Eine Revolution mit Defiziten

Von Gottfried Stein |
Bolivien gilt noch immer als das Armenhaus Südamerikas. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Und auch die Mittelschicht des Landes steht unter hohem ökonomischen Druck. Seit Monaten bröckelt die Zustimmung für den Indiopräsidenten.
La Paz im April 2011. Boliviens Hauptstadt in Aufruhr. Hundertschaften der Polizisten verbarrikadieren den Präsidentenpalast. Demonstranten blockieren Haupt- und Zufahrtstraßen. Ihre Wut richtet sich gegen den Präsidenten und die hohen Preise. Eine Lehrerin:

"Er sagte, er sei Präsident der Eingeborenen. Daran zweifeln wir nicht, denn er trägt Poncho und Sandalen. Aber er hat die Probleme Hunger und Elend nicht gelöst, unter denen das bolivianische Volk leidet."

Es ist ein ungewöhnliches Bild: Lehrer, Angestellte, Arbeiter demonstrieren gegen den Präsidenten, den sie vor Monaten noch begeistert gefeiert hatten. Aber im Dezember verkündete Evo Morales plötzlich die Erhöhung der Benzinpreise um über 80 Prozent, und die Lebensmittelpreise explodierten. Erschrocken nahm er seine Entscheidung zurück – aber Zucker, Milch, Fleisch, Gemüse blieben teuer, und deshalb wollen die Bolivianer höhere Löhne:

"Wir fordern ein gerechteres Gehalt, das den Grundbedürfnissen der Familien entspricht. Die Preise für manche Produkte sind um mehr als 100 Prozent gestiegen. Und die Regierung will uns nur zehn Prozent zugestehen, das reicht nicht aus, um zu überleben."

Der "Gasolinazo", wie die Bolivianer das Fiasko um höhere Benzinpreise nennen, wird zur Bewährungsprobe für den Präsidenten. Seit 2006 ist Evo Morales Ayma im Amt, der erste Indio überhaupt an der Spitze des Staates. 2009 hatten sie ihn noch triumphal wiedergewählt, aber jetzt seien sie enttäuscht, meint dieser Straßenhändler:

"Es ist nichts besser geworden. Wir hatten große Hoffnungen, dass es sich mit dieser Regierung bessert. Nach 500 Jahren, in denen die Eingeborenen hier keine Macht hatten, hatten wir die Illusion, mit einem Bruder, mit einem Eingeborenen werde sich die Lage verbessern. Aber das ist nicht geschehen."

Bolivien gilt noch immer als das Armenhaus Südamerikas. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Mit den Erträgen aus der Öl- und Gasindustrie finanziert Morales Sozialprogramme für Arme, Frauen und Kinder. Aber vor allem in ländlichen Gebieten fehlen Krankenhäuser, Schulen, Trinkwasser und Strom.

Als Evo Morales 2006 sein Amt antritt, verkündet er das Ende von 500 Jahren Unterdrückung der Indios durch die spanischen Kolonialherren und ihrer Nachfolger. Morales setzt 2009 eine neue Verfassung durch, die vor allem die Indigenen stärkt, gewinnt die nötige Volksabstimmung und schlägt die bürgerliche Opposition. Aber seit Monaten bröckelt die Zustimmung. Jimena Costa Benavides, Politikwissenschaftlerin an der Universität La Paz:

"Zu Beginn der zweiten Amtszeit, nachdem es eine neue Verfassung gab und die Möglichkeit der Wiederwahl, die Opposition praktisch völlig zerschlagen war, erwarten die Leute, tatsächliche Ergebnisse. Sie wollen im Alltag gut leben und es wird deutlich, dass die Regierung - abseits der politischen Propaganda – in der Regierungsarbeit, bei der Regelung der öffentlichen Angelegenheiten, sehr schlechte Arbeit leistet, und die Menschen beginnen, diesen Mangel von Ergebnissen im täglichen Leben zu spüren."

Im Parlament hat Morales mit seiner "Bewegung für den Sozialismus" MAS eine komfortable Mehrheit, mit der er einen "Bolivianischen Sozialismus", eine Revolution von unten predigt. Seine Klientel sind die Campesinos, die verarmte, indigene Landbevölkerung, und daran änderten auch die Proteste der letzten Wochen nichts, sagt der Autor und Politikexperte Hugo Moldiz:

"Die wichtigsten Partner von Präsident Morales, das heißt die Protagonisten dieses Wandlungsprozesses, sind die indigenen Bauern. Wer glaubt, Regierung und Verbündete hätten sich distanziert, verkennt entweder die Realität oder will klar politisch manipulieren. Die Arbeitergewerkschaften waren in Wahrheit nie aktiv an seinem Kampf beteiligt."

Callapa, eine Vorstadt an den Berghängen oberhalb von La Paz. Schaufelbagger und Räumfahrzeuge sind pausenlos im Einsatz und versuchen, die Spuren einer Naturkatastrophe zu beseitigen. Ende Februar haben schwere Regenfälle einen ganzen Abhang mit 4000 Häusern weggeschwemmt und im weiten Umkreis alles zerstört.

