Eine lange Reise
Die Deutsche Christa und der sowjetische Offizier wollen für ihre Liebe eine gemeinsame Zukunft - bis sie verraten werden. Jahrzehnte später geht Ulrich Schacht der Geschichte seiner Eltern nach.
Wismar im März 1951. Lucie Schacht erhält einen Brief aus dem Frauengefängnis Hoheneck in Sachsen, den ihre Tochter Wendelgard an sie und ihr Enkelkind gerichtet hat.
"Heute darf ich Euch ein Sonderbrief schreiben, und das hat seinen Grund. Gestern ist nämlich mein kleiner Ulli geboren, nachts 0 Uhr 17. Es kam alles bisschen plötzlich, denn er ist drei Wochen zu früh gekommen. Mach dir um mich keine Sorge, mein Kleiner und ich sind hier in bester Pflege. Die Hebamme und die Ärztin sind wirklich vorzüglich und mit dem Kleinen gibt man sich die größte Mühe. Er ist etwas zart."
Knapp 50 Jahre später ist aus dem kleinen Ulli der Schriftsteller Ulrich Schacht geworden, er stapft durch den Schnee einer russischen Datschensiedlung auf das Haus seines Vaters zu, eines ehemaligen Sowjetoffiziers, den die Mutter zur Flucht in die britische Besatzungszone zu überreden versucht hatte, weshalb sie zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt wurde, von denen sie vier in Hoheneck absaß. Ulrich Schacht hat seinen Vater noch nie gesehen.
Seit 1993 erst weiß er, dass es sich bei Wladimir Jegorowitsch Fedotow, der laut der Recherche eines befreundeten russischen Journalisten nach der Verhaftung seiner deutschen Geliebten nach Sibirien strafversetzt wurde und jetzt in Moskau lebt, um seinen Vater handeln muss. Sechs Jahre hat Schacht gebraucht, bis er sich zur Kontaktaufnahme durchringen konnte.
Der Vater hat auf seinen Brief nicht geantwortet und gegenüber den Moskauer Freunden des Sohnes stets bestritten, seine Mutter gekannt zu haben. Doch Ulrich Schacht gibt nicht auf. Zusammen mit einem niederländischen Filmteam - in Deutschland war man desinteressiert - macht er sich im April 1999 auf die Reise nach Moskau und befindet sich jetzt, nach einem Telefonat, während dem sich Fedotow zu einem Treffen bereit erkärte, auf dem Weg zu seinem Vater.
Er geht an der Seite seines Halbbruders Slavik, den er am Vorabend kennengelernt hat. Dies ist die Urszene des Buches, das Ulrich Schacht über seine Vatersuche geschrieben hat. Beim Marsch durch den Schnee erklärt er seinem Begleiter und mit ihm dem Leser seine Geschichte und die seiner Mutter. Es ist eine lange Reise, die tief in die Nachkriegszeit und einen für diese Epoche nicht untypischen Kosmos der Frauen führt. Nach der Heimkehr der Mutter wuchs Schacht, der seine drei ersten Lebensjahre bei Pflegeeltern verbrachte, in einer ausschließlich aus Frauen bestehenden Familie auf, zusammen mit Großmutter, Mutter und Schwester, die ebenfalls einer Beziehung zu einem Sowjetoffizier entstammte.
Die jungen Russen nahmen die Stelle der in zwei Kriegen gebliebenen Väter und Brüder ein. Schacht macht niemand einen Vorwurf daraus. Was ihn antreibt bei seiner Spurensuche, ist nicht der Wunsch nach Abrechnung, sondern der nach Verständnis. Der Journalist in ihm hat Vernehmungsprotokolle, Gesetze und Urteilssprüche ausgegraben, der Sohn die Briefwechsel und Familiengeschichten aufbewahrt, und der Schriftsteller sie zu atemberaubenden Szenen gestaltet, wie jene, in der seine Mutter auf einem Transport aus dem Polizeigefängnis Wismar ihre Tochter trifft:
"Nicht ahnend folgten sie und ihre Haftkameradin dem Polizeioffizier, als sie, nur wenige Sekunden, nachdem sie den Park betreten hatten, auf einer Bank eine gute Bekannte sitzen sah, zu deren Füßen selbstvergessen ein Kind spielte, ein kleines Mädchen: Es war kein anderes Mädchen als ihre Tochter, von der sie vor Tagen so brutal fortgerissen worden war. Das ungeheure Glück, das sie durchfuhr, als sie ihr Kind so plötzlich in der Nähe sah und ihr Kind sie, zum Greifen einander nah, war nichts anderes als ein ungeheurer Schmerz, der sie fast zu Boden riss.
