Eine Lange Nacht über Walter Benjamin

Der Sprachmagier

Walter Benjamin
"In dieser ausweglosen Situation habe ich keine andere Möglichkeit, als sie zu beenden", schrieb Walter Benjamin 1940 in seinem Abschiedsbrief. © dpa / picture alliance / Heinzelmann
Von Michael Opitz |
Walter Benjamin hatte etwas von einem Zauberer - das befand auch sein Freund Theodor W. Adorno. Ein Sprachmagier war er auf jeden Fall. Benjamin beherrschte die Kunst, seine Leser zu verführen. Auf der Flucht vor den Nazis nahm er sich 1940 das Leben.
Auf das "bucklicht Männlein" kommt Benjamin in der "Berliner Kindheit um Neunzehnhundert" zu sprechen. Wer von diesem buckligen Gesellen angesehen wurde, der gab nicht Acht und ihm zerbrach etwas oder er fiel hin. "Ungeschickt lässt grüßen", kommentierte Benjamins Mutter diese Unachtsamkeit. Benjamin wurde vom "bucklicht Männlein" schärfer angesehen, als er sich selber sah. Die Erinnerungsbilder, die das Männlein gesammelt hat, wecken Benjamins Interesse.
Denn er sucht für die "Berliner Kindheit", an der er im Exil schreibt, Bilder, die zu jener unwiederbringlich verlorenen Zeit gehören. Um Aufschluss über die Gegenwart zu erhalten, soll Vergessenes erinnert und Vergangenes rekonstruiert werden. Entscheidend dabei werden Sprache und Bilder. Benjamin ist ein Sprachmagier, der die Kunst beherrscht, seine Leser zu verführen. Der Literatur- und Kulturwissenschaftler, der auch Schriftsteller war, dachte dichterisch, wie es Hannah Arendt nannte. Geboren 1892 in Berlin, musste er 1933 emigrieren. Auf der Flucht vor den Nazis beging er 1940 in auswegloser Situation im spanischen Grenzort Port Bou Selbstmord.
Seine "Berliner Kindheit" blieb ebenso unvollendet wie das "Passagen-Werk", in dem er die Urgeschichte des 19. Jahrhunderts erzählen wollte. In die Passagen, diese Bauwerke aus Stahl und Glas, schickt Benjamin einen anderen Gesellen. Sein Flaneur wird zum Sammler, der jene unscheinbaren, vergessenen Dinge und Bilder einsammeln soll, die drohen, vergessen zu werden. Dem Vergessenen wie den Bruchstücken bemisst Benjamin enorme Bedeutung zu. Im Kleinsten sieht er jene Zusammenhänge vorgeprägt, die kennzeichnend sind für das Große.
Eine "Lange Nacht" über Walter Benjamin, in der neben dem Wissenschaftler, Literaturkritiker und Rundfunkautor insbesondere der Schriftsteller Beachtung findet.
Walter Benjamin. Berliner Kindheit um Neunzehnhundert
Die Sammlung autobiografischer Skizzen von Walter Benjamin entstand in mehreren Entwürfen im Lauf der 1930er-Jahre; die erste Buchausgabe erschien posthum 1950. Mehr
Schmetterlingsjagd
Gelegentlicher Sommerreisen unbeschadet, bezogen wir, ehe ich zur Schule ging, alljährlich Sommerwohnungen in der Umgebung. An sie erinnerte noch lange an der Wand meines Knabenzimmers der geräumige Kasten mit den Anfängen einer Schmetterlingssammlung, deren älteste Exemplare in dem Garten am Brauhausberge erbeutet waren. Kohlweißlinge mit abgestoßenen Rändern, Zitronenfalter mit zu blanken Flügeln vergegenwärtigten die heißen Jagden, die mich so oft von den gepflegten Gartenwegen fort in eine Wildnis gelockt hatten, in welcher ich ohnmächtig der Verschwörung von Wind und Düften, Laub und Sonne gegenüberstand, die dem Flug der Schmetterlinge gebieten mochten. Sie flatterten auf eine Blüte zu, sie standen über ihr. Den Kescher angehoben, erwartete ich nur noch, daß der Bann, der von der Blüte auf das Flügelpaar zu wirken schien, sein Werk vollendet habe, da entglitt der zarte Leib mit leisen Stößen seitwärts, um genau so reglos eine andere Blüte zu beschatten und genau so plötzlich, ohne sie berührt zu haben, sie zu lassen. Wenn so ein Fuchs oder Ligusterschwärmer, den ich gemächlich hätte überholen können, durch Zögern, Schwanken und Verweilen mich zum Narren machte, dann hätte ich gewünscht, in Licht und Luft mich aufzulösen, nur um ungemerkt der Beute mich zu nähern und sie überwältigen zu können. Und so weit ging der Wunsch mir in Erfüllung, daß jedes Schwingen oder Wiegen der Flügel, in die ich vergafft war, mich selbst anwehte oder überrieselte. Weiterlesen im Projekt Gutenberg

