Eine neue evangelische Sexualethik

Von Michael Hollenbach |
Vor 41 Jahren veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland eine Denkschrift zu Fragen der Sexualethik. Mittlerweile hat sich bei der Sexualmoral viel verändert. Grund genug für die Kirche eine Ad-hoc-Kommission zu berufen, um einen evangelischen Beitrag zu sexualethischen Fragen zu erarbeiten.
"Ich glaube, es gibt die gute Entwicklung, dass die repressive Sexualmoral, die in Deutschland bis in die 70er-Jahre geherrscht hat, entschwunden ist."

Michael Haspel ist Direktor der Evangelischen Akademie Thüringen und Professor für systematische Theologie in Jena.

"Gleichzeitig beobachte ich eine große Orientierungslosigkeit und die Tendenz in verschiedenen Bereichen, Sexualität zu kommerzialisieren, Menschen zu Objekten zu machen, sei es in der Werbung, sei es in der Pornographie, aber auch dort, wo Sexualität unverantwortlich gelebt wird.

Dafür Bewusstsein zu schaffen und Verantwortlichkeitskriterien anzubieten, dass man auch dort, wo man frei ist von engen repressiven Normen, Verantwortung hat und verantwortlich Beziehung gestaltet, das wäre Aufgabe einer evangelischen Sexualethik, und ich glaube, die Orientierung ist notwendig."

In ihrer letzten Denkschrift zur Sexualethik von 1971 hatte sich die EKD noch sehr stark auf die Ehe konzentriert – auch als den zentralen Ort für gelebte Sexualität. Doch wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass bei den unter 45-Jährigen nur noch die Hälfte der sexuellen Aktivitäten in der Ehe stattfindet. Zugleich erfolgen 95 Prozent der Geschlechtsverkehre in festen Beziehungen. Für den 48-jährigen Michael Haspel ist es an der Zeit, sich von Fokussierung auf die Ehe zu verabschieben.

"Die Veränderungen der Lebensphasen, - es gibt voreheliche, vorfamiliale, es gibt viel längere nachfamiliale Lebensphasen, wo Sexualität eingebunden ist in Beziehungen, die nicht Ehe sind und für diese Lebenssituationen, in den Sexualität vielfältig gelebt wird, in der Homosexualität eine vielfach gleichberechtigte Lebensform geworden ist, da hinein Kriterien zu finden, die verantwortlich gelebte Situationen ermöglichen, Menschen helfen, sich zu orientieren, ohne in die völlige Beliebigkeit zu gehen einerseits, andererseits aber auch sich zu verabschieden von festen, rigiden Normen und der Reduktion auf eine einzige Lebensform, die für alle Lebensphasen und alle Menschen angemessen sei."

Doch die Ehe ist für viele Protestanten nach wie vor das A und O der zwischenmenschlichen Beziehung. Vor allem konservative Theologen wie Frank Ahlgrimm sehen sich dabei in Übereinstimmung mit der Bibel:

"Ich denke, biblisch begründet ist die Ehe immer noch die Lebensform, die Gott für Mann und Frau vorgesehen hat, und insofern würde ich die als evangelischer Pfarrer auch immer hervorheben. Das ist die von Gott vorgesehene Lebensform für uns Menschen, und deshalb sollten wir auch daran festhalten."

Auch wenn die Scheidungsraten weiter steigen. Allein 2011 wurden in Deutschland 188.000 Ehen geschieden. Auch wenn zum Beispiel im Osten Deutschlands nur noch in jeder zweiten Familie die Eltern verheiratet sind.

"Jesus bestätigt das noch mal im Matthäus-Evangelium, dass er sagt: Gott hat am Anfang Mann und Frau füreinander geschaffen, und sie sollen ein Leib sein, und was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Damit lässt sich schon begründen, dass die Ehe die Lebensform ist, die Gott vorgesehen hat."

Nicht nur, wenn es um den Stellenwert der Ehe geht; auch gerade beim Thema Homosexualität berufen sich konservative Christen auf entsprechende Bibelstellen, um die Position zu untermauern. Dem hält Michael Haspel entgegen:

"Da steht eine andere Frage im Hintergrund, wie wir im modernen Protestantismus mit dem Zeugnis der Heiligen Schrift umgehen: ob wir es als Buch des Heils lesen oder als Gesetzessammlung."

Außerdem - so die Bochumer Theologieprofessorin Isolde Karle - sei die Ablehnung der Homosexualität durch Christen nicht biblisch-exegetisch zu rechtfertigen:

"Bei der Homosexualität sind doch große Ängste da. Da ist eine wirkliche Homophobie auch zu beobachten. Das sind sicher biblische Traditionen, auf die man sich beruft. Exegetisch wissen wir: die Bibel kannte so einen Begriff wie Homosexualität noch gar nicht, und dass das nicht das eigentliche Problem war, sondern eher Pädophilie oder Knabenschänder hieß das dann."

