Eine Reise durch Zeiten und Welten
Inselvorstellungen und damit verknüpfte exotische und erotische Assoziationen spielen in der Literaturgeschichte eine außerordentliche Rolle. Der Autor Volkmar Billig erklärt in seinem Buch "Inseln", woher des Menschen Faszination für die isolierten Landmassen rührt.
Inseln, also die kleinen und großen von Wasser umgebenen Landmassen, die heute nicht nur zur Sommerzeit von Millionen Touristen aufgesucht werden, haben schon immer die Menschheit fasziniert und die Fantasie entzündet.
Auf einer Inseln glaubt sich der gestresste Bürger vor den tagtäglichen Zumutungen geschützt, kann er sich ausleben - selbst verwirklichen, fühlt er sich von den gesellschaftlichen Zwängen wie Steuererklärungen, Computerviren, Devisenkursen erlöst, wenn er im Liegestuhl döst und (so Tucholsky) die Seele baumeln lässt.
Das war nicht immer so, erinnert uns der Kulturwissenschaftler Volkmar Billig. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den neuen Beschleunigungsmitteln, dank Schienenverkehr, Dampfturbine und Flugverkehr später, wurden aus weit entfernten Inselwelten leicht begehbare Aufenthaltsorte.
Anno 1800 - also im ausgehenden Kutschenzeitalter - schwärmte der gelehrte Dichter Jean Paul euphorisch von der Isola Bella im Lago Maggiore, ohne sie selbst jemals gesehen zu haben. 70 Jahre später reist Friedrich Nietzsche Zarathustra trunken mit der Eisenbahn an den Golf von Neapel, doch bis zu seiner "glückseligen Insel", gemeint ist das nur eine paar Kilometer entfernt gelegene Ischia, kommt er nicht. Der vier Jahre jüngere zivilisationsmüde Ex-Börsenspekulant, der Maler Paul Gauguin, wiederum wandert nach Tahiti aus, wo er einen "Vorgeschmack des Nirwana" zu finden hofft. Bei beiden dominiere, so Billig,
"das Bekenntnis zu Leben, Sinnlichkeit, Ausschweifung, Heiterkeit, Naivität und einem von Sehnsucht verklärten Süden."
Das sind relativ moderne Inselvorstellungen, die die Tourismusbranche mit allen erdenklichen Mitteln ausschöpft und – profitierend - in Kapital umwandelt.
Doch geht es in Billigs Buch nicht um das längst standardisierte Reiseerlebnis. Es zielt vielmehr darauf, nach den "zu bestimmten Zeiten und im Rahmen bestimmter Diskurse auf Inseln gerichtete Projektionen und deren Wandlungen" zu fragen.
Gemeint ist das Spektrum von Insel-Überlieferungen und Erzählstrategien, von Denkfiguren, Bildern und Szenarien, das letztlich unüberschaubar ist, und vielleicht gerade deshalb so verlockend. Es pendelt zwischen Etymologie und Cyber-Space - zwischen Odysseus, Robinson Crusoe und Leonardo DiCaprio. Die Gewährsleute, die Billig heranzieht, reichen von Homer bis Wells, von Plato bis Foucault. Von der Antike bis heute.
Das älteste Zeugnis einer literarischen Inselfantasie ist ein ägyptischer Papyrus aus dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend.
"In der darauf verzeichneten, mehrfach verschachtelten Erzählung ist von einem Seefahrer die Rede, der sich als einziger einer schiffbrüchigen Mannschaft von 120 Leuten auf eine Insel retten konnte. Das Überleben des Mannes ist dank der paradiesischen Zustände der Insel gesichert."
Ein anderer Basistext ist die Odyssee. Auf seiner 20-jährigen Irrfahrt macht der Mann aus Ithaka auf ein Dutzend Inseln Station. Er gerät auf die Zyklopen-Insel, er strandet vor dem heutigen Korfu und wird dort von den Phäaken aufgenommen. Sieben Jahre hält ihn die Nymphe Kalypso auf der Insel Ogygia fest.
Ein Grundmuster, folgen wir Billigs Darlegung, scheint in allen Erzählungen immer wieder durch: die einer sich dem Alltäglichen und Profanen entziehenden idyllischen Welt.
Schöne Namen hat sich der Weltgeist dafür ausgedacht : Arkadien, Kythera, locus amoenus, Insel der Seligen, Isle d'Amour, Isola Bella, Cythère, Golden Island.
Fast jede Epoche bildet thematisch andere Schwerpunkte, entdeckt noch neue Fantasieräume und Perspektiven. Da gibt es wundersame Kopfgeburten wie etwa Lukians Insel der Seligen aus der Spätantike, oder Campanellas barocker Sonnenstaat oder das irgendwo im Ozean liegende Gemeinwesen Utopia von Thomas Morus. Ein großer Insel-Exeget und Besucher des 20. Jahrhunderts ist Ernst Jünger gewesen, den Billig in seiner Einleitung als Devise zitiert:
"Über Inseln läßt sich viel erzählen, und man findet leichter den Anfang als das Ende dabei."
Man hätte sich in diesem so erhellenden und gescheit geschriebenen Buch allerdings etwas ausführlicher die dunklen Seiten der Inselwelten behandelt gewünscht. Berühmte Albtraum-Inseln wie Melvilles Encantadas, Cechovs Gefangenen-Insel Sachalin, Kafkas Strafkolonie sind in dieser Geistesgeografie insularer Fantasien und Orte nicht vorhanden. Schade. Doch trotz solcher schwarzen Löcher eine äußerst lohnende Lektüre.