Walter Benjamin. Berliner Kindheit um neunzehnhundert Jahrhundert. Fassung letzter Hand und Fragment aus früheren Fassungen. Mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno, 1987 Suhrkamp

Loggien. Kaiserpanorama. Die Siegessäule. Das Telefon. Schmetterlingsjagd. Tiergarten. Zu spät gekommen. Knabenbücher. Wintermorgen. Steglitzer Ecke Genthiner. Zwei Rätselbilder. Markthalle. Das Fieber. Der Fischotter. Pfaueninsel und Glienicke. Eine Todesnachricht. Blumeshof 12. Winterabend. Krumme Straße. Der Strumpf. Die Mummerehlen. Verstecke. Ein Gespenst. Ein Weihnachtsengel. Unglücksfälle und Verbrechen. Die Farben. Der Nähkasten. Der Mond. Zwei Blechkapellen. Das bucklichte Männlein. (Fragmente aus früheren Fassungen)/Anhang. Gesellschaft. Schränke. Bettler und Huren. Abreise und Rückkehr. Der Lesekasten. Neuer deutscher Jugendfreund. Schülerbibliothek. Das Karussell. Die Speisekammer. Affentheater. Erwachen des Sexus. Das Pult.

Der Soziologie-Professor Theodor Adorno am 28.05.1968 bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main bei seinem Vortrag.
Adorno war eine öffentliche Figur in Deutschland, zum Beispiel beteiligte er sich 1968 an der Diskussion über die Notstandsgesetzgebung.© dpa-report/Manfred Rehm
Theodor W. Adorno erinnert sich an Walter Benjamin
"Wenn ich das Äußere wiedergeben soll, so müsste ich sagen, dass Benjamin etwas von einem Zauberer hatte, aber in einem sehr unmetaphorischen, sehr wörtlichen Sinn. Man hätte sich ihn gut mit einem sehr hohen Hut und mit einer Art von Zauberstock vorstellen können."
Theodor W. Adorno erinnert sich an seinen Freund, als wäre Walter Benjamin ein Magier gewesen. Wenn man es richtig bedenkt, dann stimmt dieser Vergleich sogar: Benjamin hatte etwas von einem Zauberer. Dass er keine umjubelten Auftritte in den berühmten Zirkusmanegen feierte, lag ganz einfach daran, dass er mit Worten zauberte. Er brauchte deshalb auch keinen Hut, nur seinen Füllfederhalter, der ihm als Zauberstab diente.
Geboren wurde Walter Benjamin 1892 in Berlin
Er wuchs in einer wohlhabenden jüdischen Familie auf, in einem "Quartier der Besitzenden", wie er es später nannte. Für den Heranwachsenden waren Dienstpersonal und eine französische Gouvernante selbstverständlich. Ab 1902 besuchte Benjamin das Kaiser-Friedrich-Gymnasium am Savignyplatz. Drei Jahre später wechselte er aus gesundheitlichen Gründen in das Landerziehungsheim im thüringischen Haubinda, wo er mit den Ideen des Reformpädagogen Gustav Wyneken bekannt wurde. Im März 1912 legte Benjamin in Berlin die Reifeprüfung ab – mit einem eher durchschnittlichen Zeugnis. Schreiben: nicht genügend, Mathematik: genügend, Latein: gut, Deutsch: sehr gut.
Die Internationale Walter Benjamin Gesellschaft verfolgt den Zweck, Forschungen zu Leben und Werk Walter Benjamins zu unterstützen und zu diskutieren, die sich mit dem kreativen und visionären Potential seiner Werke und seiner wegweisenden Sicht der Moderne auseinandersetzen.
Das Walter Benjamin Archiv
Das Walter Benjamin Archiv zeigt eine Fülle von großartigen, in weiten Teilen bisher unpublizierten und auch unbekannten Bildern und Dokumenten. Anlässlich einer Ausstellung in der Akademie der Künste, Berlin, wird, begleitet von einer internationalen Tagung und einer Vielzahl von Veranstaltungen, zum ersten Mal Benjamins Bild- und Dingkosmos der Öffentlichkeit vorgestellt.
Das Walter Benjamin Archiv wurde 2004 als Einrichtung der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur in der Akademie der Künste gegründet. Es verwahrt den Nachlass Walter Benjamins sowie eine umfangreiche Sammlung von Dokumenten aus Privatbesitz. Eine Sammlung zur Rezeption ergänzt den Bestand fortlaufend. Das Archiv stellt zudem die Basis dar für die neue kritische Gesamtausgabe Werke und Nachlaß Walter Benjamins, die, herausgegeben von Christoph Gödde und Henri Lonitz, seit 2008 im Suhrkamp Verlag erscheint.

