Eine Melodie erzählt von der Kindheit

Von Wolfgang Martin Hamdorf |
Der Debütfilm von Florian Cossen "Das Lied in mir" führt nach Argentinien. Mit Michael Gwisdek und Jessica Schwarz als Vater und Tochter thematisiert der Film die langen Schatten der Militärdiktatur, die bis nach Deutschland reichen.
Eine junge Mutter singt ein Wiegenlied im Wartesaal des Flughafens von Buenos Aires. Bei Maria löst das einen Schock aus. Die 31-jährige Deutsche ruft verwirrt und ratlos ihren Vater an:

Aus dem Film: "Mir ist heute Morgen was völlig Komisches passiert. Ich hab ein Kinderlied wiedererkannt. Aber auf Spanisch. Meld dich doch mal bei mir."

Aber ihr Vater Anton kommt sofort selbst in die argentinische Hauptstadt geflogen. Er ist sehr besorgt, denn hinter dem Kinderlied steckt eine unangenehme Wahrheit:

Aus dem Film: "Liliana hat dir immer vorgesungen, am Anfang, als du zu uns kamst." "Als ich zu Euch kam?" "Liliana und ich sind nicht deine leiblichen Eltern."

Marias leibliche Eltern, Antons Kollegen, wurden während der Militärdiktatur ermordet. Die junge Frau sieht ihre ganze bisherige Identität wanken und der Film lebt besonders von dem starken Vater-Tochter Konflikt, brillant dargestellt durch Jessica Schwarz und Michael Gwisdek in den Hauptrollen:

Aus dem Film: "Was hatten meine Eltern eigentlich gemacht?" Ich weiß es nicht, wahrscheinlich gar nichts. Während der Diktatur haben die Militärs wahllos Leute verhaftet, sind über 30.000 Menschen verschwunden. Kurz nachdem du zu uns kamst, haben wir das Land ja auch verlassen." "Und da habt ihr mich einfach mitgenommen?" "Maria, du warst drei! Hätten wir dich in ein Heim stecken sollen?"

Aber Anton verschweigt, dass Marias argentinische Familie schon auf der Suche nach ihr war und er das kleine Mädchen ohne deren Wissen nach Deutschland gebracht hat. Das Spielfilmdebüt von Florian Cossen hat einen sehr politischen Hintergrund: Die Zwangsadoptionen von etwa 500 Kindern der Opfer der Militärdiktatur von 1976 bis 1982.

Für die Vergangenheitsbewältigung in Argentinien ein extrem wichtiges Thema, denn der Preis für die Demokratie war die Straffreiheit für die Verbrechen der Diktatur. Einzige Ausnahme war die juristische Verfolgung der illegalen Adoptionen. Auch Maria steht jetzt vor einer schweren Entscheidung: zwischen dem Gerechtigkeitsbedürfnis ihrer argentinischen Familie, die sie über Jahre hinweg vergeblich gesucht hat, und der Liebe zu dem Mann, der für sie immer ihr Vater war. Dabei beschränkt sich "Das Lied in mir" auf die persönliche Dimension: Die Begegnung der jungen Frau mit ihrer wiedergefundenen argentinischen Familie, und der Kultur, die ihr von den deutschen Adoptiveltern vorenthalten wurde, ihrem tiefen Vertrauensverlust, ihrer Identitätskrise. Für Regisseur Florian Cossen kann sein Film den historisch politischen Hintergrund nicht erklären:

Florian Cossen: "Was mich immer nur interessiert hat, ist eine zutiefst private Geschichte letztendlich zu machen, eine emotionale Geschichte, ein Schicksal von einer Frau in meinem Alter, die aus Deutschland kommt, aus der Perspektive Ich eine politische Geschichte erzählt, die wie ich ein paar Fetzen über die Militärdiktatur, was die Fakten angeht, in dem Film erfährt. Der Anstoß kann aber nur sein, dass jemand nach Hause geht und bei Wikipedia nachguckt, oder einen der vielen, vielen sehr guten Dokumentarfilme, die über das Thema gemacht wurden, sich anschaut und dann über die Zeit wirklich was lernen kann."