Es ist Sonntag, und auf dem intakten Hauptplatz weiter unten im Tal erklärt der Bürgermeister der versammelten Bevölkerung, wie es weitergehen soll. Früher hatten hier nur Indios gewohnt, aber mit den Jahren zogen immer mehr andere Bevölkerungsgruppen in die malerische Hügellandschaft. Ein älterer, gut angezogener Herr macht sich große Sorgen:
"Diese Regierung macht es vielleicht besser als viele andere Regierungen, vor allem für die Arbeiterklasse. Aber wie Sie hier sehen können, wer ruiniert ist, das sind wir, die Mittelklasse, denn zuvor hatten wir eine Regierung für die Reichen. Jetzt haben wir eine für die Armen, aber für uns gibt es keine Regierung. Wir sind die Sandwichklasse."

Knapp 50.000 Euro hatte der Mann zusammen mit seiner Tochter in den Kauf eines Grundstückes und den Bau eines doppelstöckigen Hauses investiert.
Jetzt haben sie alles verloren, sind provisorisch in einem Zeltlager untergebracht. Und nun gebe es ein Problem mit dem indigenen Bevölkerungsteil, meint die Tochter:

"Sie haben nach der Agrarreform von der Regierung Land bekommen, aber sie haben es verkauft. Wir haben es gekauft und die Gebäude errichtet. Das ist der Kampf zwischen den Mitgliedern der Indio-Gemeinschaft und uns, den Eigentümern. Sie werden ihr Land zurückgewinnen, das sie früher besaßen, aber wir werden nichts von den Gebäuden zurückbekommen."

Nach dem Bürgermeister sprechen die Vertreter der Indios, die ihre eigenen Autoritäten wählen. Es ist eine Art Ehrenamt, das jeder aus der Gemeinschaft für ein Jahr bekleidet. Beide Autoritäten haben gleiches Gewicht, so sieht es die neue Verfassung vor. Aber während der gewählte Bürgermeister für alle da ist, beschränken sich die Indiovertreter auf die Belange ihrer Volksgruppe. Trotzdem klappe das Zusammenleben gut, sagt der indigene Vorsteher aus einem der sieben Bezirke Challapas:

"Zu Anfang war es ein olympischer Kampf zwischen Weißen und Eingeborenen. Das war die Situation. Aber das ist jetzt vorbei, denn in der Verfassung des Staates gibt es einen Artikel, wo es heißt, es gibt nur ein Bolivien. Auf Grund dessen haben sich die Leute jetzt beruhigt und die Art und Weise, die Eingeborenen zu behandeln, hat sich auch etwas geändert."

Früher hatten die "Cholos" wie die Indios von den Weißen oft verächtlich genannt wurden, mit Diskriminierungen und offenem Rassismus zu kämpfen. An der Rollenverteilung hat sich wenig verändert: Noch immer besteht das Heer der Haushaltshilfen aus Indiofrauen, haben Kinder der armen Bevölkerung kaum Zugang zu höheren Schulen, machen Angehörige der alten Oligarchie mit ihren Schimpfwörtern ihrer Verachtung Luft. Claudia Benavente, Direktorin der Tageszeitung "La Razon":

"Draußen ist der Indio weiterhin Indio, eine Chola Indio-Frau ist weiterhin eine Chola, ein Diskriminierter wird weiter wegen seiner Hautfarbe diskriminiert oder weil seine Sprache von der Aymarasprache beeinflusst ist. Ich denke, die Gesellschaft hat sich seit 2005 zumindest äußerlich, auf der Straße, nicht geändert."

Ein kleiner Hof in Chimore, einem Dorf in der tropischen Regenwaldregion im bolivianischen Tiefland, etwa 250 Kilometer östlich der Hauptstadt La Paz. Hier lebt Juana Quispe mit ihrem Mann und drei Kindern. Die stämmige, stets in Landestracht und dem typischen Bowlerhut gekleidete Indiofrau ist eine lebende Legende. Als die Regierung in den 90er-Jahren, unterstützt und finanziert von den USA, rigoros Kokafelder abbrannte und Bauern wie die Quispes von ihren Höfen vertrieb, stand sie an vorderster Front des Widerstandes:

"Als wir nicht gehen und Koka nicht ausrotten wollten, haben sie auf uns geschossen. Es gab Tote, Verletzte, Vertriebene. Wir wurden verurteilt, als Terroristen und Kriminelle, wegen bewaffneten Aufstandes. Sie haben uns als Narkoterroristen, Drogenhändler und Drogenbosse bezeichnet."