Walter Benjamin: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe
(Gebunden). Suhrkamp / Insel
Zum ersten Mal vereint diese Ausgabe sämtliche Werke und den vollständigen Nachlass. Zugleich präsentiert sie die Schriften Benjamins in einer übersichtlichen Form und folgt dem Entstehungs- und Überlieferungsprozess, indem die zu Lebzeiten publizierten und die geplanten, aber Fragment gebliebenen Bücher jeweils in einem Band erscheinen, der auch sämtliche Vorfassungen, Notizen und Entwürfe versammelt. Mehr

Orientierung an Bildern und Dokumenten
Solche Orientierung an Bildern und Dokumenten, an der Materialität der Gegenstände entspricht auch seinem Werk, das seinerseits ein Reservoir von Texten, Kommentaren, Elementen des Alltags, der Kunst und des Traums ist. Viele dieser Elemente sind als Bausteine in sein "Passagen"-Projekt eingegangen, das die "Urgeschichte des 19. Jahrhunderts " erkundet.
Darüber hinaus prägen Techniken des Sammelns und Archivierens die Arbeitsweise Walter Benjamins. Nachdem er aus Deutschland vertrieben worden war, schuf er die Voraussetzungen zur Rettung seiner, wie er sagte, "unendlich verzettelten Produktion ", indem er Manuskripte, Notizen und Druckbelege bei Freunden in aller Welt deponierte.
Der reich illustrierte und kommentierte Band schließt erstmals Benjamins Archive auf: Notizhefte, in denen jeder Zentimeter genutzt wird; Register, Verzeichnisse und Karteien, die zugleich akribisch und kreativ geführt sind; Ansichtskarten, von ihm selbst kommentierte Fotoserien; eine Sammlung früher Worte und Sätze seines Sohnes Stefan, dessen Sprach- und Denkentwicklung Benjamin in Aufzeichnungen über Jahre verfolgte.
Palmiers monumentale Studie über Walter Benjamin
Jean-Michel Palmiers monumentale Studie über Walter Benjamin ist das Lebenswerk eines Gelehrten, der den zahlreichen Benjamin-Interpretationen nicht eine neue hinzufügt, sondern schlicht den Schlüssel zum Verständnis dieses enigmatischen Autors liefert.

Jean-Michel Palmier. Walter Benjamin: Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin. Hrsg. v. Florent Perrier, 2009 Suhrkamp
"Man muß alles lesen, alles studieren" – Michel Foucaults lakonische Anweisung für erfolgreiches historisches Arbeiten ist selten ernst genommen und noch seltener verwirklicht worden. Für Jean-Michel Palmier war sie eine Selbstverständlichkeit.

Minutiös zeichnet Palmier den philosophischen, politischen und ästhetischen Denkweg Benjamins nach und beseitigt zahlreiche Missverständnisse und Klischees, etwa das des "marxistischen Rabbiners", der die Alternative zwischen historischem Materialismus und Theologie in ein unauflösliches Dilemma verwandelt. Vor allem aber schließt Palmier die Lücken einer oft simplifizierenden und immer wieder um dieselben Themen kreisenden Rezeption. Der Lumpensammler, der Engel und das "bucklicht Männlein" werden so zu Grundfiguren einer philosophischen Erzählung, die nicht hagiografisch, sondern systematisch die Komplexität von Benjamins Denken erschließt. Ein Standardwerk.