Doch schaffte sie es, auf ihre Tochter zuzulaufen, die sich ebenfalls in Bewegung gesetzt hatte, sie in den Arm zu nehmen, an sich zu drücken und ihr immer wieder nur liebkosende Worte zuzuflüstern. Zutiefst verwirrt von der unerwarteten Begegnung, ja, erschüttert, hielten der Polizeioffizier und die Mitgefangene eine ganze Weile lang Abstand, bis der Uniformierte schließlich zu der lebenden Mutter Skulptur aus Mutter und Kind trat und leise sagte, sie müssten nun doch wohl langsam weiter."
Im ersten Teil des Buches, in dem der Autor seiner Mutter und ihren Gedanken auf dem Weg aus der Haftantstalt zurück nach Wismar folgt, gelingt ihm eine Nähe, die nur dadurch ermöglicht wurde, dass er selbst Ähnliches erlebt hat. Nach einer Kindheit, in der er das Fehlen eines Vaters kaum bemerkt hat, nach Abitur und Theologiestudium, das er unfreiwillig abbrechen musste, wurde er im März 1973 wegen staatsfeindlicher Hetze in Gedichten und Pamphleten, auf Flugblättern und den Treffen der Jungen Gemeinde verhaftet und unter Anklage gestellt.
Darauf folgt eine Odyssee durch die Haftanstalten der DDR, von Schwerin über Magdeburg, Potsdam, Waldheim bis nach Brandenburg, von wo er schließlich nach vier Jahren Haft in die Bundesrepublik entlassen wird. Es erscheint dies als eine fast zwangsläufige Fortsetzung des Schicksals seiner Mutter, mit dem vom Autor betonten Unterschied allerdings, dass er kein Opfer war, sondern ein bewusst die Konsequenzen seines Handelns in Kauf nehmender Täter. In seinen Gerichtsakten hat er das Protokoll seiner Schlussbemerkung während des Prozesses gefunden.
"Diese Handlungsweise ist so legitim, wie sie alt ist, und in Deutschland kennt man politische Literatur seit Walther von der Vogelweide. Zum anderen steht diese Handlungsweise auch in völligem Einklang mit den Prinzipien der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.
Das beweist, dass dieser Prozess und meine kommende Verurteilung eine erneute schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte in der DDR darstellen, gegen die ich auch in Zukunft Stellung nehmen werde. Nichts wird mich daran hindern. Und mit der gleichen Entschlossenheit werde ich am kommenden Donnerstag Ihr ungerechtfertigtes Urteil zur Kenntnis nehmen - bereit es zu tragen und seine Folgen durchzustehen."
Woher nahm ein 22-Jähriger die Kraft und die Gelassenheit zu solchen Worten, während man gerade dabei war, ihm die Jugend zu stehlen? Vor allem ist es der christliche Glaube - und dass er diese Kraft noch entfalten kann, ist eine der beglückenden Erkenntnisse, die dieses Buch vermittelt - , der schon seine Mutter stärkte, wenn in Hoheneck im Gottesdienst "Eine feste Burg ist unser Gott" angestimmt wurde, der ihn während der Haft stützte und danach, als er in der Bundesrepublik immer wieder als "Kalter Krieger" angefeindet wurde, der ihn auf seinem Weg durch den Schnee nie verließ, bis er seinen Vater in den Armen hielt.
"Vater, möchte ich sagen, aber kein einziges Wort verlässt meine Lippen: Was zu sagen wäre, geschieht. Niemand ist mehr im Raum unter freiem Himmel, außer uns. Keine Birken, kein Schnee, keine Freunde, keine Fremden, keine Kamera, keine Wörter und Sätze aus den Mündern der Zeugen. Stille. Nur vier Hände und Arme, die Hände und Arme von Vater und Sohn, unsere Arme durchstoßen die Luft, ergreifen, berühren, erfassen sich."