Juana Quispe ist eine alte Weggefährtin von Evo Morales, der einst als Anführer der Kokabauern gegen die Oligarchie zu Felde zog. Als er Präsident wurde, stoppte er die Vernichtung der Felder, pfiff die Soldaten zurück, und dehnte die legalen Anbauflächen für Kokasträucher aus. Juana Quispe sitzt heute im bolivianischen Parlament als Abgeordnete ihrer Region Chapare – noch immer voller Wut auf die alten Gegner, und voller Lob für Compañero Evo:

"Hier in den Tropen hat sich viel verändert. Die Kokaproduktion geht weiter, aber koordiniert, organisiert durch die Syndikate. Es gibt keine Toten, keine Verletzten, es herrscht Frieden und Ruhe. Mit Evo als Präsidenten gibt es Gerechtigkeit, es gab keinen einzigen Verletzten und Toten."

Die Bauern im Chapare profitieren von der neuen Verfassung, die Morales durchgesetzt hat. Die Landreform garantiert ihnen eigenen Grund. Der Staat kauft ihre Ernten ab, auch wenn viele immer noch mit der Drogenmafia Geschäfte machen. Aber gegen Gesetze zu verstoßen ist nicht mehr so einfach, denn die eigenen Nachbarn üben scharfe Kontrolle aus. Weil in Bolivien, besonders in abgelegenen ländlichen Zonen, Richter und Gerichte fehlen, gilt nicht nur das öffentliche, sondern auch das indigene Recht. Idón Chivi Vargas, Generaldirektor der "Plurinationalen Behörde":

"Wir haben individuelle Geschichten, wir haben spezielle Lebensformen, wir sind 36 Eingeborenen-Nationen in Bolivien. Die Eingeborenenjustiz in Bolivien hilft dem Staat in enormem Maße, die sozialen Konflikte zu bereinigen oder – besser gesagt - zu behandeln, mehr als zu lösen. In jedem Staat, in jeder Gesellschaft gibt es Probleme, und die Gesellschaft findet selbst die Mechanismen zur Lösung dieser Konflikte."

Eine Mine am "Cerro Rico", dem "Reichen Berg" in Potosi, der legendären Silberstadt auf der Hochebene östlich von La Paz. Der "Cerro Rico" ist ein Symbol für Ausbeutung und Unterdrückung der Indios in Bolivien. Die Spanier benutzten die Einwohner wie Sklaven. Heute ist das Silber längst ausgebeutet, aber noch immer suchen Tausende von Bergarbeitern, die Mineros nach Resten, die die Kolonialherren und später die großen Konzerne übrig gelassen haben:

"Nein, hier gibt es nichts anderes, nichts, wir haben keine Industrie, nichts als Minen. Für das Volk in Potosi sind nun mal die Mineros charakteristisch."

Viele der Mineros sind wütend auf Morales: Hatte er doch versprochen, die Rohstoffvorkommen, vor allem Öl und Gas zu nationalisieren, und nicht, wie seine Vorgänger, ausländischen Konzernen zu überlassen. Jaime Solares, Chef der Vereinigung der Minenarbeiter:

"Diese Herren haben das Land verkauft, sie haben unser Gas mit allen Mitteln ausgebeutet. In der Oktober-Agenda steht: Das Gas verlässt unser Land weder über Chile noch Argentinien, das Gas wird industriell verwertet. Und das ist bisher nicht geschehen. Wenn er das gemacht hätte, hätte er heute nicht die Probleme mit den Gehaltserhöhungen."

Entgegen seiner Ankündigung hat Morales die Rohstoffindustrie bis heute nicht verstaatlicht. Allerdings kassiert die Regierung wesentlich höhere Gewinnanteile, statt wie früher ein Viertel, jetzt über zwei Drittel. Aber die Produktion bleibt hinter den Erwartungen zurück, weil wichtige Investitionen in die Förderanlagen fehlen, und weil sich die ausländischen Konzerne verweigern.

Für die Menschen in Potosi hat sich das Leben mit der Regierung Morales wenig verändert. Die Knochenarbeit in den mittelalterlichen Bergstollen fordert ihren Preis, die Lebenserwartung der Mineros liegt bei 35, 40 Jahren. Und doch lassen die meisten in der Region nichts auf den Indiopräsidenten kommen, wie diese Frau:

"Ich denke, dass er es gut macht, landesweit, er macht gute Arbeit, er ist ein guter Präsident für Bolivien. Was andere Präsidenten in einem Jahr machen, das macht er mit der linken Hand. Aber es gibt andere, die ihn nicht mögen, deshalb sagen sie, er macht gar nichts."

Gut zwei Drittel der Bolivianer sind indigener Herkunft, und vermutlich für die Mehrheit von ihnen bleibt Evo Morales der Hoffnungsträger. Der erste Indio an der Spitze des Staates werde sie nicht enttäuschen, verspricht César Navarro Miranda, Vizeminister des Präsidenten:

"Was ein Mensch nie aufgeben darf, ist seine Identität. Und Evo wird nie, nie seine Identität verlieren. Er ist als sozialer, als politischer Führer zusammen mit den Kokabauern im Kampf groß geworden, zusammen mit seinen Kameraden, den Bauern, im Kampf gegen den Kapitalismus, gegen den Imperialismus und im Kampf für einen pluralistischen Staat und für den Sozialismus. Das ist die Identität von unserem Evo, das ist Evo."