfahrer, Türsteher, er hat in Juweliergeschäften und an mehreren Tankstellen gearbeitet. Er war Hausmeister und nahm Gelegenheitsjobs an, so wie alle. Am Ende hat er Tickets in einem Coffeeshop in Mission Beach abgerissen und war dort offizieller Türsteher. Langsam arbeitete er sich vor, um am Wochenende auftreten zu können. Er spielte ein wenig Gitarre, ein bisschen Klavier, Songs von Mississippi John Hurt und Reverend Gary Davis. The Heritage hieß der Laden. Dort gab es Folk, Bluegrass und Blues. Seine Gage betrug sechs Dollar. Als Türsteher verdiente er acht.
Der harte Weg im Musikgeschäft
Und dann ging es endlich nach West-Hollywood in das Troubadour. Mitten auf dem Santa Monica Boulevard lag nicht irgendein, sondern der Club schlechthin. Janis Joplin feierte hier, auch John Lennon und Harry Nielsson. Waits wurde da in sogenannten Hootenanny-Nächten eingesetzt, wo jeder, der da war, ein wenig singen durfte. Eines Tages saß der Manager von Frank Zappa und Captain Beefheart im Publikum. So nahm die Geschichte ihren Lauf. Über seine Musikkarriere sagt er selbst "Nun, das war die Wahl zwischen Entertainment und einer Karriere im Bereich Klimaanlage und Kühlung." Für kurze Zeit hat er sogar in einem Auto gelebt - so waren die Zeiten. Am glücklichsten sei er 1963, um ein Uhr morgens, in einer Samstagnacht in der Küche des Napoleone Pizza House, 619 National Avenue, National City, Kalifornien beim Tellerwaschen gewesen.
Sein Management schickte ihn mitleidlos als "Opener" auf Tournee, also als Vorgruppe - mal mit Band, mal ohne: "Ich machte drei Touren mit Frank Zappa, bis ich es einfach nicht mehr ausgehalten habe. Es ist sehr anstrengend, als Einzelperson auf die Bühne zu treten und von fünf- bis zehntausend Leuten nur niedergemacht zu werden. Das Publikum kam und schmiss Obst und Gemüse auf mich." Waits erzählt von einem weiteren denkwürdigen Abend: "Aus irgendeinem unbegreiflichen Grund wurde ich für eine Benefizveranstaltung der Schwulenbewegung gebucht, und die Zuhörerschaft war sehr reizbar. Ich befand mich etwas in der Zwickmühle, ging dann aber raus und begann - ich weiß nicht mehr, warum, aus irgendeinem Grund - mit dem alten Musical-Hit 'Standing On The Corner, Watching All The Girls Go By'."
Vor die Kamera
Sein erster Auftritt in einem Film war 1978 eine kleine Nebenrolle in "Paradise Alley, Vorhof zum Paradies". Eine Geschichte von einem Aufsteiger-Märchen um einen Wrestler um 1940: ärmliche Verhältnisse, Hell's Kitchen, der trostloseste der trostlosen Stadtviertel von New York. Waits spielt in diesem Film Mumbles, einen Klavierspieler in einer Kneipe - was sonst. Das Drehbuch des Films ist von Sylvester Stallone, der auch Regie führte.
1982 komponierte er den Soundtrack zum Film "One From The Heart" (Einer mit Herz), sein erster Francis-Ford-Coppola-Film. Humphries beschreibt ihn als einen sagenhaften Film, einer der besten, die gemacht wurden. Waits hatte auch eine kleine Rolle, dieses Mal die eines Trompeters. Mehrere Coppola-Filme sollten folgen: "The Outsider", "Rumble Fish" - in Schwarz-Weiß und voller vertikaler sowie horizontaler Linien. Waits hatte die Arbeit mit Coppola hinsichtlich seiner Kreativität Rückenwind gegeben. Musikalisch veränderte sich der Sound mit den LPs "Swordfishtrombones" 1983, "Rain Dogs" und "Frank's Wild Years".
