Walter Benjamin. Berliner Kindheit um neunzehnhundert Jahrhundert. Fassung letzter Hand und Fragment aus früheren Fassungen. Mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno, 1987 Suhrkamp
Loggien. Kaiserpanorama. Die Siegessäule. Das Telefon. Schmetterlingsjagd. Tiergarten. Zu spät gekommen. Knabenbücher. Wintermorgen. Steglitzer Ecke Genthiner. Zwei Rätselbilder. Markthalle. Das Fieber. Der Fischotter. Pfaueninsel und Glienicke. Eine Todesnachricht. Blumeshof 12. Winterabend. Krumme Straße. Der Strumpf. Die Mummerehlen. Verstecke. Ein Gespenst. Ein Weihnachtsengel. Unglücksfälle und Verbrechen. Die Farben. Der Nähkasten. Der Mond. Zwei Blechkapellen. Das bucklichte Männlein. (Fragmente aus früheren Fassungen)/Anhang. Gesellschaft. Schränke. Bettler und Huren. Abreise und Rückkehr. Der Lesekasten. Neuer deutscher Jugendfreund. Schülerbibliothek. Das Karussell. Die Speisekammer. Affentheater. Erwachen des Sexus. Das Pult.
Der Sprachmagier
Schmetterlingsjagd
Gelegentlicher Sommerreisen unbeschadet, bezogen wir, ehe ich zur Schule ging, alljährlich Sommerwohnungen in der Umgebung. An sie erinnerte noch lange an der Wand meines Knabenzimmers der geräumige Kasten mit den Anfängen einer Schmetterlingssammlung, deren älteste Exemplare in dem Garten am Brauhausberge erbeutet waren. Kohlweißlinge mit abgestoßenen Rändern, Zitronenfalter mit zu blanken Flügeln vergegenwärtigten die heißen Jagden, die mich so oft von den gepflegten Gartenwegen fort in eine Wildnis gelockt hatten, in welcher ich ohnmächtig der Verschwörung von Wind und Düften, Laub und Sonne gegenüberstand, die dem Flug der Schmetterlinge gebieten mochten. Sie flatterten auf eine Blüte zu, sie standen über ihr. Den Kescher angehoben, erwartete ich nur noch, daß der Bann, der von der Blüte auf das Flügelpaar zu wirken schien, sein Werk vollendet habe, da entglitt der zarte Leib mit leisen Stößen seitwärts, um genau so reglos eine andere Blüte zu beschatten und genau so plötzlich, ohne sie berührt zu haben, sie zu lassen. Wenn so ein Fuchs oder Ligusterschwärmer, den ich gemächlich hätte überholen können, durch Zögern, Schwanken und Verweilen mich zum Narren machte, dann hätte ich gewünscht, in Licht und Luft mich aufzulösen, nur um ungemerkt der Beute mich zu nähern und sie überwältigen zu können. Und so weit ging der Wunsch mir in Erfüllung, daß jedes Schwingen oder Wiegen der Flügel, in die ich vergafft war, mich selbst anwehte oder überrieselte. Weiterlesen im Projekt Gutenberg
Walter Benjamin: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe
(Gebunden). Suhrkamp / Insel
Zum ersten Mal vereint diese Ausgabe sämtliche Werke und den vollständigen Nachlass. Zugleich präsentiert sie die Schriften Benjamins in einer übersichtlichen Form und folgt dem Entstehungs- und Überlieferungsprozess, indem die zu Lebzeiten publizierten und die geplanten, aber Fragment gebliebenen Bücher jeweils in einem Band erscheinen, der auch sämtliche Vorfassungen, Notizen und Entwürfe versammelt. Mehr
Jean-Michel Palmier. Walter Benjamin: Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin. Hrsg. v. Florent Perrier, 2009 Suhrkamp
"Man muß alles lesen, alles studieren" – Michel Foucaults lakonische Anweisung für erfolgreiches historisches Arbeiten ist selten ernst genommen und noch seltener verwirklicht worden. Für Jean-Michel Palmier war sie eine Selbstverständlichkeit.
