Eine rätselhafte Hinterlassenschaft

Ein völlig Unbekannter, so scheint es, vererbt dem Protagonisten in Joel Haahtelas Roman "Der Schmetterlingssammler" sein Haus, Grundstück und Geld. Irgendwann entdeckt der Erbe, dass sich seine Lebenswege mit denen des Verstorbenen doch einen Schmetterlingsflügelschlag lang kreuzten.
Mit einer Erbschaft werden nicht nur materiell wertvolle Güter hinterlassen, sondern auch merkwürdige Gegenstände, zu denen der Erbe oft nur mühsam Zugang findet. Denn mit dem Tod ist ein Reservoir an emotionalen und symbolischen Erinnerungen verbunden, das nicht einfach übertragbar ist.

Der finnische Autor Joel Haahtela (Jahrgang 1972) erzählt in seinem Roman "Der Schmetterlingssammler" von einer mehr als sonderbaren Hinterlassenschaft. Durch eine Rechtsanwaltskanzlei in Helsinki wird dem Protagonisten mitgeteilt, dass er das Erbe eines gewissen Henri Ruzicka antreten soll. Laut testamentarischer Verfügung werden ihm ein Haus, ein Grundstück und eine Geldsumme überschrieben.

Er zögert zwar nicht, der Aufforderung Folge zu leisten, ist aber sicher, diesem Mann niemals begegnet zu sein. Als er das Haus betritt, entdeckt er eine beeindruckende Bibliothek mit deutschen, englischen, französischen und spanischen Werken, die alle von Schmetterlingen handeln. Bald entdeckt er auch eine stattliche Schmetterlingssammlung, die fachmännisch konserviert und sorgsam beschriftet ist.

Auf dem Tisch liegt ein aufgeschlagenes Buch, dessen Ränder mit Kommentaren von einer inzwischen stark verblichenen Handschrift versehen sind. Es handelt sich um "The Malay Archipelago" des Evolutionstheoretikers Alfred Russel Wallace. Wallace legte 1858 zeitgleich mit Charles Darwin seine Theorie der Evolution durch natürliche Selektion dar. Doch Wallace argumentierte bald gegen den Begriff der Selektion und plädierte für "survival fort he fittest", um das Überleben des am besten an seine Umwelt Angepassten auszudrücken.

Haahtelas Protagonist ist von der Hinterlassenschaft nicht nur fasziniert, er will auch wissen, warum gerade er der Erbe ist. Bald wird klar, dass sich ihre Lebenswege einst einen Schmetterlingsflügelschlag lang berührten. Bei einem Badeurlaub auf Kreta wurde er von Henri Ruzicka gerettet, während seine Mutter in den Fluten unterging. Aber auch Henri Ruzicka hatte als Kind von einem Moment zum anderen seine Mutter verloren. Geblieben war ihm die Erinnerung, dass kurz vor ihrem Verschwinden ein wunderschöner weißer Schmetterling auf ihrem Arm saß, der fortan als ein "Bild vom Glück" erschien.

Die Duplizität des Mutterverlustes ist das Ereignis, das beide Biografien verbindet und traumatisch überschattet. So wird mit dem materiellen Erbe auch ein emotionaler Reichtum weitergegeben. Denn ein Mensch "verschwindet nicht, seine Spuren sind ewig", auch wenn sie nur in den fragilen Flügeln eines Schmetterlings aufgefangen sind.

Um hinter das Geheimnis der Erbschaft zu kommen, spannt Joel Haahtela seine Meridiane von Helsinki über Pirna, zum Gardasee und schließlich nach Kreta. Doch nicht nur geografisch wird damit ein breites Netz entfaltet, auch eine Vielzahl biografischer Stränge wird über mehrere Jahrzehnte miteinander verknüpft. Erinnerungen überlagern sich und signalisieren, dass Verlust und Tod, aber auch Liebe und Vertrauen jede menschliche Existenz begleiten.

Rezensiert Carola Wiemers

Joel Haahtela: Der Schmetterlingssammler
Aus dem Finnischen von Sandra Doyen
Roman, Piper Nordiska 2008
171 Seiten, 16 Euro