Waits ist einer der wenigen Rock-Musiker, die einen erfolgreichen Übergang ins Filmgeschäft geschafft haben. Er spielte in dem Coppola-Film "Cotton Club" und mit Stars wie Jack Nicholson. In Terry Gilliams "The Fisher King" mimt er die Figur des Cameo. Er ist richtig gut in "Mistery Man" oder in einem seiner jüngsten Filme "Seven Psychopaths". Er ist ein guter Schauspieler, der weiß wo seine Grenzen sind. Er wird nie Shakespeare spielen, aber seine Rollen sind sehr aussagekräftig interpretiert. Am Ende hat er hat mehr Filme als Platten gemacht.
Die Jahre in New York
1979 fasste Waits den Entschluss, Los Angeles zu verlassen und ging nach New York. Auf sämtlichen Platten tauchte nach 1985 der Name Kathleen Brennan auf: "All songs written by Tom Waits and Kathleen Brannon". Wer ist diese Frau? Sie ist scheinbar überall und doch unsichtbar. Ist sie Muse oder Partnerin? Jedenfalls ist sie seine Lebensgefährtin und die Mutter der drei gemeinsamen Kinder.
Waits hatte ein Ansehen als Alkoholiker und Kettenraucher - wie sein stilistisches Vorbild Bukowski. Doch der sang nicht, nicht mal, wenn er betrunken war. Man konnte Waits beschwingt, desorientiert und unberechenbar erleben. Ein Landstreicher, Dieb, Geschichtenerzähler, ein Stromer mit Knicken in der Karriere, mit Blues, Folk, Jazz, Polka, Avantgarde und was es sonst noch so alles gibt. Das Ehepaar Waits/Brennan bleibt nicht lange in New York. Ein Landwohnsitz in Kalifornien ist die nächste Station. Sie leben in einem alten Haus. Er besucht Schrottplätze, Trödelmärkte, Ramschläden - das sind seine Zufluchtsorte.
Theater und Ruhestand
Auch am Theater war Waits erfolgreich, zum Beispiel mit "The Black Rider", für das er unter anderem die Musik komponiert. Klaus Schreiber erinnert sich: "Er war auf dem Weg zur Probebühne an irgendeiner Baustelle vorbeigekommen, dort hatte er irgendwelche Bleche und irgendwelche Rohre mitgebracht, er hat sehr gerne verändert und neu gemacht". Kurze Zeit ist er sogar am Hamburger Thalia Theater tätig. Waits hat zwar viele Talente, aber er zieht sich auch gerne mit seiner Familie zurück. Keine Partys, kein Whiskey, und geraucht wird auch nicht mehr.
In den letzten Jahre ist es ruhig um Waits geworden: keine Live-Konzerte, kein Comeback. Anders als manche seiner Kollegen, wie zum Beispiel die Rolling Stones. Seine Weltsicht formuliert er so: "Wir sind unter dem Gewicht der Information begraben, das mit Wissen verwechselt wird; Quantität wird mit Fülle verwechselt und Reichtum mit Glück."
Musikalben von Tom Waits:
1973: Closing Time
1974: The Heart of Saturday Night
1975: Nighthawks at the Diner (Live)
1976: Small Change
1977: Foreign Affairs
1978: Blue Valentine
1980: Heartattack and Vine
1982: One from the Heart (Filmmusik)
1983: Swordfishtrombones
1985: Rain Dogs
1987: Franks Wild Years
1988: Big Time (Live)
1992: Night on Earth (Filmmusik)
1992: Bone Machine
1993: The Black Rider
1999: Mule Variations
2002: Alice
2002: Blood Money
2004: One from the Heart (Filmmusik)
2004: Real Gone
2006: Orphans: Brawlers, Bawlers & Bastards
2009: Glitter and Doom (Live)
2011: Bad As Me
Songs von Menschen im Straßengraben, eine Lange Nacht über Tom Waits, Deutschlandfunk/Deutschlanfunk Kultur 2019, das Skript zur Findung finden Sie hier im PDF-Format