Eine Nacht im Übernacht-Café

Rückzugsort für Wärme und Menschlichkeit

05:07 Minuten
Wohnungslose sitzen im Übernachtcafé am Esstisch und schlafen.
Schlafen im Sitzen, hauptsache warm: Wohnungslose und Schutzbedürftige Menschen im Übernachtcafé. © Deutschlandradio / Jannis Keil
Von Jannis Keil und Vincent Lindig |
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Im Übernacht-Café in Berlin-Kreuzberg können sich Obdachlose und andere Menschen in Not für ein paar Stunden aufwärmen und stärken. Die Gründe, warum die Menschen kommen, sind ganz unterschiedlich. Nur eins haben sie gemeinsam: Jeder wäre lieber woanders.
Es ist 22 Uhr. Zwei Mitarbeiter und eine Handvoll Gäste stellen die Stühle von den Tischen. Rucksäcke, Isomatten und Plastiktüten wandern in die Ecken des Cafés. Rot-weiß karierte Tischdecken aus Plastik, ein schmuckloser Tresen mit Wasserspender, Tee und Keksen, der Boden ist aus Beton gegossen. Während ein Mitarbeiter Musik anmacht und den Tresen vorbereitet, ist die erste Runde Kekse schon weg.
An einem der Tische sitzt Malte, ein gepflegt aussehender, kräftiger Typ mit tätowiertem Arm. Er verbringt schon zum siebten Mal hier die Nacht.
"Die Leute sind wirklich superherzlich und warm", sagt er. "Wir haben was zu Essen gekriegt und wurden supernett behandelt. Meine Frau hat ein Trauma, was vor knapp zwei Jahren rausgebrochen ist. Von einen Tag auf den anderen. Also, ich wusste davon auch nichts, und wir sind schon über zehn Jahre zusammen. Und der Arzt hat mir erklärt, wenn man richtig sesshaft wird und sagt: 'Hier gehöre ich hin', dann lässt die Seele es zu, dass man … ja. Ich war Führungskraft, hatte einen coolen Job. Meine Frau war bei der Deutschen Bahn vorher angestellt. Drei Kinder, drei Söhne. Ja, und unser Leben hat sich komplett geändert. Wir haben wirklich eine Lektion in Demut erhalten."

Armutsrisiko gestiegen

Malte und seine Frau sind mit ihrem Schicksal kein Einzelfall. In letzten 20 Jahren ist das Armutsrisiko in Deutschland von elf auf siebzehn Prozent gestiegen. Die sich zuspitzende Lage auf dem Wohnungsmarkt führt dazu, dass Menschen in psychischen oder emotionalen Krisen schneller als zuvor auf der Straße landen. In dieser Situation hat die BVG entschieden, die sogenannten Kältebahnhöfe nicht mehr zu öffnen. Thorsten Buhl, Sozialarbeiter mit Sitz im Bezirksparlament und in dieser Nacht zwischen Tresen und Küche des Nachtcafés unterwegs, findet diese Entscheidung richtig gut.
Zwei Menschen schlafen halb im Sitzen, halb auf dem Tisch liegend.
Aufwärmen, stärken, schlafen: Das Übernachtcafé in Berlin-Kreuzberg bietet Menschen in Not ein wenig Ruhe.© Deutschlandradio/Jannis Keil
"Letztes Jahr war der Aufschrei riesig: 'Ja, es werden keine Kältebahnhöfe mehr geöffnet' und sonstiges. Aber wie gesagt: Wir haben die Erfahrung von den Kältebahnhöfen: Die größten Streitigkeiten waren nicht unter den obdachlosen Menschen, sondern wirklich Passanten, die entlang gelaufen sind, die die schlafenden obdachlosen Menschen getreten, bespuckt, bepinkelt, beschimpft haben. Deswegen ist es ganz gut, dass wir hier dieses Nachtcafé haben. Das ist ein kleines Refugium sozusagen, ein Schutzraum für die Menschen."

Schlafen im Sitzen

Es ist Tarantino-Night im Übernacht-Café. 2 Uhr morgens, ein Beamer wirft Samuel L. Jackson und De Niro an die Wand. Schießereien und Flüche. Viele hier unten schlafen im Sitzen, mit dem Kopf auf dem Tisch. Die Gesichter sehen müde aus und tragen tiefen Falten. Die Schlafplätze im ersten Stock sind schon lange weg.
An einem der Tische sitzt Bernhard und schreibt in einem kleinen Buch. Lange schwarze Haare, Vollbart, dunkler Mantel und intensiver Blick. Er ist das erste Mal hier – und zwar nur, weil jemand sein Zelt zerstört hat.
"Ich hätt’ auch den kompletten Winter draußen verbracht, wenn sie mir das nicht aufgeschnitten hätten", sagt Bernhard. "Von vorne bis hinten aufgeschlitzt. Solange man nicht komplett allein ist und zu zweit ist: Ich find's super. Wohnung wäre natürlich noch besser, aber … finde ich noch die beste Lösung. Bevor ich dann wieder die Vorgabe habe, ab 21 Uhr in einem Obdachlosenheim zu sein, was mal überhaupt noch nicht meine Zeit ist."

Wertschätzung für die kleinen Dinge

Inzwischen ist es fünf Uhr, die Gäste an den Tischen und in den Schlafräumen werden langsam geweckt. Es gibt frisch aufgebackene Brötchen mit Marmelade oder Käse, dazu heißen Kaffee und Tee. Der Tag beginnt, und die Gäste der Nacht werden zu rastlosen Zeitungsverkäufern, Bettlern, ein paar Kumpels auf einer Bank im U-Bahnhof. Oder sie werden zu Gesichtern in der Schlange eines Amts, so wie Malte und seine Frau: "Wir wollen ja wieder eine eigene Wohnung jetzt. Diese Wärme, Ruhe … Das vermisse ich unheimlich. Diese kleinen Dinge, die werde ich ganz anders schätzen, wenn es so kommt, auf jeden Fall."
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