"Eine Möglichkeit, den Frieden neu zu denken"

Marica Bodrozic im Gespräch mit Katrin Heise |
Kroatien ist das 28. Land, das zur Europäischen Union gehört. Die Schriftstellerin Marica Bodrozic sieht darin Chancen für das Land und sie erklärt, warum die EU ein "mentaler und kultureller Raum" ist, den sie für Kroatien wichtig hält.
Katrin Heise: Herzlich Willkommen! Auch, wenn Kanzlerin Angela Merkel nicht zur Beitrittsfeier in Zagreb war, der Ärger über diese Absage hat den Kroaten die Freude, wenn überhaupt, nur kurz vergällt.

Seit heute ist Kroatien das 28. EU-Land, und das wurde gefeiert. Marica Bodrozic, geboren 1973 in Dalmatien, das also zu Kroatien gehört, lebt seit ihrem zehnten Lebensjahr in Deutschland. Mit Gedichten, Erzählungen, Romanen und Essays macht und machte sie sich als Schriftstellerin, als Lyrikerin einen Namen. Ich freue mich, dass sie jetzt zu Gast im Radiofeuilleton ist - schönen guten Morgen!

Marica Bodrozic: Schönen guten Morgen!

Heise: Haben Sie sich gefreut, dass Kroatien jetzt EU-Mitglied ist, ganz persönlich?

Bodrozic: Ja, ich finde es sehr schön, dass das jetzt der Fall ist, und meine Mutter hat mir gestern bei einem Telefonat sogar einen richtig guten Grund dafür gegeben, sie sagte nämlich, stell‘ dir vor, damals, als Tito die Verträge unterschrieben hat, konnten wir in Jugoslawien reisen, das war anders in den anderen kommunistischen Ländern.

Und jetzt, sagte sie, fühle sie sich auch irgendwie in einen größeren Raum aufgenommen, und vielleicht bedeutet das ja tatsächlich auch etwas neben diesen ganzen apokalyptischen Wirtschaftsmomenten, die es da ja auch gibt, ist es tatsächlich ein mentaler und kultureller Raum, der für die Kroaten, glaube ich, sehr wichtig ist, aber auch für den gesamten Balkanraum. Es ist auch eine Möglichkeit, den Frieden neu zu denken.

Heise: Ich würde gerne da genauer, so Stück für Stück vorgehen. Warum glauben Sie, dass der große europäische Raum für Kroatien ein guter Raum ist?

Bodrozic: Ich glaube, das liegt im Grunde genommen in der ganzen Geschichte Kroatiens und der Gegend begründet. Sehen Sie, es ist eine Gegend, in der die alten Griechen schon waren, in der die Römer waren, eine der schönsten kroatischen Städte, Split beispielsweise, ist durch den Kaiser Diokletian gegründet worden.

Aber auch, natürlich, später, Venedig, 400 Jahre ist ja Serinissima. Und dann Habsburg, Ungarn - also in Kroatien gab es auch eine Zeit, wo, wenn ich das mal so sagen darf, jeder Vollidiot fünf Sprachen gesprochen hat. Und das hat auch etwas mit der Monarchie zu tun, damit, dass das eben Alltag war, dass es üblich war, sich in verschiedenen Sprachen zu verständigen. Da ist schon etwas in dieser Gegend auch da, was diesen kulturellen Raum mit beatmet.

Heise: Ist das noch da?

Bodrozic: Ja, das ist noch da. Vielleicht nicht in jedem Dorf …

"Schreckliches Erbe des Krieges"
Heise: Denn was sich oft nach außen transportiert, ist ja durchaus auch eine Enge, eine Enge im Geist und ein Sich-Beziehen auf kroatischen Nationalismus. Jedenfalls hat man das viele Jahre hindurch immer wieder vorgeführt bekommen.

Bodrozic: Ja, Sie erwähnten das zu Recht, es gibt auch beides. Es ist natürlich ein schreckliches Erbe dieses Krieges, dass die nationalistischen Töne tatsächlich diesen Raum auch belagert haben. Ich bin mir aber sicher, dass das wie bei einem Palimpsest ist, dass überschriftet ist, das aus verschiedenen Schichten besteht, dass unter dieser Schicht, unter diesem lauten, hysterischen, nationalistischen Ton etwas Anderes ist, das spüren die Menschen. Sie wissen, dass das andere sie mehr – sagen wir mal, freier macht.

Das könnte ich vielleicht an einem Beispiel illustrieren einer Bekannten, die in Dubrovnik gelebt hat und mittlerweile nach Berlin gezogen ist. Die aus dem Krieg flüchten musste, als die Stadt angegriffen wurde von den Serben mit Artillerie. Und das Einzige, was sie gerettet hat, was sie retten konnte, war ein Fremdwörterbuch, das 1600 Seiten dick ist, und zwar Fremdwörter im Kroatischen, die aus dem Türkischen kommen, aus dem Italienischen, Französischen, Latein ist ja auch sozusagen ein Teil der Sprache, vor allem im Dalmatinischen.