Die Politologin und Philosophin Hannah Arendt 
Hannah Arendt© picture alliance / dpa
Hannah Arendt über Walter Benjamin
"Was an Benjamin so schwer zu verstehen war, ist, dass er, ohne ein Dichter zu sein, dichterisch dachte, und dass die Metapher daher für ihn das größte und geheimnisvollste Geschenk der Sprache sein musste, weil sie in der Übertragung es möglich macht, das Unsichtbare zu versinnlichen." (Hannah Arendt)
Ein Besucher schaut sich am 16.03.2017 in der Ausstellung «The Arcades: Contemporary Art and Walter Benjamin» im Jewish Museum in New York (USA) um. Es ist eine Schau zum letzten Buch des deutschen Philosophen Walter Benjamin (1892-1940): «Das Passagen-Werk».(zu dpa New Yorker Jewish Museum zeigt Teddybären und Walter Benjamin vom 18.03.2017) Foto: Christina Horsten/dpa | Verwendung weltweit
Walter Benjamin im Jewish Museum in New York© dpa
The Arcades: Contemporary Art and Walter Benjamin - This exhibition of contemporary artworks presents photography, video, sculpture, and painting seen through the lens of influential philosopher Walter Benjamin’s magnum opus The Arcades Project.

Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. H.31/32 Walter Benjamin. Herausgeber: Arnold, Heinz L., 2009 Edition Text und Kritik
Edition und Rezeption des Werkes von Walter Benjamin (1892-1940) waren in den 1970er- und 1980er-Jahren Gegenstand heftiger Kontroversen. Dagegen zeigt sich die gegenwärtige Benjamin-Forschung um eine sachliche Rekontextualisierung von Werk und Autor bemüht. Zahlreiche Publikationen und nicht zuletzt die Einrichtung des Walter Benjamin Archivs in der Berliner Akademie der Künste belegen die große Bedeutung von Benjamin für die literarische Öffentlichkeit.

Das Heft führt in zentrale Themen und ästhetische Praktiken des Werks ein und reflektiert dabei den gegenwärtigen Stand der Benjamin- Forschung. Darüber hinaus wird die Aufmerksamkeit auf bisher weniger beachtete Aspekte von Biografie und Werk gelenkt, etwa auf den konkreten Kontext von Benjamins Autorschaft und auf das Paradigma des Archivs.

Jessica Nitsche. Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie. Kaleidogramme, Bd. 63, 2011 Kulturverlag Kadmos
Walter Benjamin hat die Fotografie neu gedacht und Fotografien auf besondere Art und Weise rezipiert. Seine Position zeichnet aus, dass er Fragen nach Wahrnehmungsweisen und deren Veränderbarkeit ins Spiel bringt und den Mediendiskurs damit signifikant erweitert hat. Benjamins "Geschichten der Fotografie" sind versprengte, sie gehen sowohl als Horrorszenario im Fotoatelier um 1900, als Rezensionen zeitgenössischer Bildbände wie auch als Auseinandersetzung mit den um 1930 aktuellen Diskursen in sein Werk ein.

Diese verschiedenen und selten widerspruchsfreien Einsätze des Mediums, die dieses Buch erstmalig in ihrem ganzen Umfang vorstellt, ergeben in ihrer Anordnung und Überlagerung ein Bild von Benjamins "Gebrauch der Fotografie". Anhand zahlreicher konkreter Lektüren wird dargelegt, wie sich die Fotografie bei Benjamin zu einem Medium entwickelt, das sich in die Wahrnehmungsräume einträgt, die er literarisch konstruiert.

Es wird der Bewegung nachgespürt, wie Fotografien in seine Schriften einkehren, um sich nach und nach in fotografische Strukturen, einverleibte Optiken umzukehren. Auf diese Weise deckt die Studie auf, wie die Fotografie Benjamins literarische Arbeit mitstrukturiert und wie das Fotografische schließlich zu einer theoretischen Apparatur wird, die die Gegenwartsbezogenheit seiner geschichtsphilosophischen Konstruktion ins Bild setzt.

Eine rechteckige Stahlplatte markiert auf dem Friedhof von Port Bou das Denkmal "Passagen" von Dani Karavan, das an den deutschen Literatur- und Kulturkritiker  Walter Benjamin erinnert, der an unbekannter Stelle auf dem Friedhof begraben liegt. 
Eine rechteckige Stahlplatte markiert auf dem Friedhof von Port Bou das Denkmal "Passagen" von Dani Karavan, das an den deutschen Literatur- und Kulturkritiker Walter Benjamin erinnert, der an unbekannter Stelle auf dem Friedhof begraben liegt. © dpa
Kein Weg aus Portbou
Benjamins Abschiedsbrief aus Portbou vom 25.9.1940:
"In dieser ausweglosen Situation habe ich keine andere Möglichkeit, als sie zu beenden. Mein Leben wird ein Ende finden in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, wo mich niemand kennt. Ich bitte Sie, meine Gedanken meinem Freund Adorno zu übermitteln und ihm die Situation zu erklären, in der ich mich gesehen habe. Es bleibt mir nicht genügend Zeit, all die Briefe zu schreiben, die ich gerne geschrieben hätte."
Ein Denkmal für Walter Benjamin
1994 wurde in Portbou ein Denkmal des israelischen Künstlers Dani Karavan für Walter Benjamin eingeweiht. Der begehbare Gedenkort mit dem Titel "Passagen" erinnert an eines der zentralen Werke Benjamins. Zugleich verweist das Wort Passage aber auch auf die Schiffspassage und damit auf Benjamins gescheiterte Flucht in die USA.