Ulrich Schacht: Vereister Sommer. Auf der Suche nach meinem russischen Vater
Aufbau-Verlag, Berlin 2011
"Heute darf ich Euch ein Sonderbrief schreiben, und das hat seinen Grund. Gestern ist nämlich mein kleiner Ulli geboren, nachts 0 Uhr 17. Es kam alles bisschen plötzlich, denn er ist drei Wochen zu früh gekommen. Mach dir um mich keine Sorge, mein Kleiner und ich sind hier in bester Pflege. Die Hebamme und die Ärztin sind wirklich vorzüglich und mit dem Kleinen gibt man sich die größte Mühe. Er ist etwas zart."
Knapp 50 Jahre später ist aus dem kleinen Ulli der Schriftsteller Ulrich Schacht geworden, er stapft durch den Schnee einer russischen Datschensiedlung auf das Haus seines Vaters zu, eines ehemaligen Sowjetoffiziers, den die Mutter zur Flucht in die britische Besatzungszone zu überreden versucht hatte, weshalb sie zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt wurde, von denen sie vier in Hoheneck absaß. Ulrich Schacht hat seinen Vater noch nie gesehen.
Seit 1993 erst weiß er, dass es sich bei Wladimir Jegorowitsch Fedotow, der laut der Recherche eines befreundeten russischen Journalisten nach der Verhaftung seiner deutschen Geliebten nach Sibirien strafversetzt wurde und jetzt in Moskau lebt, um seinen Vater handeln muss. Sechs Jahre hat Schacht gebraucht, bis er sich zur Kontaktaufnahme durchringen konnte.
Der Vater hat auf seinen Brief nicht geantwortet und gegenüber den Moskauer Freunden des Sohnes stets bestritten, seine Mutter gekannt zu haben. Doch Ulrich Schacht gibt nicht auf. Zusammen mit einem niederländischen Filmteam - in Deutschland war man desinteressiert - macht er sich im April 1999 auf die Reise nach Moskau und befindet sich jetzt, nach einem Telefonat, während dem sich Fedotow zu einem Treffen bereit erkärte, auf dem Weg zu seinem Vater.
Er geht an der Seite seines Halbbruders Slavik, den er am Vorabend kennengelernt hat. Dies ist die Urszene des Buches, das Ulrich Schacht über seine Vatersuche geschrieben hat. Beim Marsch durch den Schnee erklärt er seinem Begleiter und mit ihm dem Leser seine Geschichte und die seiner Mutter. Es ist eine lange Reise, die tief in die Nachkriegszeit und einen für diese Epoche nicht untypischen Kosmos der Frauen führt. Nach der Heimkehr der Mutter wuchs Schacht, der seine drei ersten Lebensjahre bei Pflegeeltern verbrachte, in einer ausschließlich aus Frauen bestehenden Familie auf, zusammen mit Großmutter, Mutter und Schwester, die ebenfalls einer Beziehung zu einem Sowjetoffizier entstammte.
Die jungen Russen nahmen die Stelle der in zwei Kriegen gebliebenen Väter und Brüder ein. Schacht macht niemand einen Vorwurf daraus. Was ihn antreibt bei seiner Spurensuche, ist nicht der Wunsch nach Abrechnung, sondern der nach Verständnis. Der Journalist in ihm hat Vernehmungsprotokolle, Gesetze und Urteilssprüche ausgegraben, der Sohn die Briefwechsel und Familiengeschichten aufbewahrt, und der Schriftsteller sie zu atemberaubenden Szenen gestaltet, wie jene, in der seine Mutter auf einem Transport aus dem Polizeigefängnis Wismar ihre Tochter trifft:
"Nicht ahnend folgten sie und ihre Haftkameradin dem Polizeioffizier, als sie, nur wenige Sekunden, nachdem sie den Park betreten hatten, auf einer Bank eine gute Bekannte sitzen sah, zu deren Füßen selbstvergessen ein Kind spielte, ein kleines Mädchen: Es war kein anderes Mädchen als ihre Tochter, von der sie vor Tagen so brutal fortgerissen worden war. Das ungeheure Glück, das sie durchfuhr, als sie ihr Kind so plötzlich in der Nähe sah und ihr Kind sie, zum Greifen einander nah, war nichts anderes als ein ungeheurer Schmerz, der sie fast zu Boden riss.
