Eine neue Moralordnung als Vision
Seit 1995 ist er Präsident der Universität in Jerusalem: Sari Nusseibeh, ein Querdenker im palästinensischen Lager. Der Philosoph, ehemaliger Repräsentant der PLO, zeigte sich in seiner Autobiografie als Liberaler. Sein neues Buch möchte er als "Gedankenexperiment" verstanden wissen.
Nusseibeh will die "Endlosschleife" des Austauschs ewig gleicher Argumente beider Konfliktparteien zerreißen und zu einer tragfähigen Alternative anregen - denn die bisherigen Konzepte erklärt er allesamt für gescheitert. Der Teilungsbeschluss der UNO, die Verträge von Oslo, die Einrichtung einer palästinensischen Autonomiebehörde, die Intifada, ziviler oder militärischer Widerstand der Palästinenser gegen die Besatzungsmacht - nichts davon habe die Situation in der Region verbessert.
Nusseibehs überraschende Forderung: Israel möge die besetzten Gebiete offiziell annektieren und den Palästinensern volle Bürgerrechte ohne Wahlrecht zugestehen. "Damit wäre der Staat jüdisch, das Land hingegen wirklich binational". Den Vorteil für beide Seiten sieht er darin, dass Israel keine Angst vor der "Verwässerung" der jüdischen Charakters des Staates oder äußerer Bedrohung seiner Existenz haben bräuchte, die Palästinenser in ihrem Heimatland jedoch als freie Bürger unter sozial ausgewogenen Verhältnissen leben könnten. Die Juden sollten das Land regieren, "während die Araber zumindest das Leben dort genießen könnten". Zynisch ist das nicht gemeint, doch eine Provokation für beide Seiten.
Die Einstaatenlösung an sich ist nicht neu. Bereits in den 1920er-Jahren trat die jüdische Organisation Brit Schalom für einen binationalen Staat in Palästina ein. Und auch zwanzig Jahre später noch sprachen sich jüdische Intellektuelle wie Martin Buber oder Judah Magnes aus praktischen und moralischen Gründen für eine Art jüdisch-arabischen Föderalismus aus.
Nusseibeh kommt also auf ein altes Konzept zurück. Interessant aber ist seine Begründung, die realpolitische, nüchterne Betrachtungsweise des Status quo: Fünfhunderttausend israelische Siedler, verteilt in den von Israel besetzten Palästinensergebieten - für Nusseibeh macht dieses Faktum die jahrelang beschworene Zweistaatenlösung unmöglich. Israel kann, selbst wenn es wollte, die Siedler nicht mehr "evakuieren". Sie in den Siedlungen zu belassen, diese Israel zuzuschlagen und im Gegenzug dafür palästinensische Ortschaften innerhalb Israels an einen zukünftigen Palästinenserstaat abzutreten, ist in seinen Augen ebenfalls nicht machbar: Nusseibeh führt den demoskopisch belegbaren Widerwillen der palästinensischen Israelis an, sich "austauschen" zu lassen. Ohnehin sei ein geografisch zerstückelter Palästinenserstaat nicht lebensfähig.
Auf gut zweihundert Seiten fordert Nusseibeh den Leser wiederholt auf, seiner Argumentation ohne Rekurs auf das Arsenal der Ideologien zu folgen. Sein Plädoyer für eine israelisch-palästinensische Zivilgesellschaft ist das eines Philosophen. Er argumentiert mit Gandhi und initiiert eine Wertediskussion. Nicht Staat und Religion sollen fortan das Agieren der Akteure vorgeben, sondern der "menschliche Imperativ" - für Nusseibeh die "viel solidere Grundlage für eine moralische Ordnung". Das Individuum als Ausgangspunkt, Respekt vor dem menschlichen Leben und seine Bewahrung, die Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit, fordert er als Maximen zukünftigen Handelns für beide Konfliktparteien. Eine neue Moralordnung ist seine Vision.
Der Glaube daran, der Wille, sie umzusetzen, die Stärkung des Individuums ohne Ansehen von Geschlecht, Religion oder Ethnie - das sind Nusseibehs Prämissen für eine Entwicklung im israelisch-palästinensischen Verhältnis. Sein Buch ist vor allem für sein eigenes Volk - nicht dessen sogenannte Interessenvertreter - geschrieben. Es soll Mut machen, den freien Geist des "arabischen Frühlings" auch durch Gaza und Ramallah, Bethlehem und Ost-Jerusalem wehen zu lassen. Man sollte es selbstverständlich auch als Gesprächsangebot an die Israelis lesen. Es ist anregend und weitet den Blick.