Minutiös zeichnet Palmier den philosophischen, politischen und ästhetischen Denkweg Benjamins nach und beseitigt zahlreiche Missverständnisse und Klischees, etwa das des "marxistischen Rabbiners", der die Alternative zwischen historischem Materialismus und Theologie in ein unauflösliches Dilemma verwandelt. Vor allem aber schließt Palmier die Lücken einer oft simplifizierenden und immer wieder um dieselben Themen kreisenden Rezeption. Der Lumpensammler, der Engel und das "bucklicht Männlein" werden so zu Grundfiguren einer philosophischen Erzählung, die nicht hagiografisch, sondern systematisch die Komplexität von Benjamins Denken erschließt. Ein Standardwerk.
Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. H.31/32 Walter Benjamin. Herausgeber: Arnold, Heinz L., 2009 Edition Text und Kritik
Edition und Rezeption des Werkes von Walter Benjamin (1892-1940) waren in den 1970er- und 1980er-Jahren Gegenstand heftiger Kontroversen. Dagegen zeigt sich die gegenwärtige Benjamin-Forschung um eine sachliche Rekontextualisierung von Werk und Autor bemüht. Zahlreiche Publikationen und nicht zuletzt die Einrichtung des Walter Benjamin Archivs in der Berliner Akademie der Künste belegen die große Bedeutung von Benjamin für die literarische Öffentlichkeit.
Das Heft führt in zentrale Themen und ästhetische Praktiken des Werks ein und reflektiert dabei den gegenwärtigen Stand der Benjamin- Forschung. Darüber hinaus wird die Aufmerksamkeit auf bisher weniger beachtete Aspekte von Biografie und Werk gelenkt, etwa auf den konkreten Kontext von Benjamins Autorschaft und auf das Paradigma des Archivs.
Jessica Nitsche. Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie. Kaleidogramme, Bd. 63, 2011 Kulturverlag Kadmos
Walter Benjamin hat die Fotografie neu gedacht und Fotografien auf besondere Art und Weise rezipiert. Seine Position zeichnet aus, dass er Fragen nach Wahrnehmungsweisen und deren Veränderbarkeit ins Spiel bringt und den Mediendiskurs damit signifikant erweitert hat. Benjamins "Geschichten der Fotografie" sind versprengte, sie gehen sowohl als Horrorszenario im Fotoatelier um 1900, als Rezensionen zeitgenössischer Bildbände wie auch als Auseinandersetzung mit den um 1930 aktuellen Diskursen in sein Werk ein.
Diese verschiedenen und selten widerspruchsfreien Einsätze des Mediums, die dieses Buch erstmalig in ihrem ganzen Umfang vorstellt, ergeben in ihrer Anordnung und Überlagerung ein Bild von Benjamins "Gebrauch der Fotografie". Anhand zahlreicher konkreter Lektüren wird dargelegt, wie sich die Fotografie bei Benjamin zu einem Medium entwickelt, das sich in die Wahrnehmungsräume einträgt, die er literarisch konstruiert.
Es wird der Bewegung nachgespürt, wie Fotografien in seine Schriften einkehren, um sich nach und nach in fotografische Strukturen, einverleibte Optiken umzukehren. Auf diese Weise deckt die Studie auf, wie die Fotografie Benjamins literarische Arbeit mitstrukturiert und wie das Fotografische schließlich zu einer theoretischen Apparatur wird, die die Gegenwartsbezogenheit seiner geschichtsphilosophischen Konstruktion ins Bild setzt.
"In dieser ausweglosen Situation habe ich keine andere Möglichkeit, als sie zu beenden. Mein Leben wird ein Ende finden in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, wo mich niemand kennt. Ich bitte Sie, meine Gedanken meinem Freund Adorno zu übermitteln und ihm die Situation zu erklären, in der ich mich gesehen habe. Es bleibt mir nicht genügend Zeit, all die Briefe zu schreiben, die ich gerne geschrieben hätte."
Für Dani Karavan ist der Friedhof von Portbou ein wichtiger Ort des Erinnerns. "Auf dem Friedhof habe ich verstanden, dass an der Stelle, wo Benjamin ruht – und niemand weiß genau wo auf dem Friedhof -, dass nur dort der Ort sein kann, um sein Andenken aufzuzeigen, wie auch seine Tragödie [...]. Das Geräusch der Züge, von dem großen Grenzbahnhof her, wie das Geräusch der Deportation zu den Lagern. Der Tod, die Grenze, die Hoffnung; ich hatte keine andere Wahl, ich hatte gar keine Wahl, alles wurde mir diktiert. Ich wusste, dass der Platz für die Hommage in der Nähe des kleinen Friedhofs von Portbou sein musste", so Karavan.