Diese Frau hat also etwas mitgenommen, was eine Essenz auch dieser Kultur und dieses Sprachraumes ist, und das macht sie auch aus. Sie ist aber durchaus auch eine Patriotin. Also, es muss sich nicht widersprechen.

Heise: Ich habe eben, als ich in der Ortszeit schon auf unser Thema hingewiesen habe, da habe ich sie vorgestellt auch als eine Schriftstellerin und als eine Lyrikerin, die das Lebensgefühl in Kroatien immer sehr genau nachempfunden hat. Als Sie jetzt reinkamen, haben Sie gleich gesagt, na ja, Lebensgefühl Kroatien, ich habe eigentlich nie Kroatien gemeint. Sie meinen einen Echoraum, also auch Sie, Echoraum haben Sie es genannt. Was meinen Sie damit? Ist es Ihnen also auch ganz wichtig, Ihnen ganz persönlich, auch von Deutschland aus betrachtet, immer wieder das große Kroatiens. Das Freie.

Bodrozic: Ja, das ist mir sehr wichtig. In meinen Büchern und in meinen Gedichten kommt die Nationalität selbstverständlich nicht vor, so wie ich auch glaube, dass ein Dichter nicht unbedingt eine Bezeichnung nationaler Art braucht. Entweder er ist ein Dichter oder er ist es nicht. Und diese Echoräume, die sind mir wichtig. Die Echoräume, die ich meine, das sind natürlich Echoräume, die verbunden sind mit dem Mediterranen, mit der Kultur des Mediterranen. Mit der Weite, die immer schon da war auf dem Mediterran, die Fähigkeit, sich größer zu denken.

Das hat natürlich auch mit der Natur zu tun, mit dem blauen Himmel, mit der Vorstellung, dass das Meer einen verbindet. Und so ist es ja auch. Es gibt einfach diese anderen Möglichkeiten, miteinander in Beziehung zu stehen. Und wenn Sie sich anschauen, wie die Serenissima funktioniert hat, wie alle Kulturen, die den Raum auf ihre Weise beschriftet haben, ihre Spuren auch dagelassen haben.

Es gibt eigentlich, so kommt mir das auch in meinem Leben so vor, keine wirkliche Möglichkeit, sich klein zu denken. Wenn man das macht, dann begrenzt man das Bild. Ich habe eine Freundin in Amerika, die in Kalifornien lebt, die italienisch-persische Wurzeln hat. Sie sagt immer: "Don't forget the bigger picture." Und ich glaube, das wird oft vergessen, wenn man diese ganzen apokalyptischen Dinge in den Raum stellt. Und es ist aber wichtig, das größere Bild zu behalten und es nicht nur auf eine Sache zu reduzieren.

Vorhandene Ängste
Heise: Kroatien seit heute Mitglied der Europäischen Union. Zu Gast im Radiofeuilleton ist die Schriftstellerin Marica Bodrozic. Frau Bodrozic, wenn wir jetzt mal von deutscher Seite aus gucken, also die Seiten quasi wechseln - die "Bild"-Zeitung hat neulich wieder alle Ressentiments zusammen bedient und gefragt, Kroation wird das nächste Millionengrab. Kommt das nächste Griechenland in die EU. Wirtschaftlich steht Kroatien ja tatsächlich nicht so gut da. Sie haben es jetzt immer apokalyptisch genannt. Natürlich sind die Ängste dann irgendwo natürlich vorhanden. Wie kann man denen entgegentreten?

Bodrozic: Ja, die Ängste sind natürlich auf dieser rationalen und konkreten Ebene schon - man kann das schon auch verstehen. Gerade, wenn man die letzten Jahre anschaut, was da genau passiert ist, aber es ist vielleicht auch ein Moment in der europäischen Gemeinschaft, in diesem Kulturraum auch, die Gemeinsamkeiten anders zu denken.

Es hat auch etwas sehr Gefährliches, sich nur auf diese materielle Ebene zu begeben und dort auch zu verharren. Ganz konkret natürlich, Kroatien ist jetzt nicht vergleichbar mit Deutschland, mit der deutschen Wirtschaft, aber wenn wir ehrlich sind, ist das auch nicht Frankreich und Spanien auch nicht und Portugal auch nicht. Das heißt, wir müssen gemeinsam alle etwas Neues lernen.

Ich glaube, dass diese ganze materielle Ebene von einem neuen Bewusstsein – ja, sagen wir mal, gehoben, unterspült werden muss, so wie das Meer immer wieder neu kommt, in neuen Wellen, wir sind alle aufgefordert, das Gemeinsame neu zu denken und uns eben auch zu fragen, wie genau können wir dieses System reformieren? Wie können wir es neu denken? Und ich glaube, dass das genauso wie mit dem Geld, das Geld ist ja kein Wert an sich, wir haben ja alle jetzt gemerkt, dass das Geld eigentlich Vertrauen ist.

