Eine langlebige NS-Legende

Odessa ist eine Hafenstadt am Schwarzen Meer. Odessa ist aber auch die Abkürzung für "Organisation der ehemaligen SS-Angehörigen". "Odessa" war eine "verschwörerische Geheimorganisation der SS" – sagte der 2005 verstorbene Simon Wiesenthal, der es sich als Holocaust-Überlebender zur Lebensaufgabe gemacht hatte, ehemalige Nazis und Kriegsverbrecher zu verfolgen und vor Gericht zu stellen.
Adolf Eichmann spürte er bereits 1953 in Argentinien auf. Auch er sei mit Hilfe von "Odessa" dorthin geflohen. "Odessa", so Wiesenthal, sei eine Organisation, die "dazu diente, Kriegsverbrecher aus Deutschland herauszuschleusen und nach Südamerika zu bringen". Ein "weltweites geheimes Fluchtnetz", eine SS-Untergrundbewegung", die das "Vierte Reich" plante.

Heinz Schneppen kommt in seinem Buch zu dem Schluss, dass es diese Organisation nie gegeben hat. Er ist nicht der erste und auch nicht der einzige Autor, der dies sagt. Simon Wiesenthal hatte sich auf eine Quelle namens "Hans" berufen. Die wahre Identität des Informanten hat Wiesenthal nie offengelegt, auch fast ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende nicht, im Jahr 2003, als Schneppen mit Wiesenthal in Wien darüber sprach. Zu jener Zeit habe es keinen Anlass mehr gegeben, eine Quelle zu schützen, schreibt Schneppen. Ohne Identifizierung fehle ihrer Aussage aber jede Legitimation. Er listet weitere Unstimmigkeiten in Wiesenthals Bericht auf. Einmal will er von der Quelle namens "Hans" in einem Münchener Hotel unterrichtet worden sein, einmal in Salzburg, dann wieder in Nürnberg.

Eigentlich wollte der Historiker Heinz Schneppen, der 36 Jahre im diplomatischen Dienst der Bundesrepublik stand, die Biographie des letzten Gettokommandanten von Riga verfassen, Eduard Roschmann, auf dessen Spuren er in Paraguay gestoßen war. Er wollte einen Exkurs über die Nazi-Flucht nach Südamerika schreiben, dann stieß er bei seinem Aktenstudium auf so viele Ungereimtheiten, dass er letztlich dem Thema ein ganzes Buch widmete.

Erstmals wertete er Akten der Staatssicherheit aus. Die Stasi strickte an der Geschichte der Massenfluchtbewegung "Odessa" kräftig mit. Wirkliche Beweise für ihre Existenz lassen sich nach Schneppen dort aber auch nicht finden. Ohne Zweifel haben Nazis sich untereinander geholfen. Dass sie sich aber bereits 1944 zu einer Konferenz im Straßburger Hotel "Maison Rouge" mit Industriellen trafen, um mit Hilfe eines zur Seite geschafften "Nazi-Schatzes" die Geheimorganisation aufzubauen, um Zehntausende von SS-Männern die Flucht vor den Siegermächten zu ermöglichen, verweist Heinz Schneppen in den Bereich der Legende.

Dabei geht es ihm nicht in erster Linie darum, Wiesenthals Einschätzungen zu widerlegen. Auch zweifelt er nicht an der Existenz von "Rattenlinien", jener Fluchtwege, über die sich Nazis via Tirol, Rom und Genua nach Südamerika absetzten. Die katholische Kirche und das Internationale Rote Kreuz spielten hierbei eine wesentliche Rolle. Schneppen will mit seiner Studie vielmehr darlegen, wie es zur Mythenbildung kam. Mythos will er dabei nicht im ursprünglichen Sinne als Mittel religiöser oder philosophischer Welterklärung verstehen, sondern als "Verdichtung ideologisch bestimmter Vorstellungen, denen der Bezug zur Wirklichkeit fehlt".

Der "Mythos Odessa" zählt Tausende gesuchter Nazis, die sich in Argentinien eine neue Existenz aufgebaut hätten. Tatsächlich sind etwa 50.000 Deutsche und Österreicher nach dem Zweiten Weltkrieg dorthin ausgewandert. Als gesuchte Kriegsverbrecher identifiziert Schneppen jedoch nur zwei Dutzend. Darunter sind Adolf Eichmann, Josef Mengele, und eben jener Eduard Roschmann, dessen Biographie Heinz Schneppen noch schreiben wird. Kurzbiographien jener 24 Kriegsverbrecher sind das Kernstück des Buchs.

Die NS-Mythen, auch der Mythos "Odessa", haben einen rationalen Kern. Sie sind in sich schlüssig, deshalb folgen ihnen allzu gern und unkritisch nicht nur Romanautoren, sondern auch Historiker. Gesicherte Daten verbinden sich mit spekulativen Ergänzungen. Ihrem Wesen nach ordnet Heinz Schneppen die NS-Mythen den "Verschwörungstheorien" zu. Sie werden ihre Faszination behalten, auch wenn sie – wie jetzt von Heinz Schneppen – widerlegt werden.

Rezensiert von Annette Wilmes

Heinz Schneppen: Odessa und das Vierte Reich. Mythen der Zeitgeschichte
Metropol-Verlag, Berlin 2007
279 Seiten, 19 Euro