Eine Märchen-Hommage
In "Grrrimm" montiert Karen Duve berühmte Märchen wie wertvolle Oldtimer auseinander und setzt diese dann unter Verwendung moderner Zubehörteile wieder zusammen – zu fantastischen Hybridfahrzeugen, die ordentlich Fahrt machen.
Karen Duve und die Märchen – das ist eine fruchtbare Beziehung. Schon ihr "Regenroman" verband harten Realismus mit märchenhaften Motiven. Später überraschte sie mit dem vergnüglichen Märchenroman "Die entführte Prinzessin". Jetzt hat sie sich die berühmtesten Geschichten der Brüder Grimm vorgenommen. "Schneewittchen", "Dornröschen", "Rotkäppchen", "Froschkönig" werden auseinander montiert wie wertvolle Oldtimer und dann in Duves Werkstatt unter Verwendung moderner Zubehörteile wieder zusammengesetzt – zu phantastischen Hybridfahrzeugen, bei denen nichts richtig zusammenzupassen scheint, die aber trotzdem ordentlich Fahrt machen.
Im Märchen haben einfach angelegte Figuren Prüfungen zu bestehen. Nicht Reflexion ist von ihnen gefordert, sondern der aus dem Herzen kommende Handlungsimpuls. Duve dagegen schildert in den märchenhaften Dekorationen sehr heutige und angeknackste Charaktere, die es mit den Zwiespältigkeiten des wahren Lebens zu tun bekommen. So packen den Erzähler-Zwerg in der Update-Version von "Schneewittchen" sehr konkrete Gelüste nach dem attraktiven Mädchen. Überhaupt – eine junge Frau mit sieben zu kurz gekommenen Männern? Eine ziemlich anrüchige Wohngemeinschaft. Die Zwerge verzehren sich vor Eifersucht, als der Prinz daherkommt und die vom Apfelbutzen befreite Schöne für sich beansprucht.
Im herkömmlichen Märchen muss nichts erklärt werden. Die merkwürdigsten Winkelzüge ergeben sich aus der erzählerischen oder moralischen Logik der Handlung. Hier setzt Duve an und appliziert Motive, oft nach Maßgabe einer sehr heutigen Küchenpsychologie, was für weitere komische Kontraste sorgt. Da ist Rotkäppchen für die Familie bloß ein "Fußabtreter", da murmelt ein düpierter Teufel "Alles nur ein Missverständnis!", da gibt die Fee, die Dornröschen in den Schlaf gezaubert hat, reumütig heulend zu, dass sie "möglicherweise etwas scharf reagiert" habe. Der geduldige Prinz, der hundert Jahre auf das Erwachen seiner Angebeteten warten muss, wird unterdessen von einem Bandscheibenvorfall und den Miseren des Alters geplagt. Zwar bringt er es dank kurioser Diäten auf 115 Jahre – aber welche Prinzessin möchte von einem solchen Greis wachgeküsst werden? Lauter "realistische" Probleme, die sich aus märchenhaften Fabeln ergeben und nach Lösungen rufen.
In "Bruder Lustig" erweckt der heilige Petrus ein totes Mädchen wieder zum Leben. Er nimmt ihren Körper wie ein Anatom auseinander, kocht das Fleisch von den Knochen, legt diese dann wieder ordnungsgemäß zusammen und träufelt das Wasser des Lebens darauf. Bei den Brüdern Grimm wird das in zwei Sätzen erzählt, ohne dass eine Reaktion auf die unerhörten Vorgänge erwähnt würde. Duve dagegen kostet die Passage aus, schildert die Details wie im Horrorfilm, bereitet eine Splatterszene aus Blut und Gestank, und den Bruder Lustig packt das nackte Grauen. Noch gruseliger ist die Werwolf-Version von Rotkäppchen.