Dani Karavan hat in den Fels eine Treppe hineingetrieben. Wenn man sie hinuntergeht, bekommt man den Eindruck, als würde der Weg direkt und ohne eine Barriere ins Meer führen. Doch eine Glasplatte verhindert kurz vor dem drohenden Abgrund, dass man in die Tiefe stürzt. In diese Wand aus Glas, die eine durchsichtige Grenze darstellt, ist ein Zitat Walter Benjamins eingraviert worden. Es lautet:
"Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht."
Lorenz Jäger: "Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten", 2017 Rowohlt Berlin
Walter Benjamin wollte in keine Schublade oder philosophische Schule passen, sein Werk blieb unvollendet – und doch zählt er zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jahrhunderts, Intellektuelle wie Adorno und Kracauer bewunderten ihn als Genie.
Lorenz Jäger erzählt das Leben des außergewöhnlichen Literaten: Er schildert Benjamins Kindheit in der Familie eines jüdischen Kunsthändlers, die Studienjahre in Freiburg und Berlin, wo die so anregende Freundschaft mit Gershom Scholem begann, die wechselhafte Beziehung zur Frankfurter Schule. Benjamin reiste nach Moskau, wo er sich vorsichtig der kommunistischen Bewegung näherte; im Pariser Exil diskutierte er mit Hannah Arendt und arbeitete am großen "Passagen-Werk", das Fragment blieb. 1940 floh er vor der Gefahr, nach Deutschland ausgeliefert zu werden, in das spanische Portbou, wo er sich das Leben nahm – ein Ende, rätselhaft wie vieles in Benjamins Leben und Schreiben.
Jäger vergegenwärtigt eindrucksvoll den Lebensweg Walter Benjamins – und zeichnet zugleich ein faszinierendes Zeitbild der ersten Jahrhunderthälfte, vom arrivierten Berliner Judentum über die Intellektuellenkreise der Weimarer Republik bis zu den Schrecken des Exils und der Verfolgung. Eine hochspannende Biografie, die Leben und Werk dieses großen Denkers neu erschließt. Mehr und eine Rezension in der WELT N24
"Walter Benjamin hat sich in einem kleinen spanischen Grenzort vergiftet."
Seinem Schmerz über den Verlust des Freundes verlieh Brecht in drei Gedichten Ausdruck. Eines dieser Gedichte trägt den Titel "Zum Freitod des Flüchtlings W.B.":
Dem Schlächter zuvorkommend.
Acht Jahre verbannt, den Aufstieg des Feindes beobachtend
Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben
Hast du, heißt es, eine überschreitbare überschritten.
Reiche stürzen. Die Bandenführer
Schreiten daher wie Staatsmänner. Die Völker
Sieht man nicht mehr unter den Rüstungen.
So liegt die Zukunft in Finsternis, und die guten Kräfte
Sind schwach. All das sahst du
Als du den quälbaren Leib zerstörtest."
Bertolt Brecht
Erdmut Wizisla. Benjamin und Brecht - Die Geschichte einer Freundschaft. Mit einer Chronik und den Gesprächsprotokollen des Zeitschriftenprojekts "Krise und Kritik", 2004 suhrkamp taschenbuch
Die Freundschaft zwischen Walter Benjamin und Bertolt Brecht gehört zu den ästhetisch und politisch folgenreichen des 20. Jahrhunderts. Hannah Arendt nannte die Freundschaft "einzigartig", "weil in ihr der größte lebende deutsche Dichter mit dem bedeutendsten Kritiker der Zeit zusammentraf". Andere Freunde teilten dieses Urteil nicht. Ihr Argwohn hat zu Fehldeutungen geführt, die sich bis heute halten.
Das Buch sichert die Spuren der Begegnung und räumt dabei Vorurteile aus dem Weg. Zahlreiche unveröffentlichte Dokumente ermöglichen neue Wertungen. Erstmals analysiert werden die Gesprächsprotokolle des Zeitschriftenplans "Krise und Kritik" (1930/31), die dem Band als Faksimile beigegeben sind. Anhand von Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und Notizen werden die Themen der Zusammenarbeit aufbereitet. Eigene Kapitel widmen sich sowohl Benjamins Arbeiten über Brecht als auch Brechts Äußerungen über Benjamin.