Besprochen von Richard Schrötter
Volkmar Billig: "Inseln - Geschichte einer Faszination", Matthes & Seitz, Berlin 2010, 304 Seiten, 29,90 Euro
Auf einer Inseln glaubt sich der gestresste Bürger vor den tagtäglichen Zumutungen geschützt, kann er sich ausleben - selbst verwirklichen, fühlt er sich von den gesellschaftlichen Zwängen wie Steuererklärungen, Computerviren, Devisenkursen erlöst, wenn er im Liegestuhl döst und (so Tucholsky) die Seele baumeln lässt.
Das war nicht immer so, erinnert uns der Kulturwissenschaftler Volkmar Billig. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit den neuen Beschleunigungsmitteln, dank Schienenverkehr, Dampfturbine und Flugverkehr später, wurden aus weit entfernten Inselwelten leicht begehbare Aufenthaltsorte.
Anno 1800 - also im ausgehenden Kutschenzeitalter - schwärmte der gelehrte Dichter Jean Paul euphorisch von der Isola Bella im Lago Maggiore, ohne sie selbst jemals gesehen zu haben. 70 Jahre später reist Friedrich Nietzsche Zarathustra trunken mit der Eisenbahn an den Golf von Neapel, doch bis zu seiner "glückseligen Insel", gemeint ist das nur eine paar Kilometer entfernt gelegene Ischia, kommt er nicht. Der vier Jahre jüngere zivilisationsmüde Ex-Börsenspekulant, der Maler Paul Gauguin, wiederum wandert nach Tahiti aus, wo er einen "Vorgeschmack des Nirwana" zu finden hofft. Bei beiden dominiere, so Billig,
"das Bekenntnis zu Leben, Sinnlichkeit, Ausschweifung, Heiterkeit, Naivität und einem von Sehnsucht verklärten Süden."
Das sind relativ moderne Inselvorstellungen, die die Tourismusbranche mit allen erdenklichen Mitteln ausschöpft und – profitierend - in Kapital umwandelt.
Doch geht es in Billigs Buch nicht um das längst standardisierte Reiseerlebnis. Es zielt vielmehr darauf, nach den "zu bestimmten Zeiten und im Rahmen bestimmter Diskurse auf Inseln gerichtete Projektionen und deren Wandlungen" zu fragen.
Gemeint ist das Spektrum von Insel-Überlieferungen und Erzählstrategien, von Denkfiguren, Bildern und Szenarien, das letztlich unüberschaubar ist, und vielleicht gerade deshalb so verlockend. Es pendelt zwischen Etymologie und Cyber-Space - zwischen Odysseus, Robinson Crusoe und Leonardo DiCaprio. Die Gewährsleute, die Billig heranzieht, reichen von Homer bis Wells, von Plato bis Foucault. Von der Antike bis heute.
Das älteste Zeugnis einer literarischen Inselfantasie ist ein ägyptischer Papyrus aus dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend.
"In der darauf verzeichneten, mehrfach verschachtelten Erzählung ist von einem Seefahrer die Rede, der sich als einziger einer schiffbrüchigen Mannschaft von 120 Leuten auf eine Insel retten konnte. Das Überleben des Mannes ist dank der paradiesischen Zustände der Insel gesichert."
Ein anderer Basistext ist die Odyssee. Auf seiner 20-jährigen Irrfahrt macht der Mann aus Ithaka auf ein Dutzend Inseln Station. Er gerät auf die Zyklopen-Insel, er strandet vor dem heutigen Korfu und wird dort von den Phäaken aufgenommen. Sieben Jahre hält ihn die Nymphe Kalypso auf der Insel Ogygia fest.
Ein Grundmuster, folgen wir Billigs Darlegung, scheint in allen Erzählungen immer wieder durch: die einer sich dem Alltäglichen und Profanen entziehenden idyllischen Welt.
Schöne Namen hat sich der Weltgeist dafür ausgedacht : Arkadien, Kythera, locus amoenus, Insel der Seligen, Isle d'Amour, Isola Bella, Cythère, Golden Island.
Fast jede Epoche bildet thematisch andere Schwerpunkte, entdeckt noch neue Fantasieräume und Perspektiven. Da gibt es wundersame Kopfgeburten wie etwa Lukians Insel der Seligen aus der Spätantike, oder Campanellas barocker Sonnenstaat oder das irgendwo im Ozean liegende Gemeinwesen Utopia von Thomas Morus. Ein großer Insel-Exeget und Besucher des 20. Jahrhunderts ist Ernst Jünger gewesen, den Billig in seiner Einleitung als Devise zitiert:
"Über Inseln läßt sich viel erzählen, und man findet leichter den Anfang als das Ende dabei."
Man hätte sich in diesem so erhellenden und gescheit geschriebenen Buch allerdings etwas ausführlicher die dunklen Seiten der Inselwelten behandelt gewünscht. Berühmte Albtraum-Inseln wie Melvilles Encantadas, Cechovs Gefangenen-Insel Sachalin, Kafkas Strafkolonie sind in dieser Geistesgeografie insularer Fantasien und Orte nicht vorhanden. Schade. Doch trotz solcher schwarzen Löcher eine äußerst lohnende Lektüre.
Besprochen von Richard Schrötter
Volkmar Billig: "Inseln - Geschichte einer Faszination", Matthes & Seitz, Berlin 2010, 304 Seiten, 29,90 Euro