Der Stil kommt mit Duves gewohnter Lust an der Ernüchterung daher. Wenn sich jemand in feierlicher Rede versucht, kippt das regelmäßig ins Alltagssprachliche. Der frische, ein wenig patzige Ton wirkt jedoch nie als wirkliche Störfrequenz. Jesus fährt mit dem Moped zur nächsten Wunderheilung, ein hinterwäldlerischer Ort verkommt, weil EU-Gelder ausbleiben – mit solchen Kontrasten und Anachronismen werden berechenbare Pointen erzielt. Und doch ist dies keine klamaukhafte Travestie, weil Duve ihre Geschichten mit Hingabe erzählt. "Grrrimm" ist eine Hommage.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Karen Duve: Grrrimm
Galiani Verlag, Berlin 2012
160 Seiten, 19,99 Euro
Im Märchen haben einfach angelegte Figuren Prüfungen zu bestehen. Nicht Reflexion ist von ihnen gefordert, sondern der aus dem Herzen kommende Handlungsimpuls. Duve dagegen schildert in den märchenhaften Dekorationen sehr heutige und angeknackste Charaktere, die es mit den Zwiespältigkeiten des wahren Lebens zu tun bekommen. So packen den Erzähler-Zwerg in der Update-Version von "Schneewittchen" sehr konkrete Gelüste nach dem attraktiven Mädchen. Überhaupt – eine junge Frau mit sieben zu kurz gekommenen Männern? Eine ziemlich anrüchige Wohngemeinschaft. Die Zwerge verzehren sich vor Eifersucht, als der Prinz daherkommt und die vom Apfelbutzen befreite Schöne für sich beansprucht.
Im herkömmlichen Märchen muss nichts erklärt werden. Die merkwürdigsten Winkelzüge ergeben sich aus der erzählerischen oder moralischen Logik der Handlung. Hier setzt Duve an und appliziert Motive, oft nach Maßgabe einer sehr heutigen Küchenpsychologie, was für weitere komische Kontraste sorgt. Da ist Rotkäppchen für die Familie bloß ein "Fußabtreter", da murmelt ein düpierter Teufel "Alles nur ein Missverständnis!", da gibt die Fee, die Dornröschen in den Schlaf gezaubert hat, reumütig heulend zu, dass sie "möglicherweise etwas scharf reagiert" habe. Der geduldige Prinz, der hundert Jahre auf das Erwachen seiner Angebeteten warten muss, wird unterdessen von einem Bandscheibenvorfall und den Miseren des Alters geplagt. Zwar bringt er es dank kurioser Diäten auf 115 Jahre – aber welche Prinzessin möchte von einem solchen Greis wachgeküsst werden? Lauter "realistische" Probleme, die sich aus märchenhaften Fabeln ergeben und nach Lösungen rufen.
In "Bruder Lustig" erweckt der heilige Petrus ein totes Mädchen wieder zum Leben. Er nimmt ihren Körper wie ein Anatom auseinander, kocht das Fleisch von den Knochen, legt diese dann wieder ordnungsgemäß zusammen und träufelt das Wasser des Lebens darauf. Bei den Brüdern Grimm wird das in zwei Sätzen erzählt, ohne dass eine Reaktion auf die unerhörten Vorgänge erwähnt würde. Duve dagegen kostet die Passage aus, schildert die Details wie im Horrorfilm, bereitet eine Splatterszene aus Blut und Gestank, und den Bruder Lustig packt das nackte Grauen. Noch gruseliger ist die Werwolf-Version von Rotkäppchen.
Der Stil kommt mit Duves gewohnter Lust an der Ernüchterung daher. Wenn sich jemand in feierlicher Rede versucht, kippt das regelmäßig ins Alltagssprachliche. Der frische, ein wenig patzige Ton wirkt jedoch nie als wirkliche Störfrequenz. Jesus fährt mit dem Moped zur nächsten Wunderheilung, ein hinterwäldlerischer Ort verkommt, weil EU-Gelder ausbleiben – mit solchen Kontrasten und Anachronismen werden berechenbare Pointen erzielt. Und doch ist dies keine klamaukhafte Travestie, weil Duve ihre Geschichten mit Hingabe erzählt. "Grrrimm" ist eine Hommage.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Karen Duve: Grrrimm
Galiani Verlag, Berlin 2012
160 Seiten, 19,99 Euro