Doch schaffte sie es, auf ihre Tochter zuzulaufen, die sich ebenfalls in Bewegung gesetzt hatte, sie in den Arm zu nehmen, an sich zu drücken und ihr immer wieder nur liebkosende Worte zuzuflüstern. Zutiefst verwirrt von der unerwarteten Begegnung, ja, erschüttert, hielten der Polizeioffizier und die Mitgefangene eine ganze Weile lang Abstand, bis der Uniformierte schließlich zu der lebenden Mutter Skulptur aus Mutter und Kind trat und leise sagte, sie müssten nun doch wohl langsam weiter."
Im ersten Teil des Buches, in dem der Autor seiner Mutter und ihren Gedanken auf dem Weg aus der Haftantstalt zurück nach Wismar folgt, gelingt ihm eine Nähe, die nur dadurch ermöglicht wurde, dass er selbst Ähnliches erlebt hat. Nach einer Kindheit, in der er das Fehlen eines Vaters kaum bemerkt hat, nach Abitur und Theologiestudium, das er unfreiwillig abbrechen musste, wurde er im März 1973 wegen staatsfeindlicher Hetze in Gedichten und Pamphleten, auf Flugblättern und den Treffen der Jungen Gemeinde verhaftet und unter Anklage gestellt.
Darauf folgt eine Odyssee durch die Haftanstalten der DDR, von Schwerin über Magdeburg, Potsdam, Waldheim bis nach Brandenburg, von wo er schließlich nach vier Jahren Haft in die Bundesrepublik entlassen wird. Es erscheint dies als eine fast zwangsläufige Fortsetzung des Schicksals seiner Mutter, mit dem vom Autor betonten Unterschied allerdings, dass er kein Opfer war, sondern ein bewusst die Konsequenzen seines Handelns in Kauf nehmender Täter. In seinen Gerichtsakten hat er das Protokoll seiner Schlussbemerkung während des Prozesses gefunden.
"Diese Handlungsweise ist so legitim, wie sie alt ist, und in Deutschland kennt man politische Literatur seit Walther von der Vogelweide. Zum anderen steht diese Handlungsweise auch in völligem Einklang mit den Prinzipien der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948.
Das beweist, dass dieser Prozess und meine kommende Verurteilung eine erneute schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte in der DDR darstellen, gegen die ich auch in Zukunft Stellung nehmen werde. Nichts wird mich daran hindern. Und mit der gleichen Entschlossenheit werde ich am kommenden Donnerstag Ihr ungerechtfertigtes Urteil zur Kenntnis nehmen - bereit es zu tragen und seine Folgen durchzustehen."
Woher nahm ein 22-Jähriger die Kraft und die Gelassenheit zu solchen Worten, während man gerade dabei war, ihm die Jugend zu stehlen? Vor allem ist es der christliche Glaube - und dass er diese Kraft noch entfalten kann, ist eine der beglückenden Erkenntnisse, die dieses Buch vermittelt - , der schon seine Mutter stärkte, wenn in Hoheneck im Gottesdienst "Eine feste Burg ist unser Gott" angestimmt wurde, der ihn während der Haft stützte und danach, als er in der Bundesrepublik immer wieder als "Kalter Krieger" angefeindet wurde, der ihn auf seinem Weg durch den Schnee nie verließ, bis er seinen Vater in den Armen hielt.
"Vater, möchte ich sagen, aber kein einziges Wort verlässt meine Lippen: Was zu sagen wäre, geschieht. Niemand ist mehr im Raum unter freiem Himmel, außer uns. Keine Birken, kein Schnee, keine Freunde, keine Fremden, keine Kamera, keine Wörter und Sätze aus den Mündern der Zeugen. Stille. Nur vier Hände und Arme, die Hände und Arme von Vater und Sohn, unsere Arme durchstoßen die Luft, ergreifen, berühren, erfassen sich."
Ulrich Schacht: Vereister Sommer. Auf der Suche nach meinem russischen Vater
Aufbau-Verlag, Berlin 2011