Doch bei aller Originalität, Ausgewogenheit und Kohärenz in der Gedankenführung ist dieser große Entwurf auch ein Dokument der Resignation. "Seid realistisch - fordert das Unmögliche" - diese anarchistische Parole könnte Nusseibehs Plädoyer als Untertitel tragen.
Besprochen von Carsten Hueck
Sari Nusseibeh: Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost
Aus dem Englischen von Katharina Förs und Gabriele Cockel
Kunstmann Verlag, München 2012
206 Seiten, 17,95 Euro
Nusseibehs überraschende Forderung: Israel möge die besetzten Gebiete offiziell annektieren und den Palästinensern volle Bürgerrechte ohne Wahlrecht zugestehen. "Damit wäre der Staat jüdisch, das Land hingegen wirklich binational". Den Vorteil für beide Seiten sieht er darin, dass Israel keine Angst vor der "Verwässerung" der jüdischen Charakters des Staates oder äußerer Bedrohung seiner Existenz haben bräuchte, die Palästinenser in ihrem Heimatland jedoch als freie Bürger unter sozial ausgewogenen Verhältnissen leben könnten. Die Juden sollten das Land regieren, "während die Araber zumindest das Leben dort genießen könnten". Zynisch ist das nicht gemeint, doch eine Provokation für beide Seiten.
Die Einstaatenlösung an sich ist nicht neu. Bereits in den 1920er-Jahren trat die jüdische Organisation Brit Schalom für einen binationalen Staat in Palästina ein. Und auch zwanzig Jahre später noch sprachen sich jüdische Intellektuelle wie Martin Buber oder Judah Magnes aus praktischen und moralischen Gründen für eine Art jüdisch-arabischen Föderalismus aus.
Nusseibeh kommt also auf ein altes Konzept zurück. Interessant aber ist seine Begründung, die realpolitische, nüchterne Betrachtungsweise des Status quo: Fünfhunderttausend israelische Siedler, verteilt in den von Israel besetzten Palästinensergebieten - für Nusseibeh macht dieses Faktum die jahrelang beschworene Zweistaatenlösung unmöglich. Israel kann, selbst wenn es wollte, die Siedler nicht mehr "evakuieren". Sie in den Siedlungen zu belassen, diese Israel zuzuschlagen und im Gegenzug dafür palästinensische Ortschaften innerhalb Israels an einen zukünftigen Palästinenserstaat abzutreten, ist in seinen Augen ebenfalls nicht machbar: Nusseibeh führt den demoskopisch belegbaren Widerwillen der palästinensischen Israelis an, sich "austauschen" zu lassen. Ohnehin sei ein geografisch zerstückelter Palästinenserstaat nicht lebensfähig.
Auf gut zweihundert Seiten fordert Nusseibeh den Leser wiederholt auf, seiner Argumentation ohne Rekurs auf das Arsenal der Ideologien zu folgen. Sein Plädoyer für eine israelisch-palästinensische Zivilgesellschaft ist das eines Philosophen. Er argumentiert mit Gandhi und initiiert eine Wertediskussion. Nicht Staat und Religion sollen fortan das Agieren der Akteure vorgeben, sondern der "menschliche Imperativ" - für Nusseibeh die "viel solidere Grundlage für eine moralische Ordnung". Das Individuum als Ausgangspunkt, Respekt vor dem menschlichen Leben und seine Bewahrung, die Gewährleistung von Freiheit und Gleichheit, fordert er als Maximen zukünftigen Handelns für beide Konfliktparteien. Eine neue Moralordnung ist seine Vision.
Der Glaube daran, der Wille, sie umzusetzen, die Stärkung des Individuums ohne Ansehen von Geschlecht, Religion oder Ethnie - das sind Nusseibehs Prämissen für eine Entwicklung im israelisch-palästinensischen Verhältnis. Sein Buch ist vor allem für sein eigenes Volk - nicht dessen sogenannte Interessenvertreter - geschrieben. Es soll Mut machen, den freien Geist des "arabischen Frühlings" auch durch Gaza und Ramallah, Bethlehem und Ost-Jerusalem wehen zu lassen. Man sollte es selbstverständlich auch als Gesprächsangebot an die Israelis lesen. Es ist anregend und weitet den Blick.
Doch bei aller Originalität, Ausgewogenheit und Kohärenz in der Gedankenführung ist dieser große Entwurf auch ein Dokument der Resignation. "Seid realistisch - fordert das Unmögliche" - diese anarchistische Parole könnte Nusseibehs Plädoyer als Untertitel tragen.
Besprochen von Carsten Hueck
Sari Nusseibeh: Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost
Aus dem Englischen von Katharina Förs und Gabriele Cockel
Kunstmann Verlag, München 2012
206 Seiten, 17,95 Euro