Für Dani Karavan ist der Friedhof von Portbou ein wichtiger Ort des Erinnerns. "Auf dem Friedhof habe ich verstanden, dass an der Stelle, wo Benjamin ruht – und niemand weiß genau wo auf dem Friedhof -, dass nur dort der Ort sein kann, um sein Andenken aufzuzeigen, wie auch seine Tragödie [...]. Das Geräusch der Züge, von dem großen Grenzbahnhof her, wie das Geräusch der Deportation zu den Lagern. Der Tod, die Grenze, die Hoffnung; ich hatte keine andere Wahl, ich hatte gar keine Wahl, alles wurde mir diktiert. Ich wusste, dass der Platz für die Hommage in der Nähe des kleinen Friedhofs von Portbou sein musste", so Karavan.
"Und dann plötzlich beschert mir die Natur ein erstaunliches, bewegendes Schauspiel, einen Strudel, der aus dem Meer zwischen den Felsen brandet. Das Wasser strudelt, fällt tobend in die Tiefe, springt mit Getöse wieder hoch, dann Ruhe, Stille, Frieden. Und von Neuem wiederholt sich dieses erstaunliche Schauspiel wie das Schlagen eines wunden Herzens. Und die Wogen schlagen an die Felsen, wie man sich an die Brust schlägt. Ich bin den steilen und steinigen Weg weiter hinauf gegangen, habe den Olivenbaum gesehen, der gegen den salzhaltigen Seewind und den trockenen, dürren Boden um sein Überleben kämpft. Auf der Suche nach weiteren Elementen bin ich hinter den Friedhof gestiegen, oberhalb des Felsens, von wo aus ich das Meer betrachtet habe, den Horizont, die Freiheit, versperrt von einer Barriere: der Barriere des Friedhofs. Und es gibt keinen Ausweg [...]. Alle diese Elemente, die da sind seit – und bevor – Walter Benjamin versucht hat, in die Freiheit zu passieren, alle erzählen sie die tragische Geschichte dieses Mannes."
Dani Karavan hat in den Fels eine Treppe hineingetrieben. Wenn man sie hinuntergeht, bekommt man den Eindruck, als würde der Weg direkt und ohne eine Barriere ins Meer führen. Doch eine Glasplatte verhindert kurz vor dem drohenden Abgrund, dass man in die Tiefe stürzt. In diese Wand aus Glas, die eine durchsichtige Grenze darstellt, ist ein Zitat Walter Benjamins eingraviert worden. Es lautet:
"Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht."

Lorenz Jäger: "Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten", 2017 Rowohlt Berlin
Walter Benjamin wollte in keine Schublade oder philosophische Schule passen, sein Werk blieb unvollendet – und doch zählt er zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jahrhunderts, Intellektuelle wie Adorno und Kracauer bewunderten ihn als Genie.

Lorenz Jäger erzählt das Leben des außergewöhnlichen Literaten: Er schildert Benjamins Kindheit in der Familie eines jüdischen Kunsthändlers, die Studienjahre in Freiburg und Berlin, wo die so anregende Freundschaft mit Gershom Scholem begann, die wechselhafte Beziehung zur Frankfurter Schule. Benjamin reiste nach Moskau, wo er sich vorsichtig der kommunistischen Bewegung näherte; im Pariser Exil diskutierte er mit Hannah Arendt und arbeitete am großen "Passagen-Werk", das Fragment blieb. 1940 floh er vor der Gefahr, nach Deutschland ausgeliefert zu werden, in das spanische Portbou, wo er sich das Leben nahm – ein Ende, rätselhaft wie vieles in Benjamins Leben und Schreiben.