Der Film verzichtet auf dokumentarisches Material und verzichtet auch auf Ikonen des argentinischen Widerstandes: Die "abuelas de la plaza de mayo", die engagierten Mütter der Ermordeten mit ihrem weißen Kopftuch, die mit ihrem Protest seit 1978 weltweit auf sich aufmerksam machten und dann später nach den illegal adoptierten Enkelkindern suchten.

Florian Cossen: "Warum keine 'Abuelas de Plaza de mayo'? Die spielen eine wahnsinnig wichtige Rolle in dem ganzen Ding. Ich hatte immer das Gefühl, in dem Moment, wo die 'abuelas' mit reinkommen, bekommt das was von einem Dokumentarfilm und ich finde die Vermischung ganz gefährlich. Ich finde es ganz wichtig, sich zu entscheiden, weil gerade dieses Thema ist eigentlich prädestiniert, und es gibt ganz tolle Dokumentarfilme, die wirklich diese Menschen aufgesucht haben und ihre Geschichte erzählen. In unserem Fall wollte ich aber und zwar mit gutem Grund einen Spielfilm machen. Warum Spielfilm? (...) Ich wollte die volle Freiheit haben, den Konflikt so weit auszutreiben, so zu verdichten, zwischen Vater und Tochter bis es implodiert, oder explodiert."

"Das Lied in mir" steht in einer langen Reihe argentinischer, aber auch internationaler Filme. Allerdings ist der Adoptivvater hier weniger in tiefe Schuld verstrickt als in anderen Filmen: Fast immer wachsen die Kinder der Opfer in den Familien der Mörder und ihrer Komplizen auf, ohne es selbst zu wissen. In dem bekanntesten argentinischen Film zum Thema, den 1984 mit einem Oscar ausgezeichneten "La historia oficial” (Die offizielle Geschichte), wird eine Lehrerin mit der bitteren Wahrheit konfrontiert, dass ihre scheinbar legal adoptierte Tochter, ein Geschenk der Militärs für die geleisteten Dienste ihres Mannes war. Der politische Hintergrund verbindet sich mit starken Familiengefühlen zur schicksalshaften Tragödie, der Erkenntnisprozess der Kinder wird zur Metapher der Einsicht in die Verbrechen der Vergangenheit einer ganzen Nation.

Manche Filmemacher fürchten allerdings die Sentimentalisierung des Politischen, die Empathie mit den Tätern, so der argentinisch-italienische Regisseur Marco Bechis. In seinem Film "Hijos" (Kinder) entdeckt sein Protagonist in Italien, dass seine leiblichen Eltern in Argentinien von der Militärdiktatur umgebracht wurden:

Marco Bechi: "Ich wollte dieser Gefahr der Melodramatisierung entgehen, denn so einen Film könnte man auch in einer 500-teiligen Telenovela erzählen. Also habe ich die Figuren ganz kalt, fast abstrakt inszeniert. Ich wollte nicht, dass am Ende ein Zuschauer im Kino sagt: 'Ach die armen Leute, die leiden ja auch ganz schrecklich.'"

In vielen Filmen wird, teils dokumentarisch, teils sehr dramatisiert, die schmerzliche Erkenntnis der jungen Menschen einer falschen Identität auch zur Metapher für die langsame Vergangenheitsbewältigung der gesamten argentinischen Gesellschaft. Florian Cossens Debüt verlegt diesen Konflikt in eine deutsche Familie. "Das Lied in mir" ist ein Film über den Umgang mit der Lüge und einer neuen Identität: ein fesselndes emotionales Kammerspiel, das den Zuschauer aber mit dem Gefühl zurücklässt, mehr über die Hintergründe wissen zu wollen.

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