Bei den Kirchen konstatiert Isolde Karle einer Art Überhöhung der Ehe. Martin Luther beispielsweise hätte viel distanzierter - und auch realistischer - über die Grenzen der Ehe gesprochen:
"Das ist im Protestantismus im 19. Jahrhundert verloren gegangen. Gegenwärtig wird die Ehe auch deshalb so stark betont, weil man Angst hat vor Konkurrenz, und die Konkurrenz liegt einmal in der homosexuellen Lebenspartnerschaft, aber auch in der nicht-ehelichen Lebenspartnerschaft."

Denn immer mehr Menschen verzichten auf eine Trauung und leben ohne Trauschein und kirchlichen Segen zusammen. Isolde Karle wünscht sich eine neue evangelische Sexualethik, die sich nicht auf die Form, auf das Institut der Ehe, konzentriert, sondern mehr auf die Inhalte, auf die Kriterien des Zusammenlebens:

"Und da so etwas wie Gleichheit, Konsens, aber auch Verlässlichkeit, Vertrauen, Dauerhaftigkeit, Partnerschaftlichkeit, das müssten so Kriterien sein, wo man sagt: das sind Leitbildkriterien, und nicht so sehr die Frage, wie das nun rechtlich geregelt ist."

Für den konservativen Pfarrer Frank Ahlgrimm ist nach wie vor die Ehe der biblisch vorgesehene Ort für Sexualität – auch wenn er einräumt, dass Sex auch dann gelebt werden darf, wenn es mal nicht um die Familienplanung geht. Und Sex vor der Ehe? Da ist er doch liberaler als neue religiöse Gruppierungen wie "Wahre Liebe wartet", die ganz offensiv die sexuelle Enthaltsamkeit vor der Ehe propagiert:

"Das ist eine ganz schwierige Frage. Und ich gebe zu, dass ich da keine hundertprozentige Meinung dazu habe."

Für Isolde Karle ist dagegen klar, dass Sexualität vor der Ehe sehr wichtig sein kann:

"Es ist einfach ein Teil von jugendlicher Entwicklung, von Persönlichkeitsentwicklung, die eigene Sexualität zu erkunden und Erfahrungen zu machen, und da muss die erste Erfahrung nicht zwangsläufig auf eine Ehe hinauslaufen. Das wäre für viele Ehen fatal."

Obwohl die protestantischen Positionen zur Homosexualität in den vergangenen zwei Jahrzehnten liberaler geworden sind, scheiden sich evangelische Geister oft an der Frage, ob die Pfarrerinnen und Pfarrer homosexuelle Partnerschaften segnen sollen. Frank Ahlgrimm:

"Es ist keine Ehe, insofern ist es für mich auch schwierig zu sagen: wir machen trauähnliche Handlungen für homosexuelle Paare. Da ist bei mir die Grenze erreicht, wo ich sage: das möchte ich nicht tun. Das ist nach biblischem Bild schwer vereinbar."

Das habe für ihn nichts mit einer Diskriminierung zu tun, sagt der Gemeindepfarrer der braunschweigischen Landeskirche. Er segne den einzelnen Homosexuellen, aber nicht Paare. Und auch die Frage, ob ein homosexuelles Pastorenpaar ins Pfarrhaus einziehen darf, verneint Ahlgrimm:

"Weil ich schon das Gefühl habe, dass damit auch das Eheverständnis sehr stark aufgeweicht wird. Und selbst wenn ich das gar nicht verurteilen will, denke ich, es gibt falsche Signale."

Die Bochum Theologieprofessorin Isolde Karle tritt dagegen offensiv für die kirchliche Trauung homosexueller Paare ein:

"Um damit nicht zuletzt auch die Partnerschaften von homosexuellen zu stützen und zu fördern, und zugleich denke ich, dass das Ehemodell, bis dass der Tod euch scheidet, dadurch auch unterstützt wird. Ich denke, die Kirche würde sich einen großen Gefallen tun, wenn sie in diese Richtung geht."

Eine neue evangelische Sexualmoral sollte - so der Thüringer Michael Haspel - vom Würdebegriff ausgehen. Die Würde des anderen zu wahren sollte zu den Prioritäten einer Sexualethik zählen:

"Damit würde ein pornographischer, kommerzieller Umgang mit Sexualität ausgeschlossen, aber auch bestimmte Formen von Beziehungen, die auf Abhängigkeit beruhen oder sie erzeugen, die Notlagen ausnutzen, in denen Gewalt vorkommen, würden sich ausschließen."

In den Sexualwissenschaften ist oft die Rede vom "Verschwinden der Sexualmoral". Auch Michael Haspel und Isolde Karle sprechen lieber von einer Moral des Konsenses. Die Partnerinnen und Partner handeln intern aus, was sie wie an Sexualpraktiken wollen. Als Kriterien für eine neue evangelische Sexualethik nennen Haspel und Karle:

"Konsens, Freiheit und Gleichheit könnte man als Grundlage einer neuen Sexualmoral beschreiben."

"Es gibt Essentials wie Gewaltfreiheit, Gleichheit, Selbstbestimmung, Freiwilligkeit und natürlich positiv gesprochen: Liebe, Zuneigung in der sexuellen Beziehung, die offen ist für Verantwortungsübernahme und Dauerhaftigkeit."