Jäger vergegenwärtigt eindrucksvoll den Lebensweg Walter Benjamins – und zeichnet zugleich ein faszinierendes Zeitbild der ersten Jahrhunderthälfte, vom arrivierten Berliner Judentum über die Intellektuellenkreise der Weimarer Republik bis zu den Schrecken des Exils und der Verfolgung. Eine hochspannende Biografie, die Leben und Werk dieses großen Denkers neu erschließt. Mehr und eine Rezension in der WELT N24

Der Walter-Benjamin-Wanderweg
Der Wanderweg vom französischen Banyuls-sur-Mer zum nordspanischen Portbou erinnert an Benjamins letzten Weg über die Pyrenäen. Er ist vollständig ausgeschildert. Unterwegs ändert sich bei jedem Schritt die Perspektive auf das türkisfarbene Meer und die in der Mittagshitze flimmernden Gebirgszüge. Respekteinflößend heute die nicht selten orkanartigen Böen der Tramontana und morgen die Stille der Einsamkeit. Ein abwechslungsreicher Tag zu Fuß, nicht alpin, aber auch kein bequemer Spaziergang.
Geschichte einer Flucht über die Pyrenäen - Brigitte Baetz in der Sendung Sonntagsspaziergang 
Verboten, verfolgt und exiliert. Autorenschicksale nach der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933
Auf diesen Internetseiten werden die literarischen und persönlichen Wege jener Autoren und Autorinnen nachgezeichnet, die ihre moralische Integrität bewahrten und deren Schreiben wirkmächtiger war als der Ungeist. "Literatur kann es nur geben, wo der Geist selbst eine Macht ist, anstatt daß er abdankt und sich beugt unter geistwidrige Gewalten." (Heinrich Mann)
Portrait von Bertolt Brecht (1898-1956) des Malers Rudolf Schlichter (1890-1955). München Staatsgalerie 1926 
Portrait von Bertolt Brecht (1898-1956) des Malers Rudolf Schlichter (1890-1955). München Staatsgalerie 1926 © imago / Leemage
Bertolt Brecht über Walter Benjamin
Als Bertolt Brecht die Nachricht vom Tod seines Freundes erreichte, notierte er im August 1941 im "Journal":
"Walter Benjamin hat sich in einem kleinen spanischen Grenzort vergiftet."
Seinem Schmerz über den Verlust des Freundes verlieh Brecht in drei Gedichten Ausdruck. Eines dieser Gedichte trägt den Titel "Zum Freitod des Flüchtlings W.B.":
ZUM FREITOD DES FLÜCHTLINGS W. B.
"Ich höre, dass du die Hand gegen dich erhoben hast
Dem Schlächter zuvorkommend.
Acht Jahre verbannt, den Aufstieg des Feindes beobachtend
Zuletzt an eine unüberschreitbare Grenze getrieben
Hast du, heißt es, eine überschreitbare überschritten.
Reiche stürzen. Die Bandenführer
Schreiten daher wie Staatsmänner. Die Völker
Sieht man nicht mehr unter den Rüstungen.
So liegt die Zukunft in Finsternis, und die guten Kräfte
Sind schwach. All das sahst du
Als du den quälbaren Leib zerstörtest."
Bertolt Brecht

Erdmut Wizisla. Benjamin und Brecht - Die Geschichte einer Freundschaft. Mit einer Chronik und den Gesprächsprotokollen des Zeitschriftenprojekts "Krise und Kritik", 2004 suhrkamp taschenbuch

Die Freundschaft zwischen Walter Benjamin und Bertolt Brecht gehört zu den ästhetisch und politisch folgenreichen des 20. Jahrhunderts. Hannah Arendt nannte die Freundschaft "einzigartig", "weil in ihr der größte lebende deutsche Dichter mit dem bedeutendsten Kritiker der Zeit zusammentraf". Andere Freunde teilten dieses Urteil nicht. Ihr Argwohn hat zu Fehldeutungen geführt, die sich bis heute halten.

Das Buch sichert die Spuren der Begegnung und räumt dabei Vorurteile aus dem Weg. Zahlreiche unveröffentlichte Dokumente ermöglichen neue Wertungen. Erstmals analysiert werden die Gesprächsprotokolle des Zeitschriftenplans "Krise und Kritik" (1930/31), die dem Band als Faksimile beigegeben sind. Anhand von Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und Notizen werden die Themen der Zusammenarbeit aufbereitet. Eigene Kapitel widmen sich sowohl Benjamins Arbeiten über Brecht als auch Brechts Äußerungen über Benjamin.

Eine Wiederholung der Sendung vom 19. Februar 2011.
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