Und dieser Raum des Vertrauens, der muss neu definiert werden. Wie gehen wir miteinander um, was können wir voneinander lernen? Und ich kann Ihnen sagen, dass es natürlich viel wichtiger ist, das wissen Sie auch, für Europa und überhaupt für die Welt, dass wir eine friedfertige Welt haben, dass wir lernen, uns nicht kriegerisch miteinander auseinanderzusetzen. Und übrigens auch nicht in der Sprache. Dass wir den Krieg nicht in die Syntax verlagern.

Heise: Da hat natürlich Kroatien noch nähere Erinnerungen an eben eine kriegerische Zeit, eine Zeit des Blutvergießens, eine Zeit, wo Rassismus, religiöse Intoleranz, das alles sehr eng aufeinander getroffen ist. Sie sagen sowieso, das ist überall in der EU immer nach wie vor enthalten, erhalten da.

Bodrozic: Ich glaube sogar, dass der Balkan ein bisschen so das Unbewusste Europas ist. Aber, wenn ich jetzt Kroatien anschaue, ich denke, die Kroaten haben wirklich viel gelernt, auch wenn da noch einiges, was die Korruption betrifft und so, zu tun ist.

Wenn Sie sich anschauen, was in Russland jetzt als Gesetz verabschiedet worden ist, dass man sich über Homosexuelle in Anwesenheit von Kindern nicht einmal mehr äußern darf - das können Sie in Kroatien nicht erleben. Das ist nicht so, da gab es vor ein paar Jahren heftige Demonstrationen, aber auf dem demokratischen Wege hat diese Gesellschaft sich damit auseinandergesetzt.

Und ich bin überzeugt davon, dass man auch auf der Ebene des Nationalismus, dieser harschen Töne, dass die Kroaten sehr viel noch lernen können und auch sollen. Was auch die faschistische Vergangenheit anbetrifft, und dazu ist auch so eine Gemeinschaft wie Europa da. Das ist eben ganz wichtig, sich nicht nur über das Geld zu definieren, sondern tatsächlich über diese inneren Haltungen, die uns ausmachen und die uns zu mehr Menschlichkeit miteinander führen.

Heise: Sie haben anfangs gesagt, dass Ihre Mutter gestern ganz freudig Sie angerufen hat und gesagt hat, schau, so, und erinnert hat an früher. Wenn Sie jetzt so kroatisch gesamt schauen, die Stimmung ist ja doch ein bisschen schlechter geworden. Meinen Sie, das hebt sich jetzt wieder?

Bodrozic: Also, es ist tatsächlich sehr durchmischt. Also, es gibt auch Kroaten, die sagen, was, soll ich mir irgendwann mein Brot in Euro kaufen? Das ist also eine schreckliche Vorstellung für manche. Für andere, die sich eben größer denken können, es ist durchmischt.

Ich glaube, es spiegelt so ein bisschen auch den Zustand, wie das oft auch in der Europäischen Union, zum Beispiel mit Frankreich und den französischen Bauern – erinnern Sie sich noch, vor zehn Jahren, wie die französischen Bauern auf die Straße gegangen sind und gesagt haben, was, wir wollen nichts mit dieser EU zu tun haben. Und jetzt erleben wir einen Monsieur Hollande, der einfach ganz konkrete finanzielle Vorstellungen hat und sich bitte gerne ein paar Milliarden überweisen lässt.

Also, die Dinge verschieben sich. Es ist wichtig, dass sozusagen die Arbeit am Bewusstsein stattfindet und dass man sich miteinander in einen Raum der Verantwortung begibt.

Heise: Und da ist Kroatien Ihrer Meinung nach auf jeden Fall genau zum richtigen Zeitpunkt in die EU eingetreten, um eben für die ganze EU diesen Raum, dieses Verantwortungsgefühl auch wieder noch mal ganz neu zu füllen. Schriftstellerin Marica Bodrozic zum EU-Beitritt Kroatiens.

Ich danke Ihnen ganz herzlich, dass Sie unser Gast waren. Die Zeit ist nämlich ganz schnell vergangen. Im vergangenen Jahr veröffentlichten Sie den Roman "Kirschholz und alte Gefühle" im Luchterhand-Verlag, das wollte ich auch nicht unerwähnt lassen. Ich danke Ihnen und wünsche noch einen schönen Tag!

Bodrozic: Ich danke Ihnen!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Blick auf Kirchtürme in der kroatischen Hauptstadt Zagreb
In der Hauptstadt Zagreb feiern die Menschen den Beitritt (hier ein Blick auf die Kirchtürme).© Stock.XCHNG - Vladimir Sterle